19.06.2020 

„Fahrlässig übertrieben“? Ein Disput über Verschwörungsideologien mit Franz Schandl

Vorbemerkung:

Nachfolgender Disput entstand aus Anlass des Artikels von Franz Schandl Setting und Seuche zum politischen Umgang mit der Corona-Pandemie, den ich sehr fragwürdig fand und daher einige Fragen an den Autor richtete. Diese „Kritische Nachfrage“ wurde zusammen mit einer Antwort von Franz Schandl („Setting und Seuche III“) auf der Streifzüge-Homepage veröffentlicht. Meine daraufhin verfasste Replik („Die blinden Flecken einer strukturalistischen Kapitalismuskritik“) wollte die Streifzüge-Redaktion dann jedoch nicht mehr publizieren und brach die Debatte auf ziemlich barsche Weise ab. Ich halte dies für einen ausgesprochen respektlosen Umgang mit Diskussionen, der leider nicht für die von den Streifzügen reklamierte Offenheit spricht. Im Folgenden dokumentieren wir daher die drei Beiträge, damit der theoretische Dissens, der dem Disput zugrunde liegt, nachvollzogen werden kann.

Norbert Trenkle, 19.6.2020

Kritische Nachfrage zum Text Setting und Seuche

von Norbert Trenkle (27.5.2020)

www.streifzuege.org/2020/setting-und-seuche-ii/

Der jüngste Text von Franz Schandl zum politischen Umgang mit der Corona-Pandemie (www.streifzuege.org/2020/setting-und-seuche/) hat mich gelinde gesagt sehr befremdet. Obwohl Franz Schandl jeder Neigung zum verschwörungsideologischen Irrwitz, der sich derzeit auf „Hygienedemos“ und in den sozialen Medien austobt, vollkommen unverdächtig ist, spielt er in seinem Text doch geradezu fahrlässig mit Formulierungen, die auch dort in ähnlicher Weise permanent bemüht werden. Es geht hier nicht nur um eine vielleicht unglückliche Wortwahl oder darum, bestimmte Begriffe mit Tabu zu belegen, weil sie von gefährlichen Spinnern und rechten Taktierern angeeignet wurden. Es geht um den Duktus des Textes – oder jedenfalls großer Teile des Textes.

Dass der Appell ans nationale Wir zum Kotzen ist, ebenso wie dieser aalglatte Oberstreber Kurz, der sich sichtlich wohlfühlt in seiner Kommandoposition, geschenkt. Und dass die Regierungen die Pandemie nutzen, um so manche Kontrollmaßnahme durchzusetzen, die nachher nicht wieder zurückgenommen wird, ist kein Geheimnis. Aber indem Franz Schandl ausschließlich thematisiert, wie Angst geschürt wird, um eben diese Kontrollmaßnahmen durchzusetzen, legt er nahe, dass es eigentlich nur darum geht. Das sagt er zwar so nicht und behauptet auch nicht, dass das Virus ungefährlich sei, aber mit seinen Formulierungen deutet er zumindest an, dass dessen Gefährlichkeit maßlos übertrieben werde, und dass dies deshalb geschehe, um die Bevölkerung für die Maßnahmen des autoritären Kontrollregimes gefügig zu machen.

Da ist zum Beispiel vom „weltweiten Corona-Experiment“ die Rede, das „auch einer Überprüfung der Folgsamkeit von Bevölkerungen“ gleicht, was darauf anspielt, dass hier etwas bewusst inszeniert wird. Und es wird von der loyalen Herde gesprochen, die sich nur wehrt, wo „primitive ökonomische Gründe“ eine Rolle spielen (was übrigens nicht stimmt). Und was die Fakten zu Corona angeht, hören wir Binsenwahrheiten wie: „Schon übermorgen wird man feststellen müssen, wie wenig wir heute gewusst haben“ und „Die Schlacht ist auch ein Gemetzel der Zahlen. Und es ist gar nicht einfach zu sagen, welche real sind oder welche bloß als real realisiert werden“.

Hier tut Franz Schand so, als sei es eine subversive Einsicht, dass wir noch nichts Genaues über den Virus wissen, gerade so, als würde nicht genau darüber permanent in der Öffentlichkeit debattiert. Damit gerät aber mit seinen Formulierungen in eine gefährliche Nähe zu jener Methode des „Andeutens“ und „Hinterfragens“, die zum Kernrepertoire der diversen „Corona-Kritiker“ gehört. Hinzu kommt noch, dass er, wenn auch nur in Frageform, das Klischee bedient, es gebe gar keine freie öffentliche Debatte über das Thema: „Die Debatte, falls es überhaupt eine ist, gerät auf die Ebene von Tugend und Laster. Da gibt es Brave und Schlimme.“ Und dann kommt er auch noch mit dem Dauerbrenner daher, dass Kritiker quasi mundtot gemacht werden: „Regt sich jemand auf, wird eilends der totalitäre Hammer geschwungen, indem ein Bündnis von rechten und linken Extremisten behauptet wird“.

Merkt Franz Schandl nicht, wie er mit solchen Formulierungen und Andeutungen den Verschwörungsideologen und Querfrontlern in die Hände spielt, gerade jetzt, wo sie solchen Aufwind haben? Deren wirre Konstrukte werden mit keiner Silbe erwähnt. Im Gegenteil: Wo er davon spricht, dass es „in allen klein- und großbürgerlichen Gemütern … stets um die Schuld (geht), die irgendwer zu haben hat“, meint er nicht etwa die wahnhaften Vorstellungen über die Gates-Stiftung und dergleichen, sondern spielt darauf an, dass die krisenhaften Verwerfungen nun dem Virus in die Schuhe geschoben werden können. Das mag schon sein, geht aber zugleich auch mit der Andeutung einher, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie im Grunde deshalb durchgezogen werden, um von den wahren Ursachen der Krise abzulenken (so wie es Nykios Emmerich in seinem überaus fragwürdigen Text ganz offen tut, der ebenfalls auf der Streifzüge-Homepage erschienen ist).

Nochmal: ich weiß, dass Franz Schandl mit den wirren Ideen, die auf den diversen „Corona-Demos“ verbreitet werden, nichts am Hut hat. Aber gerade deshalb kann ich nicht nachvollziehen, wieso er dann in der gegenwärtigen Situation, in der sich eine neue Qualität von Querfront zwischen Rechten, Linken und Verschwörungsideologen jeder Art zusammenbraut, keine klare Kante zeigt. Warum schreibt er stattdessen einen solchen Text voller Unschärfen und Andeutungen, der dem politischen Wahn mehr als eine offene Flanke bietet? Als jemand, der den Streifzügen mit einer gemeinsamen Geschichte verbunden ist und auch heute noch gelegentlich dort publiziert, hätte ich darauf gerne eine Antwort.

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Setting und Seuche (III)

von Franz Schandl (6.6. 2020)

www.streifzuege.org/2020/setting-und-seuche-iii/

Vorausschicken möchte ich, dass ich meinen Text „Setting und Seuche“ in den Ausführungen von Norbert Trenkle nicht wiedererkenne.

1. Mein Text ist ein journalistischer Beitrag. Tatsächlich geht es darum, zu zeigen welche herrschenden Muster wie greifen, nicht welch obskure Wegelagerer durch die Gegend ziehen. Es geht um keine umfassende Einschätzung von Virus und Lockdown (zu einer solchen sehe ich mich gar nicht in der Lage), sondern um die Ausarbeitung bestimmter Akzente, die mir wichtig sind. Der Artikel handelt von der ideologische Verarbeitung der Krise durch das politische und mediale System (Religion, Mythos, Helden), es geht um die kulturindustriellen Dimensionierungen.

2. Ich schreibe also vorsätzlich über etwas nicht, was Trenkle mir als Defizit ankreidet. Was ich alles gemeint haben könnte, bewegt sich freilich auf der Ebene von Mutmaßungen, Marke ich „lege nahe“, „erwähne mit keiner Silbe“ bediene „Dauerbrenner“, oder „Das sagt er zwar so nicht und behauptet auch nicht, das…“ ?!? Schlampiges Zitieren finde ich auch nicht lustig. So schreibe ich etwa nicht von „primitiven ökonomischen Gründen“ sondern von „meist primitiven ökonomischen Gründen“. Ich konstruiere also keine Ausschließlichkeit. Trenkle dichtet mir aber ein „nur“ an, wo ein „meist“ steht.

3. Die Summe der Maßnahmen in Zusammenhang mit COVID-19 erlauben den Begriff „Corona-Experiment“. Auch wenn es vom System selbst gestiftet ist, dessen objektiven Gesetzen folgt und nicht ein Machwerk dubioser Elemente darstellt. Aber ein Experiment ist es trotzdem, auch wenn es keinem Masterplan entspricht und viel eher kurzfristige Entscheidungen dominieren. Diesbezüglich argumentiere ich auch, dass hier die Taktik vorherrscht, aber kaum Strategie zu finden ist. Die „Folgsamkeit der Bevölkerungen“ wird dezidiert überprüft und die Regierungen bemühen sich auch hier ganz unredlich Regie zu führen.

4. Es mag noch so viel über COVID 19 geredet werden, eigentlich wissen wir wenig, wir wissen auch nicht, ob die Infizierten nun immun sind und für wie lange, wir wissen nicht, wie viele asymptomatische Fälle es gibt und was diese bedeuten. Todesraten? Übersterblichkeit? Da agiert auch viel Zahlenmagie, ein Glasperlenspiel der besonderen Art. Was wir aber wissen ist, dass dort, wo obligate medizinische Dienste runtergefahren werden, es immer schwieriger wird, adäquate medizinischen Leistungen zu lukrieren und gesundheitliche Bedürfnisse zu decken. Das erlebte ich gerade bei meinem vor ein paar Tagen verstorbenen 86jährigen Vater. Und wenn in deutschen Fleischfabriken und österreichischen Postverteilerzentren die Infektionszahlen wieder steigen, dann nicht weil das Virus so gefährlich ist, sondern weil die Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Arbeitskräfte verheerend sind.

5. Meine Position ist ambivalent. Das Virus scheint mir, der ich durchaus Verständnis für den ersten Lockdown hatte, trotzdem maßlos übertrieben. In den nächsten Streifzügen werden dazu Beiträge erscheinen (nicht von mir), die eine relativ weite Spanne der Zugänge offenbaren.

6. Tatsächlich halte ich aber ein Fokussieren auf Verschwörungstheorien und Querfronten, denen man alles Missliebige flugs zuordnet, als verkehrt und als einen Weg in eine Sackgasse. Nicht, dass es derlei nicht gibt, will ich behaupten, wohl aber, dass es fahrlässig übertrieben wird, um diverse Einwände und Kritiken in den Geruch der Verschwörungstheorie und der Querfront zu bugsieren. Der Aufwind, den man den Obskuranten zuschreibt, ist vor allem eine mediale Finte, insbesondere um das System, die gesellschaftliche Struktur der liberalen Demokratie und ihrer Werte, an sich zu immunisieren und zu rekonsolidieren. Je mehr man sich auf den „abweichenden“ Schwachsinn konzentriert, desto unreflektierter ist und unbegriffener bleibt der herrschende Wahnsinn. Und primär geht es nach wie vor um und gegen den! – Oder?

7. Rechten und Populisten schaden solche Vorwürfe Null, der Linken generell wie speziell sehr wohl. Nutzen tut es der gesellschaftlichen Hegemonie des Kapitals. Deswegen werden solche News auch oft gestreut und derartig aufgeblasen. Diese sind jenseits der behaupteten Relevanz, aber sie erfüllten ihren Zweck, der nicht Information zeitigt sondern der Formatierung des Publikums dient. Hurtig ist man in der Dunkelkammer. Schneller als eins denkt ist eins zugeordnet. Indes wäre es notwendig, hier zu scheiden, fein zu scheiden, nicht in grobschlächtiger Manier Bekenntnisse abzuspulen. Abweichende Obskuranz ist ein Aspekt des herrschenden Wahnsinns, Ausdruck seiner Übertreibung, nützlich zur Stärkung des ideologischen Staatsapparate und des medialen Abwehrsystems.

8. Ich halte den kapitalistische-demokratischen Mainstream für gefährlicher als jede Querfront, also Kurz (samt Grüne, SPÖ und Liberale) für brisanter als die FPÖ oder gar einige versprengte Linke, die auf Seuchendemos in schlechte Gesellschaft geraten. Es ist vielmehr herrschende Methode, von herrschender Praxis abzulenken, indem immer wieder Aufmerksamkeiten zweckentsprechend umgeleitet werden. Das ist der uralte Einschnappdiskurs, für den ich nicht zu haben bin. Noch dazu fungiert er als Neuauflage der Totalitarismusformel. Die Hufeisentheorie nimmt an Fahrt auf und ramponiert jedwede Opposition. Heißa, da juchzen Liberalismus und Mitte. Ich finde das ausgesprochen unlustig und weiß nicht, warum man hier als Trittbrettfahrer mitreisen soll.

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Die blinden Flecken einer strukturalistischen Kapitalismuskritik.
Antwort auf Franz Schandls Setting und Seuche (III)

von Norbert Trenkle (16.6.2020)

1. Dass Franz Schandls Text „Setting und Seuche“ keine „umfassende Einschätzung von Virus und Lockdown“ darstellt, ist offensichtlich und wurde von mir auch nicht „als Defizit angekreidet“. Meine Nachfragen bezogen sich nur auf das, wovon der Text nach seiner eigenen Aussage handelt: der „ideologische(n) Verarbeitung der Krise durch das politische und mediale System“. Was ich kritisiert habe, war, dass Schandl in diesem Kontext Formulierungen verwendet und Andeutungen macht, die teilweise sehr nahe an das herankommen, was derzeit in der Gestalt von Verschwörungsideologien in Bezug auf die Corona-Maßnahmen im Umlauf ist. Ich habe also auf Auslassungen oder Unschärfen auf dem Feld der Ideologiekritik hingewiesen, die ich angesichts der zunehmenden gesellschaftlichen Verbreitung solch kruder und gefährlicher Ideologien für mindestens problematisch halte. Ich habe auch nicht unterstellt, dass Franz Schandl solchen Unsinn vertritt, sondern wollte wissen, wieso er sich nicht ausdrücklich dazu äußert, und stattdessen einen „Text voller Unschärfen und Andeutungen (schreibt), der dem politischen Wahn mehr als eine offene Flanke bietet“. Es ging mir also darum, dass ein ideologiekritischer Text seinem eigenen Anspruch nicht genügt, wenn er in Zeiten grassierender Verschwörungsideologien und Querfrontbestrebungen auf diese nicht einmal eingeht.

2. Nun sagt Franz Schandl zwar, er erkenne sich in meinen Ausführungen nicht wieder, liefert aber dennoch unfreiwillig eine Antwort auf meine Fragen. Demnach werde die Verbreitung von „Verschwörungstheorien und Querfronten“ und die Gefahr, die von ihnen ausgeht „fahrlässig übertrieben …, um diverse Einwände und Kritiken in den Geruch der Verschwörungstheorie und der Querfront zu bugsieren“. Eine Kritik am grassierenden ideologisch-politischen Wahn ist demnach also nicht nur überflüssig, weil dieser nur eine Randerscheinung darstellt, sie ist sogar ausdrücklich zu vermeiden, weil sie nämlich von der eigentlich wichtigen Kritik, der Kritik am „System“ ablenke: „Der Aufwind, den man den Obskuranten zuschreibt, ist vor allem eine mediale Finte, insbesondere um das System, die gesellschaftliche Struktur der liberalen Demokratie und ihrer Werte, an sich zu immunisieren und zu rekonsolidieren. Je mehr man sich auf den ‚abweichenden‘ Schwachsinn konzentriert, desto unreflektierter ist und unbegriffener bleibt der herrschende Wahnsinn“.

Man kann sich freilich darüber streiten, wie hoch die Gefahr einzuschätzen ist, die von Verschwörungsideologien heute ausgeht. Doch Franz Schandl geht es nicht um eine empirische Einschätzung, sondern um eine prinzipielle Einordnung, die sich aus seinem theoretischen Begriffsgebäude ergibt. Er vertritt eine strikt strukturtheoretische, objektivistische Kapitalismuskritik, in der das Subjekt nur ein Effekt „des Systems“ oder „der Struktur“ ist und daher auch im Grunde keiner gesonderten Aufmerksamkeit verdient. Ideologie gilt ihm im Wesentlichen als ein systemischer Funktionsmechanismus, der dazu dient „die gesellschaftliche Struktur“ zu legitimieren und zu stärken und wird durch die „ideologischen Staatsapparate“ (bekanntlich eine aus dem strukturalistischen Marxismus von Althusser stammende Kategorie) vermittelt. Selbst Verschwörungsideologien und andere Irrationalismen sind in dieser Perspektive nur ein Effekt der Struktur und erfüllen eine bestimmte, letztlich systemstabilsierende Funktion: „Abweichende Obskuranz ist ein Aspekt des herrschenden Wahnsinns, Ausdruck seiner Übertreibung, nützlich zur Stärkung der ideologischen Staatsapparate und des medialen Abwehrsystems“.

3. Aus dieser strukturalistischen Sichtweise erklärt sich auch, weshalb es Franz Schandl nicht wichtig ist, sich überhaupt mit dem Irrationalismus auseinanderzusetzen. Aus seiner Sicht handelt es sich dabei bloß um einen systemischen Binnenmechanismus, der als solcher keine wirkliche Gefahr darstellt. Gefährlich ist es im Gegenteil, sich von ihnen ablenken zu lassen. Wer also Verschwörungsideologien als eine ernste Bedrohung ansieht, weil sie eine ganz eigene irrationalistische gesellschaftliche und politische Dynamik befördern können, geht in Wirklichkeit der kapitalistischen Systemlogik auf den Leim. Wer Ideologiekritik und Subjektkritik als zentrales Moment von Kapitalismuskritik ansieht, betätigt sich im Grunde als nützlicher Idiot „des Systems“. Wer die Irrationalismen hingegen ausblendet, lässt sich durch Nebensächlichkeiten und Ablenkungsmanöver nicht irritieren, sondern dringt zum Kern der Sache vor.

Wenn Schandl also schreibt, es gehe ja „primär … nach wie vor um und gegen den“ „herrschende(n) Wahnsinn“, und das mit einer rhetorischen Frage („Oder?“) an mich unterstreicht, dann unterstellt er, dass ich seinen strukturalistischen Begriff des Kapitalismus teile. Das jedoch ist keineswegs der Fall. Wertkritik ist einmal angetreten, um die funktionalistische und verkürzte Kapitalismuskritik des traditionellen Marxismus über den Haufen zu werfen. Franz Schandl ist leider wieder genau auf diese Muster zurückgefallen. Zwar kommt er nicht mit der Klassenherrschaft daher; soviel hat er von der Wertkritik noch beibehalten. Er argumentiert also nicht damit, dass die ganzen Ideologien nur dazu dienen, die Klasse entweder zu verblenden oder zu spalten; aber an die Stelle der herrschenden Klasse ist die „gesellschaftliche Hegemonie des Kapitals“ getreten, das wie ein veritables Subjekt agiert und sogar in der Lage ist, ein Experiment durchzuführen, obwohl doch der Begriff des Experiments immer schon bewusstes Handeln, zielgerichtetes Arrangieren von Situationen voraussetzt. Wir haben es hier also offenbar zu tun mit einem Masterplan ohne Planer, mit einer „Struktur ohne Subjekt“ (Althusser).

In dieses Bild passt auch, dass Schandls Kritikbegriff durch und durch instrumentalistische Züge trägt. Da geht es dann um die Frage, was wem schadet oder nützt, während die entsprechenden Kategorien gar nicht mehr hinterfragt werden. „Rechten und Populisten schaden solche Vorwürfe Null, der Linken generell wie speziell sehr wohl. Nutzen tut es der gesellschaftlichen Hegemonie des Kapitals. Deswegen werden solche News auch oft gestreut und derartig aufgeblasen.“ Wer ist denn hier „die Linke“? Sind das Leute wie der bekannte österreichische Publizist Hannes Hofbauer, der auf Rubikon das gemeingefährliche Video von Ken Jebsen „Gates kapert Deutschland!“ verteidigt?(1) Oder sind es Leute wie Sahra Wagenknecht, die zwar in der Corona-Krise keine Verschwörungsideologien verbreitet hat, aber ansonsten einen nationalistischen Populismus mit unüberhörbaren Anklängen zum Antisemitismus vertritt?(2) Seit wann steht denn die Linke jenseits jeden Verdachts, regressive Kapitalismuskritik zu betreiben?

4. In der Wertkritik haben wir bewusst immer die Form der Vergesellschaftung in den Mittelpunkt gestellt. Das ist nicht das Gleiche wie eine Struktur oder ein System. Form meint ein bestimmtes gesellschaftliches Verhältnis der Menschen zueinander, das zwar einer eigenen, historisch-spezifischen Logik unterliegt, dabei aber Denken und Handeln nicht determiniert, sondern diesem nur ein bestimmtes Grundmuster vorgibt. Das Subjekt ist kein abgeleitetes „Strukturelement“, sondern im Gegenteil selbst, neben der Warenform, die grundlegende Beziehungsform in der kapitalistischen Gesellschaft. Warenform und Subjektform sind logisch betrachtet auf der gleichen basalen Ebene angesiedelt. Während die Subjektform die allgemeine Handlungsform in der bürgerlichen Gesellschaft darstellt, ist die Warenform die verdinglichte Darstellung dieses Handelns. Die Menschen vergesellschaften sich in privater Form, indem sie über ihre Arbeit, dargestellt in den Dingen, ihren Zusammenhang konstituieren. Das Subjekt ist daher daher nicht von „der Struktur“ determiniert und es ist auch kein bloßes Anhängsel des „automatischen Subjekts“, wie es einige wertkritische Texte in den 1990er Jahren formulierten;(3) es ist vielmehr die historisch-spezifische Handlungs- und Bewusstseinsform, die sich aus der „ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit“ ergibt.(4) Da die Menschen ihre Gesellschaftlichkeit widersprüchlich in der Form der Privatheit herstellen, haben sie ganz grundsätzlich ein äußerliches Verhältnis der Fremdheit untereinander. Sie behandeln sich wechselseitig als Objekte und konstituieren sich genau darüber als Subjekte.(5)

Dieser Subjektstatus ist aber stets prekär, da das Subjekt immer schon auf die prozessierende Objektivität des warengesellschaftlichen Zusammenhangs verwiesen bleibt, den es durch sein Handeln zugleich konstituiert. Daraus resultiert jene merkwürdige Spannung aus Allmachts- und Ohnmachtsgefühl, die permanent nach Auflösung strebt.(6) Verschwörungsideologien, deren Grundmuster immer der Antisemitismus ist, stellen nichts anderes dar, als den irrationalen Versuch, diese Spannung aufzulösen und die Handlungsfähigkeit des Subjekts gegenüber dem übermächtigen Zusammenhang fiktional wieder herzustellen. Deshalb sind Verschwörungsideologien auch nicht einfach nur ein „Aspekt des herrschenden Wahnsinns“ und „Ausdruck seiner Übertreibung“, sondern die irrationalistische Rückseite und Zuspitzung eben dieses Wahnsinn in seiner gefährlichsten Form.(7) Auch empirisch ist das ja längst offensichtlich. Muss man Franz Schandl wirklich daran erinnern, dass die (immer noch und nicht mehr lange) Weltmacht USA von einem aktive Verschwörungsideologen regiert wird, ebenso wie die regionale Großmacht Brasilien, und dass nur knapp 300 Kilometer von Wien entfernt ein Quasi-Diktator residiert, der eine ganz offene antisemitische Hetze betreibt? Es sind eben nicht nur irgendwelche Spinner auf „Hygienedemos“ mit Aluhüten auf dem Kopf, die offizielle Politik ist vielerorts längst zutiefst vom Irrationalismus durchdrungen. Politik ist eben schon lange nicht mehr bloß Exekutorin der „systemischen Gesetze“, wie es in den Streifzügen immer wieder geschrieben wird, sondern selbst aktives Moment der Krisendynamik – und zwar gerade weil sie nicht mehr rational im Sinne der „Systemlogik“ agiert.(8)

Eine strukturalistische Kapitalismuskritik, die mit den theoretischen Entwicklungen der Wertkritik aus den letzten fünfzehn bis zwanzig Jahren nichts anfangen kann, bekommt solche Entwicklungen nicht zu fassen, weil sie vollkommen außerhalb ihres kategorialen Bezugssystems liegen. Sie tendiert dazu, sie systematisch zu verharmlosen und muss daher aufpassen, dass sie nicht irgendwann selbst vom „abweichenden Obskurantismus“ vereinnahmt wird.(9)

1 Hannes Hofbauer: Auf den Punkt!, Rubikon 8.5.2020

2 Norbert Trenkle: Vorwärts in die Regression, in: Merlin Wolf (Hg): Irrwege der Kapitalismuskritik, Aschaffenburg 2017

3 So etwa Robert Kurz: Subjektlose Herrschaft, in: Krisis 13, Bad Honnef 1993

4 Norbert Trenkle: Ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit, www.krisis.org, 2019; Julian Bierwirth: Henne und Ei. Krisis 1/ 2015

5 Ernst Lohoff: Die Verzauberung der Welt, in: Krisis 29, Münster 2005

6 Robert Bösch: Zwischen Allmacht und Ohnmacht, in: Krisis 23, Bad Honnef 2000; Karl-Heinz Lewed: Schopenhauer on the Rocks, in: Krisis 29, Münster 2005

7 Karl-Heinz Lewed: Erweckungserlebnis als letzter Schrei, in: Krisis 33, Münster 2010

8 Ernst Lohoff: Die letzten Tage des Weltkapitals, Krisis 5/2016

9 Zu den Versuchen, eine strukturtheoretisch interpretierte Wertkritik von Rechts zu vereinnahmen, vgl. Norbert Trenkle, Die Kopfgeburten des Herrn Alain de Benoist, www.krisis.org, 2019