Zur Logik und Kritik der identitätspolitischen Konjunktur
Fr. 11. – So. 13. Oktober 2019 im Naturfreundehaus Hannover
Identitätspolitik war zunächst eine Strategie im Kampf um Anerkennung von diskriminierten gesellschaftlichen Gruppen und Lebensweisen und folgte insofern einer emanzipatorischen Motivation. Doch schon seit Jahren haben regressive Kollektividentitäten nationalistischen, völkischen und religionistischen Charakters wieder Konjunktur. Aber auch im linken und linksliberalen Spektrum ist die ursprüngliche „Dekonstruktion“ von Identitäten weitgehend in einen neuen Essentialismus umgekippt, der mit scharfen, zum Teil dogmatischen, Abgrenzungen einhergeht (so etwa in Teilen des Queerfeminismus und des Critical-Whiteness-Diskurses). In diesem Seminar soll der Zusammenhang zwischen „Identität“ und der warengesellschaftlichen Ordnung diskutiert werden. Die identitätspolitische Konjunktur in ihren unterschiedlichen Facetten wird aus verschiedenen Perspektiven analysiert und der Kritik unterzogen.
Freitag 11.10.
16.30 Uhr: Begrüßung und Vorstellung
17.00 – 18.15 Uhr: Die gelebten Realitäten von Frauen und Mädchen.
Eine materialistische Kritik des Patriarchats (Vortrag von Koschka Linkerhand)
18.30 Uhr: Abendessen
19.30 – 21.00 Uhr: Diskussion des Vortrags
Samstag 12.10.
9.15 – 12.30 Uhr (Workshops):
- Die psychische Attraktivität des Nationalen (Dagmar Schediwy)
- Kein Realismus ohne Klassenkampf? Zur linkspopulistischen Kritik
des Gegenwartstheaters (Martin Brandt)
12.30 Mittagessen
15.00 – 18.15 Uhr (Workshops)
- Identität und Interesse. Zur Logik linker Identitätspolitik (Julian Bierwirth)
- Die Rechten und ihre „Alternative Wahrheit“ (Peter Samol)
- Das Drama vom Geld und dem Juden. Geldwirtschaft und Antisemitismus
in Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“ (Hermann Engster)
18.15 Uhr Abendessen
20.00: Öffentliche Mitgliederversammlung des Förderverein Krisis e.V.
Sonntag 13.10.
9.15 – 11.30 Uhr: Bodenlos Identitär. Zum „linken Populismus“ von Chantal Mouffe
und seiner falschen Kritik (Vortrag und Diskussion mit Norbert Trenkle)
11.45 – 12.15 Uhr: Abschlussdiskussion
12.30 Mittagessen und danach Abreise
Organisatorisches
Die Kosten für Unterkunft und Verpflegung betragen 75 € (Dreierzimmer), 90 € (Doppelzimmer) und 110 € (Einzelzimmer). Geringverdienende (Selbsteinstufung) zahlen einen ermäßigten Beitrag von 45 € (bei Bedarf auch geringer). Außerdem freuen wir uns über Spenden zusätzlich zum Tagungsbeitrag zur Finanzierung des Seminars. Bettwäsche und Handtücher können ausgeliehen werden: Bettwäsche 4,50 € pro Set und Handtücher 1,50 € pro Stück. Ansonsten bitte selber mitbringen.
Um schnelle Anmeldung wird gebeten. Einzelzimmer stehen nur begrenzt zur Verfügung und werden nach Eingang der Anmeldungen vergeben. Tagesgäste sind willkommen und können gegen Kostenbeitrag am Essen teilnehmen (pro Essen 6 €). Bitte auch als Tagesgast anmelden. Wer lieber in einem Hotel übernachten möchte, findet ganz in der Nähe zwei günstige Möglichkeiten: Hotel zur Eiche und Hotel Eilenriede. Ihr könnt dann als Tagesgast an den Essen im Seminarhaus teilnehmen.
Das Tagungshaus befindet sich mitten in Hannover, im Stadtpark Eilenriede, nur 6 Stadtbahn-stationen vom Hauptbahnhof entfernt: Naturfreundehaus Hannover, Hermann-Bahlsen-Allee 8, 30655 Hannover, Tel.: 0511 – 69 14 93, www.naturfreundehaus-hannover.de/ .
Infos zur Anfahrt finden sich hier:
www.naturfreundehaus-hannover.de/unser_haus_anreise/stadtplan
Anmeldung zum Krisis-Seminar Das große Identitätärä
Mail: krisisweb@yahoo.de oder
postalisch: Krisis e.V., Postfach 81 02 69, 90247 Nürnberg
Name:
Adresse:
O im Dreibettzimmer (75 €)
O im Doppelzimmer (90 €)
O im Einzelzimmer (110 €)
O zum ermäßigten Beitrag (45 €)
O als Tagesgast am:
O ich esse nur vegetarisch / vegan (bitte unterstreichen)
Die Kosten für Übernachtung und Verpflegung bitte bis zum 5.10.2019 überweisen: Förderverein Krisis IBAN: DE97 7601 0085 0300 1148 59, Postbank Nbg. BIC: PBNKDEFF
Kurzbeschreibung der Workshops und Vorträge
Freitag, 17.00 – 18.15 Uhr/ 19.30 – 21.00 Uhr
Die gelebten Realitäten von Frauen und Mädchen. Eine materialistische Kritik des Patriarchats
Vortrag von Koschka Linkerhand
Mit berechtigtem Schrecken stehen Feministinnen vor dem frauenfeindlichen Rechtsruck, der sich in vielen Ländern und in vielen Teilen der Gesellschaft abzeichnet. Offensichtlich ist es nötiger denn je, globale Perspektiven von Frauenunterdrückung und Frauensolidarität ins Auge zu fassen und das Geschlechterverhältnis in engem Zusammenhang mit den Produktionsverhältnissen zu analysieren. Hier kann auf den materialistischen Feminismus zurückgegriffen werden, den Theoretikerinnen seit Simone de Beauvoir erarbeitet haben. Das Patriarchat als ein Herrschaftsverhältnis zwischen Frauen und Männern dient dabei als zentrale Analysekategorie.
Heute ist klar, dass weitere, vielfältige Unterdrückungskategorien in die feministische Analyse einbezogen werden müssen und dass Identitätspolitik – nicht nur von Frauen – ein notwendiger Teil linker Politik sein muss. Wie kann eine materialistische Patriarchatskritik Ausgangspunkt für eine zeitgemäße feministische Theorie sein, die realpolitisch handlungsfähig macht – gerade vor der utopischen Perspektive, dass Patriarchat und Kapitalismus endlich abgeschafft werden müssen?
Samstag 9.15 – 12.30 Uhr
Die psychische Attraktivität des Nationalen
Workshop mit Dagmar Schediwy
Die Kritik rechter Einstellungen beschränkt sich häufig auf eine Analyse ihrer ideologischen Konstrukte. In diesem Workshop soll jedoch versucht werden, den psychischen Mechanismen, die die Bezugnahme auf die Nation für die Subjekte attraktiv machen, auf die Spur kommen. Dabei werden wir zum einen die einschlägigen Erklärungsmuster für rechtspopulistische/-extreme Haltungen analysieren. An fünf Beispielen werden wir anschließend diskutieren, welche psychische Gratifikation eine nationale Identifikation für die Individuen hat.
Kein Realismus ohne Klassenkampf? Zur linkspopulistischen Kritik des Gegenwartstheaters
Workshop mit Martin Brandt
Die programmatische Debatte um einen „neuen Realismus“ hat mittlerweile auch die Bühnen des Theaters erreicht, wo der Theatermann und #aufstehen-Politiker Bernd Stegemann für die Darstellung der Realität und gegen die gegenwärtige postdramatische Inszenierungspraxis agitiert. Der marxistische Realismus-Begriff, in welchem das Politische und Ästhetische konvergieren, diente in den historischen Debatten stets dazu, eine adäquate Darstellung der jeweiligen Realität zu finden.
Zwar fordert auch die Debatte um einen neuen Realismus im Theater eine mit der Postdramatik einhergehende Identitätsfixierung heraus, indem sie an die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung erinnert. Doch wie soll der Realismus den Kapitalismus und dessen gegenwärtige Krise adäquat begreifen, wenn er letztere lediglich als Fehlhandlungen gieriger Spekulanten interpretiert? Der Workshop will anhand von Bernd Stegemanns Lob des Realismus (2015) sowohl die Bedeutung der regressiven Kritik am Finanzkapital als auch den in dieser Kritik häufig reklamierten Klassenstandpunkt für eine zeitgenössische Ästhetik hinterfragen und eruieren, was ein krisenbewusster Realismus jenseits identitätspolitischer Vereinseitigungen leisten müsste.
Samstag 15.00 – 18.15 Uhr
Identität und Interesse. Zur Logik linker Identitätspolitik
Workshop mit Julian Bierwirth
In den letzten Jahren ist viel über Identitätspolitik gestritten worden. Insbesondere bestimmte Lesarten der Queer Politics und Critical Whiteness standen dabei im Fokus der Auseinandersetzung. Als Reaktion darauf hat sich eine Debatte um eine „Neue Klassenpolitik“ herausgebildet, in der nun wieder handfeste materielle Interessen in den Mittelpunkt der eigenen Praxis gerückt werden sollen. Bei genauerer Betrachtung entpuppt sich jedoch auch diese erneute Hinwendung zu einer imaginierten „Klasse“ als höchst identitär. In diesem Workshop wollen wir diese und andere Aspekte linker Identitätspolitik vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und ökonomischen Transformationen der letzten Jahrzehnte diskutieren und kritisieren.
Die Rechten und ihre „Alternative Wahrheit“
Workshop mit Peter Samol
Wer sich mit den Äußerungen rechter Zeitgenossinnen und Zeitgenossen befasst, bekommt schnell den Eindruck, dass diese in einer ganz anderen Welt zu leben scheinen. Das kommt nicht von ungefähr, denn Rechte haben Schwierigkeiten mit Befunden wissenschaftlicher Erkenntnis und ganz allgemein mit rational begründetem Denken. Stattdessen geben sie einer „gefühlten“, „tieferen“, „eigentlichen“ Wahrheit den Vorzug. Dieser Weltsicht liegt ein Muster zu Grunde, das sich spätestens mit Schopenhauer im abendländischen Denken etabliert hat. Es handelt sich um die dunkle Rückseite der Aufklärung, auf die sich die Rechte bis heute bezieht.
Im Workshop soll den Spuren der „Alternativen Wahrheit“ von Schopenhauer bis heute sowie ihrer Wirkung bei der Neuen Rechten nachgegangen werden.
Das Drama vom Geld und dem Juden. Geldwirtschaft und Antisemitismus in Shakespeares Drama „Der Kaufmann von Venedig“
Workshop mit Hermann Engster
Die Investitionen in kostspielige, aber höchst profitable Handelsfahrten nach Übersee im 16. Jahrhundert erforderten die Entwicklung einer historisch neuartigen Kreditwirtschaft (Marx, Das Kapital, Bd. III). Da Kreditgeschäfte gegen Zins Christen verboten sind, wird das Geldverleihen zumeist von Juden betrieben. Shakespeare sind die ökonomischen Notwendigkeiten nicht bewusst; er behandelt in seinem Drama das Problem als religiösen Konflikt und lädt diesen mit der bösartigen Judenkarikatur des Geldverleihers Shylock antisemitisch auf. Sein Drama ist zwar kein Pogromstück, doch stellt die unbestreitbare anti-jüdische Tendenz jedes Theater im Bewusstsein der Shoah vor unüberwindliche Probleme. – Die religiös-moralisch vordergründige und politisch-ökonomisch untergründige Problematik des Stücks soll anhand von Textpassagen aus dem Shakespeare-Stück, philosophisch-theologischen Manifesten und Marx‘ Analysen herausgearbeitet werden.
Sonntag, 9.15 – 11.30 Uhr
Bodenlos Identitär. Zum „linken Populismus“ von Chantal Mouffe und seiner falschen Kritik
Vortrag von Norbert Trenkle
Die „postmarxistische“ Theoretikerin Chantal Mouffe plädiert für einen „linken Populismus“ als Gegenpol zum rechten Vormarsch. Dahinter steht eine Theorie des Politischen, die sich zwar vordergründig gegen jeden „Essentialismus“ wendet, zugleich aber das Bedürfnis „des Menschen“ nach kollektiven Identitäten ontologisiert und zur Grundlage jeglichen politischen Handelns erklärt. Konnte diese Form der Identitätspolitik in der kurzen Blütezeit des flexibilisierten Kapitalismus noch als progressiv erscheinen, so treten in dessen Krise ihre problematischen Züge deutlich in den Vordergrund. Mit der extremen Rechten teilt sie nicht nur die auf Carl Schmitt zurückgehenden politiktheoretischen Grundannahmen, sondern auch ein regressives Bild des Kapitalismus, das diesen auf die Herrschaft von Eliten und „Plutokraten“ reduziert.
Demgegenüber werden neuerdings wieder die „materiellen Interessen“ als Grundlage für eine emanzipative Politik ins Spiel gebracht (z.B. „Neue Klassenpolitik“). Doch dieser Versuch läuft in Leere. Denn zum einen sind Identität und Interesse nur komplementäre Kategorien innerhalb der kapitalistischen Vergesellschaftungsform; nämlich die beiden Seiten des verdinglichten Handlungsbezugs der abstrakten Individuen aufeinander und auf ihren gesellschaftlichen Zusammenhang. Zum anderen stellt die Konjunktur der Identitätspolitik bereits eine Reaktion auf die objektiv-historische Krise der Interessenspolitik dar, die sich nicht zurückdrehen lässt. Die neuerliche Anrufung „der Klasse“ ist daher genauso bodenlos fiktional wie ein „linker Populismus“. Emanzipatives Handeln muss sich jenseits von Identität und Interesse verorten.