von Peter Samol
Zurzeit (Mitte Juni 2020) weiß kein Mensch, wie lange die Corona-Pandemie noch dauern wird, die seit Mitte März dieses Jahres unseren Alltag prägt. Ein Ende finden kann sie nur durch einen Impfstoff oder durch natürliche Immunisierung. Bis eins von beidem eintritt, wird es noch viele Monate dauern. Nach offiziellen Schätzungen waren bisher weltweit siebeneinhalb Millionen Menschen infiziert. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Dunkelziffer fünf bis zwanzig Mal höher liegen dürfte, folgt daraus, dass wir noch ganz am Anfang der Pandemie stehen. Auch ein Impfstoff ist nicht so bald in Sicht. Seriösen Schätzungen zufolge wird wohl erst gegen Ende 2021 ein wirksames und bedenkenloses Mittel vorliegen.
Die Maßnahmen, die zur Eindämmung der Pandemie umgesetzt werden, sind historisch einmalig. Ihr Zweck besteht vor allem darin, zu keinem Zeitpunkt das Gesundheitssystem zu überlasten. Erkrankte mit sehr starken Symptomen müssen nämlich über mehrere Wochen auf einer Intensivstation künstlich beatmet werden. Sonst sterben sie. Hässliche Triage-Situationen, wie sie zeitweilig in Italien, Frankreich und Spanien vorkamen, gilt es unbedingt zu vermeiden. Die Maßnahmen hatten unter anderem zur Folge, dass unserer ansonsten so ruhelosen Gesellschaft eine Zwangspause verordnet wurde. Ausgangsbeschränkungen und die Anordnung, fast alle Geschäfte und Gaststätten zu schließen, brachten das Wirtschaftsleben ab Mitte März in großen Teilen zum Stillstand. In den ersten vier Wochen durften nur Lebensmittelläden, Drogeriemärkte und Apotheken geöffnet haben. Ab der fünften Woche wurden die Einschränkungen erst langsam und dann immer schneller wieder zurückgefahren. Vor allem, um eine drohende Pleitewelle zu verhindern. Damit erhöht sich allerdings das Risiko beträchtlich, dass die Infektionszahlen an Fahrt aufnehmen und wieder ins exponentielle Wachstum zurückfallen. Eine zweite Welle an Corona-Erkrankungen wird dabei in Kauf genommen und es kann gut sein, dass uns die Zwänge unserer Wirtschaftsweise zurück in die Pandemie treiben.
Begünstigung der Entstehung
Das Virus kam nicht aus dem Nichts. Sowohl die Entstehung als auch die schnelle Ausbreitung der Pandemie hängen eng mit dem Vordringen der kapitalistischen Wirtschaftsweise in sämtliche Weltregionen zusammen. Massive Exporte an Billiglebensmitteln treiben in den ärmeren Ländern die lokalen Erzeuger in die Pleite und die moderne Agrarindustrie mit ihrem Landgrabbing sowie die intensive Befischung der Weltmeere tun ein Übriges, um die Menschen dort von ihrem ursprünglichen Lebensunterhalt abzuschneiden. Ihnen bleibt oft nichts anderes übrig, als sich immer tiefer in zuvor weitgehend unberührte Dschungel und Savannen zu begeben. Dort verzehren sie wilde Tiere oder verschleppen sie auf Märkte in den Großstädten, wo diese mit anderen Arten in Kontakt kommen, denen sie sonst nie begegnet wären. Dadurch mischen sich die Erreger, von denen diese Tiere befallen sind, und es entstehen durch Neukombination völlig neuartige Krankheitskeime, von denen einige für Menschen gefährlich sind. Einer davon ist das Coronavirus. Ein anderer Mechanismus der Krankheitsentstehung wird durch die Schaffung riesiger Plantagen begünstigt. So bieten etwa Palmölplantagen ideale Bedingungen für Flughunde, die dort gigantische Populationen ausbilden. Jeder einzelne von ihnen trägt Milliarden verschiedenster Viren in sich. Die extrem hohe Gesamtzahl der Erreger erhöht massiv die Wahrscheinlichkeit, dass sich neuartige Mutationen ausbilden, von denen ebenso einige sehr gefährlich für Menschen sein können. Auf diese Weise dürfte der Ebola-Erreger entstanden sein. Sind die neuen Erreger erst einmal auf den Menschen übergesprungen, dann sorgen die hohe Bevölkerungsdichte in den modernen Städten, das um den Globus gesponnene Handelsgeflecht und die ausufernde Reisetätigkeit von Geschäftsleuten und Touristen anschließend dafür, dass die neuen Keime sich sehr rasch über den gesamten Erdball verbreiten. Die Krise ist somit in erster Linie die Folge unseres hochexpansiven Wirtschaftssystems, das die Menschheit unvermeidlich in Konflikt mit der Natur bringt. Insofern ist das Auftreten der Pandemie keine echte Überraschung. Virologen weisen darauf hin, dass bereits weitere Viren auf der Lauer liegen und es bis zur nächsten Pandemie vielleicht gar nicht lange dauert.
Das kranke Gesundheitswesen
Auch die Tatsache, dass uns das Virus dermaßen hart trifft, ist ökonomischen Entwicklungen geschuldet. Wie schon erwähnt, besteht das Ziel der derzeitigen Maßnahmen vor allem darin, eine Überforderung des Gesundheitssystems zu vermeiden. Wie viel Öffnung möglich ist, hängt damit vor allem vom Umfang und von der Ausstattung des öffentlichen Gesundheitswesens ab. Gegenwärtig trifft die Pandemie auf ein Gesundheitssystem, das seit drei Jahrzehnten nach finanzökonomischen Kriterien umgebaut und dabei stark zusammengeschrumpft wurde. Seit Anfang der 1990er Jahre wurde in Deutschland die Zahl der Krankenhausbetten um 30 Prozent reduziert, während zugleich der Bevölkerungsanteil älterer und somit behandlungsbedürftiger Menschen wuchs. Die einschneidendste Reform war das System der Fallpauschalen, das im Jahr 2000 eingeführt wurde. Seitdem bekommen Krankenhäuser für jeden Patienten einen festen Geldbetrag ausgezahlt, dessen Höhe sich ausschließlich nach der medizinischen Diagnose richtet. Die Behandlungsdauer und die tatsächlichen Behandlungskosten spielen anschließend keine Rolle. Das Fallpauschalensystem hat enorme Fehlentwicklungen in Gang gesetzt. Kosten, die keinen Gewinn einbringen, müssen unter seinem Regime unbedingt vermieden werden. Darunter fällt auch das Vorhalten von Kapazitäten für Krisen- und Notfälle. Intensivbetten, Medikamente und Geräte, die ungenutzt gelagert werden müssten, würden Investitionen darstellen, die keinen Gewinn bringen – was aus betriebswirtschaftlicher Sicht eine Todsünde darstellt, die mit dem Konkurs des Unternehmens bestraft wird. Mit dem Fallpauschalensystem konnte schon in gewöhnlichen Zeiten kaum der Normalbetrieb der Krankenhäuser gewährleistet werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es heute kaum glaublich, dass noch Ende 2019 in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung die Forderung gestellt wurde, die Anzahl der Krankenhausbetten weiter um 35 Prozent zu reduzieren. Alles in allem ist es kein Wunder, dass es in der Krise empfindlich an Notfallbetten, Beatmungsgeräten und Personal mangelt. Eine ähnliche Situation findet sich auch bei den Gesundheitsämtern. Ihre Aufgabe wäre es eigentlich, Infektionsketten lückenlos zurück zu verfolgen und dadurch möglichst alle Infizierten ausfindig zu machen. Sobald die Zahl der Neuinfektionen einen bestimmten Wert unterschreitet, ist das theoretisch möglich. Da die Gesundheitsämter aber, ebenso wie die Krankenhäuser, seit Jahren finanziell ausgeblutet wurden, ist das in vielen Fällen kaum realisierbar. Und ob die hauptsächlich aus Reihen der Studierenden zusammengetrommelten und per Crash-Kurs instruierten Corona-Scouts diese Lücken erfolgreich schließen können, darf bezweifelt werden.
Geld oder Gesundheit?
Ein Grundwiderspruch durchzieht die gesamte Corona-Krise. Es ist der Widerspruch zwischen Geld und Leben. Was ist uns wichtiger: Die jeweils eigene ökonomische Existenz oder ein Leben in Gesundheit? Die mit den Eindämmungsmaßnahmen einhergehende Entschleunigung, die teilweise bis hin zum völligen Stillstand ganzer Wirtschaftszweige ging, ist im Kapitalismus nicht vorgesehen. Dieser Wirtschaftsweise ist eine Rastlosigkeit eingeschrieben, wie sie keine andere Vergesellschaftungsform kennt. Kapital muss sich bekanntlich ständig vermehren, um sich zu erhalten. Dazu muss es laufend neu in die Produktion von Waren investiert werden und diese müssen anschließend gewinnbringend verkauft werden, um die daraus resultierenden Einnahmen erneut zu investierten. Alle Menschen sind auf Gedeih und Verderb in diesen Kreislauf eingebunden. Nur durch die Teilnahme an ihm – entweder als Arbeitskraft oder indem man irgendetwas anderes verkauft – kann man selbst an das nötige Geld gelangen, das man in dieser Gesellschaft zum Leben braucht. Dummerweise begünstigen viele Wirtschaftsaktivitäten die Ausbreitung des Virus und mussten daher drastisch heruntergefahren oder gar stillgelegt werden.
In den meisten Ländern der Welt zog man angesichts dieses Dilemmas die Konsequenz, dem Leben den Vorzug zu geben und die Produktion stark herunter zu fahren. Damit stellt die Corona-Pandemie einen Präzedenzfall dar. Niemals zuvor wurde das allgemeine Verwertungsgeschehen wissen- und willentlich dermaßen stark ausgebremst. Könnte die Pandemie vielleicht ein historischer Wendepunkt sein, der uns dazu bringt, mit den kapitalistischen Imperativen des „immer mehr, immer schneller und immer weiter“ zu brechen? Und stattdessen eine geruhsamere, menschen- und umweltfreundliche Produktionsweise zu entwickeln? Als im Jahr 1755 ein großes Erdbeben die Stadt Lissabon erschütterte, versetzten die Zerstörung und die vielen Todesopfer dem christlichen Glauben an einen „Guten Gott“ einen Stoß, von dem er sich nie wieder erholen sollte. Könnte die Corona-Krise in Bezug auf die kapitalistische Vergesellschaftungsform vielleicht eine ähnliche Wirkung haben?
Die Krise bringt einige positive Erfahrungen und Entwicklungen mit sich. Viele Menschen wurden Zeuge, dass die Zwänge des bestehenden Systems zum Schutz des menschlichen Lebens zumindest für eine gewisse Zeit außer Kraft gesetzt werden können. Vor dem Hintergrund dieses Präzendenzfalls könnten sie in Zukunft zum Beispiel fragen, was eigentlich dagegen spricht, das Klima ebenso konsequent zu retten, wie zuvor das Virus eingedämmt wurde. Immerhin sterben jährlich acht bis neun Millionen Menschen an Folgen der Luftverschmutzung. Außerdem brachte die Verlangsamung unseres Alltags für nicht wenige die Erfahrung mit sich, dass das Leben auch ohne die sonst herrschende allgemeine Rastlosigkeit weitergeht. In diesem Sinne führte ein reduzierter Flug- und Autoverkehr in vielen Städten zu einer angenehmen und zuvor nicht gekannten Ruhe.
Solchen positiven Effekten stehen allerdings etliche negative Erfahrungen gegenüber. Für Verkäuferinnen im Lebensmittel-Einzelhandel, Pflegern in Krankenhäusern, Transportarbeiterinnen und all den anderen Berufstätigen, die unverhofft das Prädikat „systemrelevant“ angeheftet bekamen (obwohl das Wort „lebenswichtig“ es wohl besser getroffen hätte), setzte ein enormer zusätzlicher Arbeitsstress mit etlichen Überstunden und Sonderschichten ein. In der Ernährungswirtschaft wurden sogar die geltenden Maximalarbeitszeiten außer Kraft gesetzt, was Arbeitsschichten von bis zu zwölf Stunden pro Tag ermöglicht. Nichts deutet darauf hin, dass sich nach der Pandemie etwas an den Arbeitsbedingungen der „Systemrelevanten“ verbessern wird. Bestenfalls werden sie wieder auf den alten Stand zurückgefahren. Andere leiden bis heute am Homeoffice mit gleichzeitiger Kinderbetreuung plus Hausarbeit. Hier setzt jene klassische Doppelbelastung, von der vor allem Frauen betroffen sind, wieder ein bzw. verschärft sich weiter. Dann gibt es die riesige Gruppe derjenigen, die von Verlust- und Abstiegsängsten betroffen sind, weil ihre Arbeit zur Zeit nicht benötigt wird. In den ersten Wochen der Corona-Krise stieg die Anzahl der Kurzarbeiter auf 10,14 Millionen Menschen an. Damit war fast ein Drittel der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten betroffen, und noch immer sind es mit sieben millionen fast ein Viertel. Laut Angaben des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung bereiten sich die Personalabteilungen der Unternehmen außerdem auf eine Welle von Entlassungen vor. Und der Deutsche Gewerkschaftsbund warnt bereits vor einem Corona-Crash auf dem Ausbildungsmarkt. Hinzu kommt, dass zwei Drittel der ca. 4,5 Millionen Soloselbständigen über einen Umsatzeinbruch von mehr als 75 Prozent klagen. Und im Hartz IV-Bereich war im April bereits eine Zunahme von 40 Prozent zu verzeichnen.
Noch schlimmer ist es in anderen Weltgegenden. In Indien, China und erst recht in vielen ärmeren Ländern wissen Millionen von plötzlich arbeitslos gewordenen Wanderarbeitern buchstäblich nicht mehr, wo sie hin sollen. Abstand halten oder zu Hause bleiben ist für diese Menschen schlicht unmöglich. Außerdem hat die Zerstörung der Regenwälder rund um den Globus drastisch an Fahrt aufgenommen. In Brasilien, im Kongo, in Indonesien und vielen weiteren tropischen Ländern können oder wollen die Regierungen ihre Kontrollfunktionen aufgrund der Seuche nicht mehr ausüben. Zugleich werden noch mehr verzweifelte Menschen als zuvor in die Dschungel getrieben. Dort suchen sie nach Gold, schlagen Holz oder versuchen Nahrung zu finden. Das könnte die nächste Pandemie auslösen.
In den Industrieländern erleidet der öffentliche Nahverkehr einen großen Rückschlag, weil viele fürchten sich dort anzustecken. Neben einem erfreulichen Trend zum Fahrrad gibt es daher leider auch einen zur vermehrten Nutzung des Autos. Obwohl es völlig widersinnig wäre, drohen außerdem künftig weitere Schließungen oder Privatisierungen von öffentlichen Krankenhäusern. Viele der für die Finanzierung ihrer Bausubstanz zuständigen Kommunen waren schon vor der Corona-Krise finanziell angeschlagen. Nun brechen ihnen in der Pandemie Einnahmen aus der Gewerbesteuer von bis zu 12 Milliarden Euro weg. Zu einer Unterstützung der Kommunen konnte sich die Regierungskoalition nicht durchringen. Zwar übernimmt Berlin künftig drei Viertel der Unterbringungskosten für die Empfänger von Hartz IV und Grundsicherung (zuvor war es die Hälfte), aber das bringt den Gemeinden nur ca. vier Milliarden Euro ein. Damit sind drastische Einschnitte in den kommunalen Haushalten, die auch die Krankenhäuser empfindlich treffen können, kaum noch zu vermeiden.
Und nach der Pandemie?
In der Corona-Krise wurde es offensichtlich, dass unser kapitalistisches Wirtschaftssystem nicht dazu geeignet ist menschliches Leben zu schützen, sofern dies seine Abläufe behindert. Stattdessen mussten weltweit die Staaten eingreifen und es mit all seiner Macht ausbremsen. Das funktioniert aber nur für eine kurze Zeit, innerhalb derer sich massenhaft ökonomische Probleme anhäufen. Anders als seinerzeit nach dem Erdbeben von Lissabon führt die gegenwärtige Krise offenbar nicht zu Legitimationsproblemen für das herrschende Gesellschaftssystem. Niemand stellt die naheliegende Frage, warum es in unserer Gesellschaft praktisch unmöglich ist, die Produktion von nicht lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen so lange still zu stellen, wie es nötig wäre. Im Gegenteil: Je länger die Pandemie dauert, um so mehr und um so lauter werden die Stimmen, die eine Rückkehr zu den alten Mustern fordern. Es gilt allgemein als unumstritten, dass die Wirtschaft so schnell wie nur möglich wieder hochgefahren werden soll, um eine gigantische Aufholjagd um entgangene Profite und Verwertungsmöglichkeiten in Gang zu setzen.
Man sollte sich auch nicht davon täuschen lassen, dass vielleicht bald die Stunde einiger umweltfreundlicher Technologien kommt. Denn es werden absehbar nur solche sein, die sich rentabel einsetzen lassen. Überlegungen, die Gesundheitsversorgung konsequent dem Markt zu entziehen, gehen zwar einen Schritt weiter. Aber selbst wenn diese umgesetzt würden, wird dadurch die kapitalistische Form der Reichtumsproduktion nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Diese war allerdings schon vor dem coronabedingten Lockdown stark angeschlagen. Seit der Finanzkrise von 2007 und den Folgejahren liegt die weltweite Gesamtverschuldung mit 255 Billionen Dollar drei Mal so hoch wie das jährliche globale Inlandsprodukt. Faktisch beruht die gesamte Weltwirtschaft seit über vier Jahrzehnten allein auf der Grundlage des Finanzsektors und der Geldmengen, die dort täglich neu erzeugt und in Umlauf gebracht werden. Es ist gar nicht so viel reale Wertschöpfung möglich wie nötig wäre, um den Schuldenberg abzutragen, der in den diversen Papieren verzeichnet ist. Im Gegenteil führen neue Technologien ständig dazu, dass menschliche Arbeitskraft in Zukunft noch schneller überflüssig wird. Durch die damit verbundene Verbilligung der Produktionsverfahren sinkt zugleich der Wert aller Produkte, so dass diese immer weniger dazu beitragen können, die finanziellen Forderungen zu bedienen, die in all den Wertpapieren verbrieft sind. Damit liegt die Frage in der Luft, ob sich unsere Gesellschaft die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Wirtschaftsform überhaupt noch leisten kann. Wenn man die gegenwärtige Krise mit einrechnet, dann musste sie seit der Jahrtausendwende bereits drei Mal aufwändig mit Hilfe von Staatsinterventionen gerettet werden.
In der gegenwärtigen Krise mussten – abgesehen von der Digitalbranche und den Anbietern von Gütern und Diensten im Gesundheits-, Nahrungsmittel- und Transportbereich – fast alle Branchen herbe Verluste hinnehmen. Hinzu kommen Einbrüche bei den Steuereinnahmen von ca. 100 Milliarden Euro allein in diesem Jahr, und das Corona-Konjunkturpaket wird 130 Milliarden kosten. Weltweit wird es zu neuen Allzeitrekorden bei den staatlichen Schuldenständen kommen. Die darauf folgenden Bemühungen um ihre Abzahlung dürften Ideologien und konkrete Maßnahmen befeuern, die einen strammen Wachstumskurs zum Ziel haben. Zu befürchten ist dann eine unternehmensfreundliche Politik mitsamt Sozialstaatsabbau, einer weiteren Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur und einem noch härteren Leistungsregime als zuvor.
Dabei ist die kapitalistische Vergesellschaftungsform schon im Normalbetrieb eine sehr fragwürdige Veranstaltung. Mensch und Natur sind hier lediglich Ressourcen, die ohne große Umstände für die unendliche Wertschöpfung verfeuert werden. Erstere werden bei ihrer Arbeit genauso rücksichtslos verschlissen und an den Rand des Zusammenbruchs gebracht wie die Natur, die für das derzeitige Wirtschaftsregime nichts anderes darstellt als einen Rohstofflieferanten und eine Müllkippe. Es spricht leider sehr viel dafür, dass sich daran auch nach der Corona-Krise wenig ändert. Kapital kann nur fungieren, indem es sich ständig vermehrt. Diese Vermehrung unterliegt ebenso einer exponentiellen Dynamik wie das Virenwachstum. Wenn auch mit dem Unterschied, dass sich seine Reproduktionszeit in Jahren und nicht in Tagen bemisst. Selbst mit umweltfreundlichen Technologien hat die kapitalistische Wachstumsdynamik daher unvermeidlich zur Konsequenz, sich alles – wirklich alles – einzuverleiben und dabei zu zerstören. Jedenfalls sofern sie nicht vorher zusammenbricht oder, was zu wünschen wäre, aktiv von den Menschen abgeschafft wird. Es muss endlich Schluss sein mit dem ewigen Wachstum, der Natur- und Menschenausbeutung und der Zeitknappheit, Schluss mit dem „immer mehr, immer schneller und immer weiter“.