Mit “Desintegriert euch” hat Max Czollek eine umstrittene, aber gerade deshalb lesenswerte Streitschrift zur Integrationsdebatte in Deutschland geschrieben. Die Perspektive ist im deutschsprachigen Raum zwar nicht neu, in der präsentierten Konstellation jedoch überaus fruchtbar.
Czollek argumentiert vom theoretischen Standpunkt der postkolonialen Theorieansätze aus, wendet diese jedoch hauptsächlich und in erster Linie auf das Judentum an. Den Ausgang seiner Überlegung bildet daher die Feststellung, dass die in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden sich in erster Linie durch ihre Vielfalt auszeichnen. Neben aschkenasischen Juden gibt es solche mit Vorfahren aus Afrika oder Asien, neben heterosexuellen gibt es queere, neben liberalen gibt es auch linke und rechte.
Doch, so Czollek, die tatsächlich existierenden jüdischen Menschen spielen innerhalb des hiesigen politischen Diskurses keine Rolle. Sie tauchen nur auf als „der Jude“, einer von realen jüdischen Menschen sowie von ihren Wünschen und Bedürfnissen abstrahierenden Figur, deren Bedeutung vor allem in dem Bedürfnis der „Deutschen“ liege. Letztere bräuchten eine Auseinandersetzung mit der Shoa, um ein „weiter so“ im Hier und Jetzt legitimieren zu können. Insofern werden die real existierenden Jüdinnen und Juden innerhalb des erinnerungspolitischen Diskurses zum Objekt deutscher Befindlichkeiten gemacht. Um für das eigene Ich Selbstgewissheit zu erlangen, werden Jüdinnen und Juden zwangskollektiviert und unter die Befindlichkeitsansprüche einer deutschen Mehrheitsgesellschaft untergeordnet. Durch diesen Prozess werden sie ganz real und alltäglich nicht nur abgewertet, sondern zugleich aus dem Kollektiv der „Deutschen“ (die sich durch eben diesen Prozess konstituieren) ausgeschlossen. Czollek reformuliert so die Theorie des Othering in Bezug auf den deutschen Umgang mit Jüdinnen und Juden.
Die politische Debatte um die deutsche Geschichte, um die Shoah und um Ausschwitz werde stets, so Czollek, mit einem Gestus der “narzisstischen Selbstverständlichkeit” geführt, so als drehe sich die Welt stets um das Bedürfnis der Deutschen, vor der Geschichte als geläutert gelten zu können. Dahinter verberge sich eine “fortgesetzte Allmachtsphantasie”, in der Jüdinnen und Juden gerade nicht als gleichberechtigter Teil des politischen Diskurses gelten würden. Die Praxis, Jüdinnen und Juden als stereotypes Kollektiv zu sehen, wendet Cziollek dabei dezidiert auch auf vermeintlich solidarische, antisemitismuskritische Praxen an. Diese hätten deshalb an Jüdinnen und Juden nur insofern Interesse, als sie Bereichernswertes zur Gedächtnispolitik beitrügen.
Dieses Vorgehen birgt zunächst einige Potentiale in sich. So geht der Autor beispielsweise der Frage nach, wie Jüdinnen und Juden mit den durch den Nationalsozialismus erlittenen Grauen und den damit verbundenen, bis heute nachwirkenden Ohnmachtsgefühlen in politischer Selbstermächtigung umgehen. Er zeichnet die Entstehung einer jüdischen „Racheprosa“ nach, in der Jüdinnen und Juden nicht als unterworfene Opfer, sondern als handelnde, sich selbst ermächtigende und den Faschismus besiegende Subjekt dargestellt werden. Diese Darstellung ist nicht nur eindrücklich, sie knüpft zudem an anti- und postkoloniale Erzählungen wie etwa denen von Franz Fanon an. So wird deutlich, welche Bedeutung dem Narrativ eines handlungsfähigen und wehrhaften Judentums zukommt. Czollek erwähnt den Zusammenhang nicht explizit, aber von hier aus wird ein Zugang zur Erkenntnis der Bedeutung eines wehrhaften jüdischen Staates für viele Jüdinnen und Juden ermöglicht. Ein Zugang, der gerade vielen Aktivist*innen, die sich des theoretischen Werkzeugs der Critical Whiteness bedienen, zu häufig abgeht. Insofern hat der Text durchaus das Potential, Brücken zwischen unterschiedlichen Feldern innerhalb der theoretischen Debatte um Emanzipation zu schlagen.
Gleichzeitig folgt aus dem Vorgehen des Autors zugleich, dass er unterschiedliche Formen bürgerlicher Ideologiebildung insofern als austauschbar erachtet, als sie alle das Gegenüber von Unterworfenen (Juden, Schwarze, Muslime) und Unterwerfenden (Weiße, Deutsche) hervorbringen und insofern gleichbedeutend sind. Das eliminatorische Potential des Antisemitismus rückt dabei zwangsläufig in den Hintergrund. „Antisemitismus beginnt nicht erst, wenn Juden vergast werden.“ schreibt Czollek. Damit hat er recht und benennt sodann auch die vielfältigen Ersatz- und Ausweichdiskurse, die die Debatte heute nimmt.
Es ist eine Stärke des Buches, dass hier aus einer dezidiert jüdischen Perspektive die Frage von Antisemitismus und Judenfeindschaft im Deutschland des 21. Jahrhunderts aufgeworfen wird. Demgegenüber geht jedoch eine der politischen Philosophie entnommene kritische Einordnung des Antisemitismus verloren. Dass er nämlich eine verallgemeinerte Welterklärung ist, die in ihrem Kern eben nicht auf „Teilen und Herrschen“, sondern auf Vernichtung hinausläuft, schwebt als Möglichkeit zwar stets im Raum, kann in seiner analytischen Bedeutung jedoch nicht erfasst werden.
Diese Differenz besteht darin, dass die Abwertung von Jüdinnen und Juden in aller Regel durch eine Aufwertung ihrer vermeintlichen Machtpotentiale praktiziert wird. In den Verlautbarungen der Attentäter von Christchurch oder Halle etwa tauchen sowohl antisemitische als auch antimuslimische Ressentiments auf. Doch während den Menschen muslimischen Glaubens unterstellt wird, die westliche Lebensweise überfremden zu wollen, wird in „den Juden“ zumeist die Instanz gesehen, die diese Überfremdung im Hintergrund lenkt und organisiert. Gerade diese unterstellte Allmacht macht aber eine qualitative Differenz von Rassismus und Antisemitismus aus. Dass dieser Aspekt in der Streitschrift ausgeblendet bleibt, ändert aber nichts am lesens- und diskussionswürdigen Charakter des Essays.
Max Czollek: Desintegriert euch
Hanser Literaturverlag