04.11.2020 

Kapitalismus als sachliche Sachherrschaft

Rezension zu Eva von Edecker: Revolution für das Leben

von Julian Bierwirth

Der mittelalterliche Philosoph Wilhelm von Ockham begründete bereits im 14. Jahrhundert die Lehre, nach der von mehreren möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen sei. Gemessen an diesem Anspruch hat die Typologie moderner Herrschaftsverhältnisse, wie sie Eva von Redecker in ihrem neuen Buch Revolution für das Leben vorschlägt, für eine wertkritische Theoriebildung einiges zu bieten.

Redecker beginnt ihr Buch mit einer Beschreibung der zeitgenössischen Herrschaftsverhältnisse, die sie in vier Bereiche unterteilt. Im ersten Schritt untersucht sie die modernen Eigentumsbeziehungen und dechiffriert diese als spezifische Form der Universalität. Modernes Eigentum zeichnet sich laut Redecker durch einen unmittelbaren und absoluten Zugriff eines herrschenden Subjekts auf das ihm unterworfene Objekt aus. Sie bezeichnet dieses spezielle Verhältnis von Mensch und Umwelt in Anlehnung an die moderne Rechtswissenschaft als „Sachherrschaft“. Das, so die Autorin, präge nicht nur unser Verhältnis zur Natur (die wir zerstören können) und den Dingen (denen wir keine Bedeutung zumessen), sondern durchaus auch das Verhältnis zu anderen Menschen.

Neben die Sachherrschaft über die Natur und die Dinge tritt die Sachherrschaft über Menschen (S. 19ff.). Und auch wenn diese formal in weiten Teilen und seit einiger Zeit überwunden zu sein scheint, so prägt sie die gegenwärtigen sozialen Verhältnisse noch immer in hohem Maße. Denn der Verlust einstmaliger Verfügungsansprüche mache sich als „Phantombesitz“ bemerkbar: Menschen beharren auf ihren (vermeintlichen) Herrschaftsansprüchen und wollen ihre Mitmenschen auf ihren Platz verweisen: Frauen in die Küche, Muslime in die Wüste, Schwarze ins Gefängnis. Die Betroffenen scheinen keine richtigen Menschen zu sein, nicht über ihr Leben bestimmen zu dürfen. Auf diese Weise verlängert sich die Wirkung der Sachherrschaft über Menschen auch über den Zeitpunkt ihrer rechtlichen Gleichstellung hinaus. Auch gegenüber den Dingen und der Natur kann sich Phantombesitz bemerkbar machen. Das ist etwa bei dem verzweifelten Versuch der Fall, auf die Realität des Klimawandels mit der Allmachtsphantasie zu reagieren, diesen mittels noch besseren Naturmanagements in die richtigen Bahnen zurück zu lenken (S. 32ff.).

Den zweiten Bereich moderner Herrschaft macht Redecker im Verwertungsdrang des Kapitals aus, den sie im Unterschied zur Sachherrschaft als sachliche Herrschaft bezeichnet. Diese sachliche Herrschaft ist bei ihr als subjektloser, anonymer Prozess gedacht, durch den sich das Kapital die Welt unterwirft und nach den Prinzipien einer sich stetig ausweitenden Verwertung organisiert (S. 42ff.). Die der unmittelbaren und absoluten Sachherrschaft der Menschen unterworfenen Dinge können auf diese Weise zu den Objekten einer Selbstzweckbewegung werden (S. 47).

Die Unterwerfung der Welt zum Zweck der Verwertung hat jedoch eine Kehrseite. Denn sie trennt nicht nur die Welt auf in einen Bereich, der der Verwertung unterworfen ist und einen, der ihr zuarbeiten soll. Sie trennt auch im unmittelbaren Produktionsprozess die stofflich-natürliche Welt auf. Ein Teil wird verwandelt in Ware und zirkuliert um die Welt. Der andere Teil bleibt als Müll und zerstörte Natur übrig (S. 49ff.). „Was die Verwertung eigentlich tut“, schreibt Redecker, sei es „Güter in Waren und Ausschuss zu spalten“ (S. 53). Dieses Verständnis von einer Auf- und Abspaltung der Welt ermöglicht den Zugriff auf ein verändertes Konzept einer den Kapitalismus durchziehenden Externalisierungslogik , wie es auch Norbert Trenkle in dem Aufsatz „Verdrängte Kosten“ im Sammelband „Shutdown“ zur Klima- und Coronakrise andeutet.

Die Verwandlung alles Weltlichen wahlweise in Selbstzweck oder in Ausschuss macht auch vor den Menschen nicht Halt. Während die einen im Hamsterrad weiterlaufen, werden die anderen aussortiert. Die damit einhergehende Angst vor dem gesellschaftlichen Aus, vor dem Verlust der Existenz, bezeichnet Redecker im Anschluss an das gleichnamige künstlerische Phänomen als horror vacui – „die panische, schwindelerregende Angst vor der Leere“ (S. 56).

Das Wissen um die potenzielle Überflüssigkeit ist der modernen Existenz inhärent. Die Menschen reagieren darauf nicht selten mit einer gedanklichen wie lebenspraktischen Elimination von allem, was sich nicht den Verhältnissen fügen will. Das ist, so Redecker, die „Auslöschung der Hoffnung auf andere, zärtlichere Verhältnisse“ (S. 60).

Als dritten Aspekt untersucht sie die Arbeit als zentrale Tätigkeitsform der kapitalistischen Moderne. Sie argumentiert, Arbeit als menschliche Tätigkeit beinhalte gewaltige Potentiale, die allerdings aufgrund ihres Unterworfenseins unter bzw. ihre Einbindung in Sachherrschaft und sachliche Herrschaft lediglich als Vorschein einer potenziell lebenswerteren Welt zu erahnen seien (S. 65ff.). Dabei gleicht ihre Kritik der Arbeit einer Theorie der Beziehungsweisen: welche Beziehungen gehen wir zueinander ein, wenn wir der „Arbeit“ nachgehen? Und welche Beziehungen gehen wir zur Welt ein, die uns durch sie doch nur dumpf und blass entgegentreten kann und darf (S. 69ff.)?

Insofern spürt Redecker im Kapitel zur Arbeit vor allem den Tätigkeiten und Beziehungen nach, die von sexistischer und rassistischer Arbeitsteilung zeugen. Sie argumentiert, dass bestimmte für die Gesamtreproduktion der sachlichen Herrschaft notwendige Momente nur durch einen extrem weitgehend durchgesetzten Zugriff auf die Arbeitskraft von Frauen, Migrant*innen und Menschen in der globalen Peripherie sichergestellt werden können. Sie nennt dieses Moment moderner Herrschaft „sachliche Sachherrschaft“ (S. 75ff.).

Im vierten Teil ihrer Beschreibung der Ausgangssituation diskutiert Redecker die potentielle Zerstörung menschlicher Lebenswelten durch die „sachliche Sachherrschaft“. Dabei besteht das tatsächliche Problem laut Redecker weder darin, dass der Planet zerstört werden könnte noch darin, dass auf eine heile Gegenwart eine bedrohliche Zukunft folgen würde. Vielmehr bestehe das Zerstörungspotential der herrschenden Ordnung in einer Zerstörung der menschlichen Lebenswelten; und das durch einen Prozess, der nicht erst in Zukunft beginne, sondern bereits seit langem ablaufe (S. 107ff.).

Insofern zeichnet sich der real existierende Kapitalismus durch die Zerstörung von Leben aus. Und in diesem Sinne fasst Redecker zentrale soziale Bewegungen der Gegenwart als Reaktion auf die Zerstörung dieses Lebens, als Revolution(en) für das Leben. Sie fasst dabei ,Leben‘ in einem sehr weitgehenden Sinne. Black Lives Matter, die Klimabewegung, Ni Una Menos und viele andere fallen für sie ganz selbstverständlich unter die Kategorie „Revolution für das Leben“. Denn, so Redecker, sie wenden sich gegen die Zurichtung menschlicher Lebenschancen unter dem Diktat der sachlichen und der Sachherrschaft (S. 147ff.).

Auch der Begriff ,Revolution‘ erhält dabei einen Bedeutungswandel. Er zielt weniger darauf ab, dass eine vollständige Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse bereits in den Protesten intendiert ist, sondern vielmehr darauf, dass die Bewegungen im Kern die Prinzipien von Sachherrschaft und sachlicher Vermittlung hinterfragen. Auch die Französische Revolution, so bemerkte die Autorin im vorhergehenden Werk über Revolutionen, habe im Wesentlichen nicht während des Sturms auf die Bastille stattgefunden, sondern bereits zuvor. Neue Beziehungsformen, so ihre implizite Annahme, zeigen sich bereits vor der Durchsetzung einer neuen Vergesellschaftungsweise.

In den Protesten der Klimagerechtigkeitsbewegung, wie sie sich an Beispielen wie den Protesten von Ende Gelände gegen die Braunkohlebagger etwa am Hambacher Forst zeigen, spiegele sich keineswegs die Annahme, dass diese Bagger als Wunderwerke der Technik nicht länger genutzt werden dürften (Sie könnten für die Behebung der Schäden, die der Kapitalismus dem Planeten zugefügt hat, durchaus sinnvoll eingesetzt werden) als vielmehr die Erkenntnis, dass der Sachherrschaft über die Natur ein Ende gesetzt werden müsse (S. 237ff.).

Die Frage nach den Umrissen einer postkapitalistischen Ökonomie diskutiert Redecker weniger konkret-technisch als vielmehr auf einer allgemein philosophischen Ebene. Auf der Suche nach einer Ökonomie jenseits von Markt und Plan, so die Autorin, sei die eigentliche Herausforderung, eine Vergesellschaftung jenseits von Wirtschaft zu etablieren. Denn nicht nur die Marktwirtschaft, auch die realsozialistischen Planökonomien seien der eigentumslogischen Sachherrschaft verpflichtet geblieben (S. 250ff.).

Auch faszinierende kulturelle Praktiken wie der Gabentausch wiesen, als gesamtgesellschaftliches Phänomen gedacht, einen potenziellen Knackpunkt auf. Die implizite Verpflichtung zu Gegengabe, wie sie viele vom anstehenden christlichen Weihnachtsfest kennen, nehme dem Geschenk nicht selten seinen Glanz. Redecker skizziert die Kunst, Geschenke auf eine Weise zu überreichen, dass sie nicht als Geschenk erscheinen, und diskutiert das Bedürfnis der Abstandsnahme. Dass die Geld- und Warenökonomie soziale Beziehungen als unpersönliche Beziehungen konzipiere, sei nicht nur ihre große Schwäche, sondern zugleich eine Stärke. Die Anonymisierung ermögliche Teilhabe an Gesellschaft ohne das Eingehen direkter sozialer Beziehungen. Denn das „kalte Nehmen“ sei für Menschen oftmals ebenso schwierig wie das „warme Geben“: „Es scheint uns unmöglich, dass Dinge umsonst sein sollen“ (S. 256).

Wenn eine neue Ethik des Gebens und Nehmens eine angemessene Reaktion auf die sachliche Herrschaft des Kapital wäre, so ruft auch die mit der Logik des Eigentums verbundene Sachherrschaft nach weitgehenden Verschiebungen. Am Beispiel der Proteste indigener Gemeinschaften in Nordamerika macht Redecker deutlich, dass die Aneignungen des Landes durch die weißen Siedler*innen nicht in erster Linie durch eine Verschiebung von Eigentumstiteln (von den indigenen hin zu den weißen Gemeinschaften) gekennzeichnet gewesen waren. Vielmehr ist durch sie überhaupt erst Eigentum im Sinne einer absoluten privaten Verfügungsgewalt geschaffen worden. Vor die Frage gestellt, was es bedeutet, wenn das Land nicht einfach allen gehört, sondern schlicht aufhört, Besitzobjekt zu sein, werden wir noch einmal ganz neu über unser Verhältnis zur Welt nachdenken müssen.

Bei ihrem Parforceritt durch die gegenwärtigen Kämpfe emanzipatorischer Kräfte wirft sie einen Blick auf die praktischen Implikationen, die die Infragestellung der sachlichen ebenso wie der Sachherrschaft für die entsprechenden Bewegungen hat. Aus diesen, so die Annahme der Autorin, lasse sich viel für weitere Kämpfe gegen das doppelte Sachherrschaftsregime, aber auch für unsere Vorstellung einer befreiten Gesellschaft lernen.

Mensch mag sich an einigem stoßen, was Redecker in ihrem Buch thematisiert. Die gelegentlich auftretende Unschärfe, sobald es um die Gedankenwelt der Kritik der Politischen Ökonomie geht (was sie unter Arbeit oder Eigentum versteht, wird begrifflich nicht geklärt) oder die oft diffus bleibende Verwendung von Begriffen (wie etwa dem des „Phantombesitzes“) lässt in der Interpretation des einen oder anderen Gedankens Spielräume offen. Mensch mag sogar die Wortschöpfungen und den Drang der Autorin zum metaphorisieren bisweilen anstrengend finden. Doch sie helfen hier nicht nur, eine pointierte Kritik der herrschenden Verhältnisse vorzulegen, sie ermöglichen es ihr zudem ein „revolutionäres Begehren“ (Bini Adamczak) zu wecken. Was bleibt, ist somit eine anregende Lektüre für unsere Versuche, die Welt zu verstehen und den Widerstand zugleich in ihr als auch gegen sie zu organisieren.

Eva von Redecker
Revolution für das Leben
Philosophie neuer Protestformen
S. Fischer Verlag
316 Seiten