01.07.2019 

Neue Konfliktlinien. Warum der Klassenkampf von gestern ist

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von Norbert Trenkle[1]

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1.

Spätestens seit der großen Finanzkrise von 2008 gilt Karl Marx sehr zu Recht wieder als hochaktuell. Allerdings rücken seine neuen und alten Freunde dabei ausgerechnet jenen Teil seiner Theorie in den Mittelpunkt, der historisch längst überholt ist: die Theorie des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Demgegenüber findet der „andere Marx“, der Kritiker des Kapitalismus als einer Gesellschaft, die auf allgemeiner Warenproduktion, abstrakter Arbeit und der Akkumulation von Wert beruht, kaum ernsthafte Beachtung. Es ist aber genau dieser Teil der Marx‘schen Theorie, der es uns erlaubt, die aktuelle Situation des kapitalistischen Weltsystems und seine gewaltigen Krisenerscheinungen adäquat zu analysieren. Hingegen trägt das Klassenkampfparadigma rein gar nichts zum Verständnis der Aktualität bei und ist auch nicht in der Lage, eine neue Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation zu formulieren. Aus diesem Grund muss auch  gesagt werden, dass das Manifest der Kommunistischen Partei heute obsolet ist. Es besitzt nur noch historischen Wert.

2.

Auf den ersten Blick mag diese Feststellung verwundern. Denn für sich genommen, lesen sich so manche Sätze im Manifest wie hochaktuelle Zeitdiagnosen. Wenn Marx und Engels etwa schreiben, dass die Bourgeoisie in ihrem unaufhörlichen Expansionsdrang „die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet“ und „den nationalen Boden der Industrie unter den Füßen weggezogen“ hat (Marx/Engels 1848, S. 466), dann liest sich das wie eine vorweggenommene Diagnose der sogenannten Globalisierung. Zweifellos hat sich der Kapitalismus in ungeheurem Tempo auf dem gesamten Planeten durchgesetzt und alle anderen Produktions- und Lebensweisen fast vollständig zerstört oder marginalisiert; er hat den allergrößten Teil der Weltbevölkerung in Verkäufer der Ware Arbeitskraft verwandelt; die soziale Polarisierung hat ungeheure Ausmaße angenommen, und das Geldvermögen konzentriert sich in den Händen einer winzigen Minderheit, während der Großteil der Menschen in prekären Verhältnissen lebt. Liegt es da nicht nahe, von einer Zuspitzung des weltweiten Klassengegensatzes im Sinne des Manifests und von einem „Neuen Klassenkampf“ (Žižek 2015) zu sprechen oder eine „Neue Klassenpolitik“ (Friedrich 2018) zu beschwören?

Doch der Augenschein täuscht. So richtig die Diagnosen über die historische Dynamik des Kapitalismus auch waren, bietet doch das Paradigma vom Klassenantagonismus keine adäquaten Erklärungen für die aktuellen Entwicklungen. Das hat zunächst einmal einen prinzipiellen Grund: Der Gegensatz von Kapital und Arbeit war und ist keinesfalls ein antagonistischer Widerspruch, der den Kapitalismus sprengen muss, wie es Marx und Engels im Manifest formulierten und wie es seitdem endlos wiederholt worden ist. Vielmehr handelt es sich um einen immanenten Interessengegensatz innerhalb eines gemeinsamen gesellschaftlichen Bezugssystems, das auf der allgemeinen Warenproduktion beruht und in dem der gesellschaftliche Reichtum die abstrakte Form des Werts annimmt.

Die Produktion abstrakten Reichtums ist ein historisch-spezifisches Merkmal des Kapitalismus. Sie gehört zu seinem innersten Wesen. Abstrakt ist sie insofern, als in der Kategorie des Werts von allen stofflich-konkreten Eigenschaften der Produkte und den konkreten Bedingungen ihrer Produktion abgesehen wird. Was zählt, ist nur die im Wert der Produkte dargestellte Arbeitszeit, die im gesellschaftlichen Durchschnitt für ihre Herstellung benötigt wird, und die empirisch – über verschiedene Vermittlungsschritte hindurch – im Geld erscheint. Der Arbeit kommt also eine zentrale Stellung in der Produktion abstrakten Reichtums zu. Aber auch hier zählt nicht der stofflich-konkrete Inhalt. Worauf es ankommt, ist nur, dass Arbeit überhaupt verausgabt wird, also abstrakte Arbeit.

Diese zentrale Stellung der Arbeit, ist alles andere als selbstverständlich. Sie ist selbst ein historisch-spezifisches  Merkmal der kapitalistischen Produktionsweise, genauer gesagt: Sie ist ihr zentrales Wesensmerkmal. Was diese Produktionsweise ganz grundsätzlich von allen anderen bisherigen unterscheidet, ist zu allererst ihre Zersplitterung in lauter voneinander isolierte Individuen, die erst nachträglich und äußerlich Bezug aufeinander nehmen, um ihren gesellschaftlichen Zusammenhang herzustellen. Das Entscheidende daran ist der Widerspruch, dass diese Vergesellschaftung in der Form der Privatheit erfolgt. Die vereinzelten Einzelnen stellen als Privatproduzenten Dinge her, um über diese anschließend mit anderen Privatproduzenten in Beziehung zu treten; dieses Ding können dabei auch sie selbst sein, indem sie nämlich ihre eigene Arbeitskraft verkaufen (Trenkle 2019). Der gesellschaftlichen Tätigkeit kommt dadurch eine Funktion zu, die sie in keiner anderen Gesellschaft hatte: Sie stellt die gesellschaftliche Vermittlung her (Postone 2003). Der Wert ist seinerseits nichts anderes als die verdinglichte Darstellung dieser historisch-spezifischen gesellschaftlichen Beziehungsform, die sich zunächst in den Waren, dann im Geld und schließlich in der Bewegung G – W – G‘, also der endlosen Selbstzweckbewegung des Kapitals ausdrückt.

Die Arbeit ist also eine zentrale Wesenskategorie der kapitalistischen Gesellschaft. Sie steht der Kategorie des Kapitals nicht äußerlich gegenüber, sondern liegt ihr vielmehr zugrunde. Das ist nicht nur in dem landläufigen Sinne gemeint, dass das Kapital auf der Ausbeutung der Arbeit beruht. Vielmehr ergibt sich die Kategorie des Werts und damit auch die des Kapitals logisch aus der historisch-spezifischen Form gesellschaftlicher Vermittlung über die Arbeit. Arbeit und Kapital sind also ganz grundsätzlich aufeinander verwiesen. Sie sind zwei Momente eines gemeinsamen gesellschaftlichen Verhältnisses. Als solche repräsentieren sie allerdings auch gegensätzliche Interessen.

Dass dieser Interessengegensatz oftmals mit harten Bandagen ausgefochten wird und immer wieder auch gewaltsame Formen annimmt, liegt in der Logik der Sache. Denn das Kapital unterliegt dem systemisch unerbittlichen Zwang zur Verwertung und verfolgt daher nur einen Zweck: den endlosen Selbstzweck, aus Wert mehr Wert zu machen. Das aber setzt die Ausbeutung der Ware Arbeitskraft voraus, denn sie ist die einzige Ware, die den einzigartigen Gebrauchswert besitzt, mehr Wert zu produzieren, als sie selbst kostet. Daher liegt es im Interesse des Kapitals, den Wert der Arbeitskraft (ausgedrückt im Lohn) möglichst herabzudrücken. Umgekehrt wollen die Arbeitskraftverkäufer ihre Ware natürlich möglichst teuer verkaufen. Denn nur mit einem ausreichenden Lohn erhalten sie Zugang zum warengesellschaftlichen Reichtum, können sich also die benötigten Konsumgüter kaufen, die sie zum Leben benötigen. Letztlich handelt es sich also um einen Verteilungskonflikt: um einen Konflikt darüber, wie die produzierte Wertmasse zwischen den beiden Parteien Kapital und Arbeit aufgeteilt wird.

Da nun aber beide Parteien zum Wesenskern der kapitalistischen Produktionsweise gehören, haben sie trotz aller Gegensätze zugleich auch das gemeinsame Interesse, die Produktion abstrakten Reichtums zu erhalten. Deshalb respektieren sie im Allgemeinen auch die von dieser Reichtumsform diktierten Spielregeln. Dazu gehört in erster Linie, dass die Akkumulation von Kapital in Gang bleiben muss. Denn andernfalls kann weder das Kapital seinem Selbstzweck nachkommen, Geld in mehr Geld zu verwandeln, noch verfügen die Arbeitskraftverkäufer über das nötige Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Diese basale Gemeinsamkeit ist der tiefere Grund dafür, weshalb der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit den Kapitalismus keinesfalls gesprengt hat, wie im Manifest prognostiziert,  sondern im Laufe des 20. Jahrhunderts Formen gefunden wurden, um einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen auszuhandeln und politisch zu regulieren.

3.

Historisch gesehen, verortet sich der Höhepunkt des regulierten Interessenausgleichs zwischen Kapital und Arbeit in der Ära des Fordismus. Das ist kein Zufall. Denn in dieser Ära expandierte das Kapital in einem historisch einmaligen Tempo und benötigte daher ständig auch neue Arbeitskräfte. Umgekehrt erlaubte das den Arbeitskraftverkäufern, relativ gute Bedingungen für den Verkauf ihre Ware auszuhandeln und in bisher nicht vorstellbarem Maße am Warenreichtum zu partizipieren (Trenkle 2006).

Der Bruch in dieser historischen Konstellation fand nicht erst mit dem Zusammenbruch des sogenannten Sozialismus statt, wie es heute zumeist behauptet wird. Vielmehr ist er zeitlich schon gut anderthalb Jahrzehnte vorher zu verorten. Der Grund dafür war das Ende des fordistischen Booms, der einherging mit dem Aufkommen der Dritten Industriellen Revolution. Diese bedeutete einen qualitativen Sprung in der Produktivkraftentwicklung; denn mit ihr verschob sich der Schwerpunkt von der Produktivkraft Arbeit hin zur Produktivkraft Wissen, ganz so, wie es Marx übrigens bereits in den Grundrissen prognostiziert hatte. Die Folge war eine massenhafte Verdrängung von Arbeit aus der Produktion. Damit verbesserte sich zwar die Machtposition des Kapitals, das in der Lage war, die Löhne zu drücken und die Arbeitsbedingungen zu verschlechtern. Doch gleichzeitig verlor es mit der Massenarbeit in der Produktion auch die Grundlage für die eigene Verwertung. Die Konsequenz daraus war eine tiefgreifende Krise der Kapitalverwertung, die sich bis weit in die 1980er-Jahre hineinzog.

Ein Ausweg aus dieser Krise fand sich trotz aller brachialen neoliberalen Maßnahmen zur Schwächung der gewerkschaftlichen Position und zur Deregulierung der Arbeitsbedingungen nicht etwa in einer Erneuerung der produktiven Grundlage der Kapitalverwertung. Das war auch gar nicht möglich, denn das einmal erreichte Niveau der Produktivkraftentwicklung lässt sich nicht mehr zurückdrehen. Daher kann es keine Rückkehr zu einer Konstellation geben, in der das Kapital sich auf der Grundlage von Massenarbeit in der Produktion verwertet. Stattdessen öffnete die neoliberale Deregulierung und Transnationalisierung der Finanzmärkte das Tor für eine neue Ära der Kapitalakkumulation, die nicht mehr primär auf der Kapitalverwertung beruhte. An die Stelle der Vernutzung von Arbeitskraft und der Abschöpfung des Mehrwerts in der Warenproduktion trat nun die Akkumulation von fiktivem Kapital (Lohoff/ Trenkle, 2012).

4.

Fiktives Kapital ist nichts anderes als Vorgriff auf zukünftigen Wert, auf Wert, der erst noch produziert werden muss, der aber bereits im Hier und Heute wirksam wird. Das technische Mittel dazu sind Finanztitel, die den Anspruch auf eine bestimmte Summe Geld und ihre Vermehrung durch Zinsen oder Dividenden verbriefen. Die massenhafte „Produktion“ von solchen Finanztiteln (Aktien, Anleihen, Futures etc.) und ihr Handel an den Finanzmärkten erlaubt es dem Kapital seit nunmehr fast vier Jahrzehnten, sich weiterhin zu vermehren, obwohl die Grundlage für eine ausgedehnte Mehrwertproduktion längst nicht mehr gegeben ist. Die grundlegende Krise der Kapitalverwertung, die ihren Ursprung in den 1970er-Jahren hat, ist also nie gelöst worden. Vielmehr wurde und wird sie durch die massive Akkumulation fiktiven Kapitals an den Finanzmärkten überspielt und verdrängt. Diese „Kapitalakkumulation ohne Wertverwertung“ (Lohoff 2014) ist zwar auf längere Sicht nicht haltbar, denn sie führt zu einer wachsenden Aufhäufung von explosivem Krisenpotential an den Finanzmärkten, das sich in immer gewaltigeren Crashs entlädt und zunehmend das Geldsystem untergräbt. Dennoch war sie der Motor für eine ungeheure kapitalistische Expansionsdynamik, die zur endgültigen Durchsetzung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise auf dem gesamten Planeten geführt hat.

Zugleich hat sich in dieser Ära des fiktiven Kapitals aber auch das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit so fundamental verändert, dass die Theorie vom „Klassenwiderspruch“ endgültig jede Grundlage verliert. Auf den ersten Blick mag diese Aussage erstaunen. Denn ganz offensichtlich ist die übergroße Mehrheit der Weltbevölkerung heute so sehr von Lohnarbeit und Warenproduktion abhängig wie nie zuvor in der Geschichte. Paradoxerweise ist aber zugleich das Kapital weitgehend unabhängig von der Ausbeutung der Ware Arbeitskraft geworden, weil sich der Schwerpunkt der Akkumulation in die Sphäre des fiktiven Kapitals verlagert hat. Damit soll natürlich nicht behauptet werden, dass keine Ausbeutung von Arbeitskraft mehr stattfände. Das zu behaupten wäre absolut kontrafaktisch. Aber die Produktion von Mehrwert stellt schon lange nicht mehr den Motor der Kapitalakkumulation dar, sondern ist selbst zu einer abhängigen Variable geworden, die von der Dynamik des fiktiven Kapitals an den Finanzmärkten bewegt wird (Lohoff/ Trenkle 2012; Trenkle 2016). Nirgendwo wird das deutlicher als im Bausektor, dem dynamischsten „realwirtschaftlichen“ Sektor der Gegenwart. Investiert wird hier nur, solange die Immobilienspekulation – die ein zentraler Bezugspunkt für die Akkumulation fiktiven Kapitals ist – in Gang bleibt. Nur dann finden dort Menschen eine Möglichkeit, ihre Arbeitskraft zu verkaufen – zumeist zu unsäglichen Bedingungen, während sie sich gleichzeitig das Wohnen nicht mehr leisten können, weil das fiktive Kapital die Immobilienpreise permanent in die Höhe treibt.

Die Abhängigkeit der realwirtschaftlichen Aktivitäten und damit der Arbeitsverausgabung von der Dynamik der Finanzmärkte ist ein allgemeines Phänomen in der Ära des fiktiven Kapitals. Das erklärt auch die gewaltige Expansion des tertiären Sektors, der großenteils unproduktiv im Sinne der Kapitalverwertung ist, also keinen Wert und Mehrwert produziert. Wenn er trotzdem heute überall auf der Welt den mit Abstand größten Anteil der Arbeitsplätze stellen kann, liegt das nur daran, dass er aus den Einkommen und Gewinnen gespeist wird, die überwiegend vom fiktiven Kapital durch den Vorgriff auf zukünftigen Wert generiert werden. Der Preis, den die Arbeit für diese Abhängigkeit zahlen muss, ist freilich äußerst hoch. Weil das Kapital in seiner Akkumulationsbewegung nicht mehr auf die Arbeitskraft angewiesen ist, kann es deren Verkaufsbedingungen weitgehend diktieren. Das ist der maßgebliche Grund für die allseitige Prekarisierung und Verdichtung der Arbeit, die mit dem weitgehenden Machtverlust der Gewerkschaften und Arbeiterparteien einhergeht. Parallel dazu kommt es zu einer ungeheuren Konzentration der Vermögen in immer weniger Händen, weil das fiktive Kapital sich an den Finanzmärkten im unmittelbaren Bezug auf sich selbst vermehren kann, ohne den lästigen Umweg über die Anwendung von Arbeitskraft in der Warenproduktion (Trenkle 2018).

Trotz dieser Verlagerung der Akkumulationsdynamik an die Finanzmärkte wird allerdings dennoch die rücksichtslose Ausbeutung der natürlichen Ressourcen in beschleunigtem Maße vorangetrieben. Denn gerade weil die Produktion auf einem ungeheuer hohen Produktivitätsniveau getätigt wird, steigt der Materialverbrauch ins Unermessliche. Die einzelne Wareneinheit repräsentiert immer weniger Wert, weil sie mit einem Minimum an Arbeitskraft produziert werden kann. Um das wenigstens teilweise zu kompensieren, wird der Ausstoß an Waren permanent gesteigert, Waren, die dann ja noch transportiert werden müssen und überdies bei ihrem Konsum oftmals selbst noch Energie und Ressourcen verschlingen. Der zu Recht kritisierte „Wachstumszwang“ hat hier eine wesentliche Ursache.

5.

Alles in allem sind also in der Ära des fiktiven Kapitals die Arbeits- und Lebensbedingungen weltweit immer unerträglicher geworden, während gleichzeitig die natürlichen Lebensgrundlagen in einem horrenden Maße zerstört werden. Der Klimawandel ist der extremste und gefährlichste Ausdruck davon. Das ruft natürlich auch Gegenwehr hervor. Doch die verschiedenen Ansätze von Kritik, Protest und Widerstand sind weitgehend zersplittert und beziehen sich bestenfalls äußerlich aufeinander. Es fehlt ein gemeinsamer Bezugspunkt, über den sie sich verbinden könnten. Deshalb versuchen neuerdings Teile der Linken, die Arbeiterklasse als synthetisierende Kategorie wieder zu rehabilitieren (vgl. etwa Friedrich 2018). Doch so richtig der dahinter stehende Anspruch auch ist, die Fragmentierung zu überwinden und eine neue, transnationale antikapitalistische Bewegung ins Leben zu rufen, so wenig wird ihm die Kategorie der Klasse gerecht. Was die unterschiedlichen Ansätze von Kritik, Protest und Widerstand verbindet, ist nicht, dass sie – offenbar, ohne es zu wissen – allesamt Fragmente eines weltweiten Klassensubjekts wären, die nur noch zusammengeführt werden müssen. Das würde ein gemeinsames, positives Meta-Interesse und eine Art vorausgesetzter Klasseneinheit unterstellen, die schlicht nicht existieren.

Was die verschiedenen Formen der Gegenwehr verbindet, ist vielmehr ein Negatives. Sie entzünden sich allesamt auf je unterschiedliches Weise an Konfliktlinien, die von der imperialen und destruktiven Dynamik der Produktion abstrakten Reichtums bestimmt werden. Dieser Zusammenhang bleibt freilich unsichtbar, wenn es keinen kritischen Begriff von dieser historisch-spezifischen Form der Reichtumsproduktion gibt. Denn die Effekte dieser Dynamik sind in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Dimensionen, empirisch betrachtet, höchst unterschiedlich. Derzeit sind in den kapitalistischen Zentren vor allem vier Konfliktlinien virulent: Die Frage des Wohnens, der Klimawandel, die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen und die Immigration. Sie alle ergeben sich direkt aus der spezifischen Verlaufsform der abstrakten Reichtumsproduktion in der Ära des fiktiven Kapitals und der unlösbaren fundamentalen Krise der Kapitalverwertung. Für die ersten drei Konfliktlinien – Wohnen, Klimawandel und Prekarisierung der Arbeit – habe ich das oben schon kurz skizziert. Aber auch für den großen Andrang von Immigranten auf die kapitalistischen Zentren liegt der Zusammenhang auf der Hand. Die Menschen fliehen zumeist, weil ihre bisherigen Lebensgrundlagen von der Wucht der Durchkapitalisierung zerstört worden sind, sie aber zugleich als Arbeitskräfte nicht benötigt werden. Es sind „überflüssige Menschen“ (Bauman 2005), die der Kapitalismus auf dem derzeitigen Niveau der Produktivkraft und unter den Bedingungen der Akkumulation des fiktiven Kapitals in gigantischem Maßstab „produziert“.

Wer versucht, alle diese Fragestellungen und Konfliktlinien auf den gemeinsamen Nenner eines übergreifenden Klasseninteresses zu bringen, muss scheitern. Ein solches existiert nicht. Im Gegenteil. Die Interessen entlang der verschiedenen Konfliktlinien stehen sich sogar oftmals diametral entgegen. So etwa, wenn die Prekarisierten in den kapitalistischen Zentren befürchten, dass sich aufgrund der Immigration die Arbeitsbedingungen weiter verschlechtern und die Wohnungspreise zusätzlich ansteigen. Oder wenn klimapolitische Maßnahmen wie eine CO2-Steuer Arbeitsplätze bedrohen und die Kosten für Benzin, Heizung und Strom in die Höhe treiben. Ansätze von Gegenwehr werden auf diese Weise nicht zusammengeführt, sondern geraten miteinander in Konflikt. Eine antikapitalistische Synthese lässt sich daher nicht auf der Grundlage von Interessen herstellen, sondern nur in der gemeinsamen Frontstellung gegen die spezifisch-kapitalistische Form der Reichtumsproduktion.

Das ist weniger abstrakt, als es sich zunächst anhört. Denn zum einen lässt sich sehr konkret und anhand jeder einzelnen Konfliktlinie zeigen, worin ihre negative Gemeinsamkeit besteht. Zum anderen ergibt sich daraus eine gemeinsame Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation, die nur in der Aufhebung der abstrakten Reichtumsproduktion und der Verwirklichung in einer Gesellschaft frei assoziierter Individuen bestehen kann. Und schließlich lassen sich vor diesem Hintergrund auch konkrete Forderungen, Maßnahmen und praktische Schritte entwickeln, die in diese Richtung weisen und es erlauben, die scheinbar disparaten Momente der Gegenwehr zusammenzuführen. So reiht sich etwa der Kampf um Wohnraum in einen allgemeineren Kampf um die Aneignung und Überführung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion in kooperative Strukturen ein, die nach den Kriterien stofflich-sinnlicher Vernunft organisiert sind und in denen jeder und jede sich nach den eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten betätigen kann. Diese Transformation der Reichtumsproduktion und der gesellschaftlichen Beziehungen kann nicht erst nach einer revolutionären Umwälzung der Gesellschaft stattfinden, sondern muss wesentliches Moment eines emanzipatorischen Prozesses sein, in dessen Verlauf die neue Gesellschaft sich gewissermaßen selbst erfindet.

Wo der Klassendiskurs immer in erster Linie nach dem „Wer“ fragt, also nach dem mutmaßlichen Akteur der Emanzipation, lässt über die bestimmte Negation der abstrakten Reichtumsproduktion sehr genau Auskunft über das „Was“, also über den Inhalt des Prozesses gesellschaftlicher Emanzipation geben. Die Frage nach den Akteuren und Akteurinnen dieses Prozesses beantwortet sich dann wie von selbst. Da sie nicht apriori existieren, können sie sich nur in Bezug auf den emanzipatorischen Inhalt entlang der diversen Konfliktlinien formieren. Auf das Manifest der Kommunistischen Partei können sie sich dafür höchstens in einer Hinsicht beziehen: auf den großartigen revolutionären Impetus, den es entfacht. Was den Inhalt der Emanzipation angeht, müssen sie jedoch auf den „anderen Marx“ zurückgreifen, also jenen Teil der Marx’schen Theorie, den die traditionelle Linke immer noch weitgehend ignoriert.

Literatur:

Bauman, Zygmunt (2005) Verworfenes Leben, Bonn 2005

Friedrich, Sebastian & Redaktion analyse und kritik (Hg.): Neue Klassenpolitik, Berlin 2018

Lohoff, Ernst; Trenkle, Norbert (2012): Die große Entwertung, Münster 2012

Lohoff, Ernst (2014): Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation, Krisis 1/2014, www.krisis.org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation/

Marx, Karl; Engels, Friedrich (1848): Manifest der Kommunistischen Partei, in MEW 4, Berlin 1977, S. 459 – 493

Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, Freiburg 2003

Trenkle, Norbert (2006): Kampf ohne Klassen, in: Krisis 30, Münster 2006

Trenkle, Norbert (2016): Die Arbeit hängt am Tropf des fiktiven Kapitals, Krisis 1/2016, www.krisis.org/2016/die-arbeit-haengt-am-tropf-des-fiktiven-kapitals/

Trenkle, Norbert (2018): Workout. Die Krise der Arbeit und die Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft, www.krisis.org/2018/workout-die-krise-der-arbeit-und-die-grenzen-der-kapitalistischen-gesellschaft/

Trenkle, Norbert (2019): Ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit, www.krisis.org/2019/ungesellschaftliche-gesellschaftlichkeit/

Žižek, Slavoy (2015): Der neue Klassenkampf, Berlin 2015

Fußnoten

[1] Überarbeitete Version eines Referats mit dem Titel: The other Marx. Why the Communist Manifesto is obsolete, bei der Konferenz „Communist Manifesto: History, Legacy, Critique“ (Prag, 7.6.2019). Veröffentlicht im Juli 2019 auf www.krisis.org. URL: www.krisis.org/2019/neue-konfliktlinien-warum-der-klassenkampf-von-gestern-ist