Warum die kapitalistische Reichtumsproduktion zur Disposition steht
von Norbert Trenkle
Zuerst veröffentlicht auf Telepolis
Vorbemerkung: Eine erweiterte Fassung des vorliegenden Textes erscheint im Herbst im Buch Shutdown. Klimacrash, Corona-Krise und die notwendige Aufhebung des Kapitalismus (Unrast Verlag), das der Autor zusammen mit Ernst Lohoff herausgibt.
Es gehört zu den merkwürdigen Nebenwirkungen der Corona-Krise, dass diese schon in wenigen Wochen mehr zur Verbesserung des Weltklimas beigetragen hat als die gesamte Klimapolitik der letzten Jahre. Weil der Autoverkehr in den großen Städten um bis zu 80 Prozent zurückgegangen, der Flugverkehr extrem reduziert worden ist und viele Produktionsstätten stillstehen, rechnet das Global Carbon Project damit, dass die CO2-Emissionen im Jahr 2020 um rund 5 Prozent sinken dürften. Und wie es scheint, könnte es sogar der deutschen Regierung trotz ihrer zahnlosen klimapolitischen Maßnahmen gelingen, das Ziel einer Reduktion des Treibhausgas-Ausstoßes um 40 Prozent gegenüber 1990 doch noch zu erreichen (Süddeutsche Zeitung, 24.3.2020).
Kurzzeitige Bremsung
Allerdings gibt es keinerlei Anlass zur Hoffnung, die Corona-Krise könne dauerhaft zu einer Reduktion der umweltschädlichen Emissionen und zu einer Begrenzung der Erderwärmung führen. Denn der vorübergehende Stopp der wirtschaftlichen Aktivitäten in großen Teilen der Welt hat ja rein gar nichts an der Grundlogik der kapitalistischen Produktionsweise geändert, die von dem Selbstzweck zur endlosen Vermehrung des abstrakten Reichtums, dargestellt im Geld, angetrieben wird. Der aus diesem Selbstzweck resultierende Wachstumszwang wird durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie keinesfalls ausgesetzt, sondern nur kurzzeitig abgebremst. Gleichzeitig tun die Regierungen und Zentralbanken alles dafür, um dieses Bremsmanöver abzumildern und die ökonomische Dynamik wenigstens prekär in Gang zu halten und nach dem Ende der Eindämmungsmaßnahmen wieder so schnell wie möglich auf Touren zu bringen. Zwar ist kaum anzunehmen, dass dies auch tatsächlich gelingen wird. Denn auch wenn die gerade beginnende große Weltwirtschaftskrise von den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ausgelöst wurde, so hat die Wucht, die sie voraussichtlich entwickeln wird, tieferliegende, strukturelle Gründe, die nicht durch Konjunkturpakete und Geldspritzen behoben werden können.
Zynischerweise könnte man nun argumentieren, eine Weltwirtschaftskrise sei gut für das Klima, weil durch den Rückgang der wirtschaftlichen Aktivitäten weniger Treibhausgase und andere schädliche Substanzen freigesetzt würden. Alle Statistiken über die Krisen der vergangenen Jahrzehnte – nicht zuletzt die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/2009 – bestätigen diesen Sachverhalt. Doch diese ökologische Entlastung ist nur die Kehrseite einer massenhaften Verarmung und Verelendung von großen Teilen der Bevölkerung. Denn da in der kapitalistischen Gesellschaft nun einmal tendenziell alle gesellschaftlichen Beziehungen die Warenform annehmen und daher der Zugang zu den Dingen ganz überwiegend über Geld erfolgt, führt eine Unterbrechung der Ware-Geld-Flüsse notwendigerweise zu einem mehr oder weniger großen Zusammenbruch der gesellschaftlichen Versorgung: Unternehmen bankrottieren, Arbeitskräfte werden entlassen, und weil die Einkommensquellen versiegen, können sich Millionen Menschen nicht einmal mehr das Nötigste kaufen. Dabei wird selbstverständlich nicht danach gefragt, ob nun die betreffenden Produkte und Dienstleistungen gesellschaftlich notwendig sind oder nicht, wie ihre Ökobilanz aussieht und unter welchen Bedingungen sie produziert werden; denn diese Kriterien spielen in der Welt der Warenproduktion keine Rolle. Vielmehr zählt, ob die produzierten Dinge sich auf dem Markt absetzen lassen und dabei einen Gewinn abwerfen.
Der stoffliche Reichtum
Deshalb werden in Krisen selbstverständlich auch weiterhin Autos produziert und Kohlekraftwerke betrieben, Flugreisen unternommen und Luxusappartements gebaut, während viele Menschen sich nicht einmal Lebensmittel kaufen können und Krankenhäuser geschlossen werden, weil sie sich nicht mehr „rentieren“, oder die öffentlichen Finanzmittel gestrichen werden. In den Krisen offenbart sich besonders deutlich, dass unter kapitalistischen Bedingungen nur der abstrakte Reichtum, also der in Geldeinheiten ausgedrückte Reichtum, zählt; dagegen ist der stoffliche Reichtum, also der Reichtum an nützlichen Dingen und Versorgungsangeboten, immer nur untergeordnetes Mittel zum Zweck der Kapitalakkumulation und wird daher geopfert, wenn dieser Zweck nicht mehr erfüllt werden kann.
In der Corona-Krise ist nun zwar in den meisten Ländern der Staat eingesprungen, um die öffentliche Versorgung einigermaßen sicherzustellen und den sofortigen Zusammenbruch der Unternehmen aufgrund von Ausgangssperren und Lahmlegung der Wirtschaft zu vermeiden. Aber so sehr die Notfallmaßnahmen überdeutlich vor Augen führen, dass der Markt eben keineswegs alles regeln kann, wie es die neoliberale Ideologie stets propagiert hat, so sehr bleibt doch der staatliche Zugriff auf die gesellschaftliche Reichtumsproduktion begrenzt.
Der Staat
Zwar repräsentiert der Staat in der kapitalistischen Gesellschaft das Allgemeine und ist dafür verantwortlich, den gesellschaftlichen Zusammenhang gegen die ihm innewohnende zentrifugale Tendenz aufrechtzuerhalten. Ohne den Staat würde die kapitalistische Gesellschaft innerhalb kürzester Zeit auseinanderfliegen, denn sie ist auf ganz grundlegende Weise widersprüchlich konstituiert. Allgemeine Warenproduktion bedeutet, dass die Menschen ihren gesellschaftlichen Zusammenhang darüber herstellen, dass sie in privater Form Dinge für anonyme Andere produzieren. Sie verhalten sich also gesellschaftlich, indem sie ihre privaten, partikularen Interessen verfolgen, oder anders gesagt: Sie sind auf ungesellschaftliche Weise gesellschaftlich.1 Die aus diesem grundlegenden Widerspruch resultierende Dynamik gegensätzlicher Partikularinteressen würde den gesellschaftlichen Zusammenhang sehr schnell sprengen, gäbe es nicht eine abgesonderte Instanz, die genau das verhindert und den Rahmen für die allgemeine Betätigung der Warenproduzenten gewährleistet. Dennoch steht der Staat keinesfalls über der Logik der abstrakten Reichtumsproduktion, sondern ist gleichzeitig eine ihrer wesentlichen Voraussetzungen und bleibt auf sie angewiesen. Es gehört zu seinen ureigensten Aufgaben, die Dynamik der Warenproduktion und der Kapitalakkumulation in Gang zu halten. Gelingt dies nicht, verliert er erstens seine Legitimation in der Bevölkerung und büßt zweitens auch seine Handlungsfähigkeit ein, weil er selbst seine Aufgaben nur erfüllen kann, wenn er über die nötigen Geldmittel verfügt.
Daher kann der Staat zwar in das Marktgeschehen eingreifen und es sogar vorübergehend herunterfahren, wenn das einem allgemeinen Interesse dient, wie im Fall einer Pandemie, aber er muss auch alles dafür tun, die Kapitalakkumulation wieder anzukurbeln. Und diesem Ziel werden dann in der Regel alle anderen Interessen und Ziele untergeordnet.
Vorschriften aus dem Weg räumen
Es ist deshalb auch absehbar, dass nach der akuten Phase der Corona-Krise die ohnehin schon halbgaren klimapolitischen Maßnahmen der letzten Jahre allesamt unter Beschuss geraten werden. Schon jetzt fordern Wirtschaftsvertreter, man müsse nun Hindernisse wie Umweltschutzvorschriften aus dem Weg räumen, damit die Konjunktur nach dem Lockdown wieder schnell auf Touren komme. So üben etwa die großen deutschen Autokonzerne Druck auf die EU-Kommission aus, damit sie die ab 2020 gültigen CO2-Grenzwerte wieder außer Kraft setzt. Und der niedersächsische Ministerpräsident fordert gar eine Abwrackprämie für Autos, natürlich nur um eine Umstellung auf „umweltfreundliche Antriebe“ zu fördern, ganz so, als sei der Autoverkehr nicht an sich eines der größten Umweltprobleme überhaupt. Dabei wird es nicht bleiben. So wie die Ideologen der Marktwirtschaft jetzt die Folgen der Corona-Pandemie gegen die wirtschaftlichen Schäden des Lockdown aufrechnen, werden sie dann argumentieren, dass nicht nur die Erderwärmung eine Bedrohung für die Menschheit darstelle, sondern auch eine lahmende Wirtschaft, weil dadurch Millionen von Menschen ihre Existenzgrundlage verlören. Damit geben sie zwar im Grunde zu, dass der Kapitalismus die Menschheit in eine fatale Abhängigkeit von seiner destruktiven Akkumulationslogik bringt und vor die Alternative stellt, entweder aufgrund der ökologischen Zerstörung oder aus wirtschaftlicher Not zu sterben. Aber dennoch wird dieses Argument großen Anklang bei denjenigen finden, die angesichts der Krise um ihre Existenz bangen und keine Hoffnung auf eine andere Form von Gesellschaft hegen.
Soll die „Klimafrage“ also nicht von der politischen Tagesordnung verdrängt werden, muss sie in einer Weise reformuliert werden, die der neuen gesellschaftlichen Krisensituation adäquat ist. Das ist nicht so schwer, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen mag. Maßnahmen zur Rettung des Klimas und zum Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen stehen nur dann im Widerspruch zur Sicherung der menschlichen Existenz und der gesellschaftlichen Versorgung, wenn die kapitalistische Form der Reichtumsproduktion als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Denn da prinzipiell alle Menschen in der heutigen Gesellschaft von der Produktion des abstrakten Reichtums abhängen, um zu überleben, befinden sie sich in einer Art Geiselhaft. Sie müssen darauf hoffen, dass die Selbstzweckbewegung der endlosen Akkumulation von Kapital in Gang bleibt, weil sie nur so ihre Arbeitskraft oder ihre Waren verkaufen können, auch wenn sie wissen, dass damit die bereits stattfindende ökologische Katastrophe noch weiter vorangetrieben wird.2
Stellen wir jedoch diese Form der Reichtumsproduktion in Frage, löst sich dieser Widerspruch auf. Denn wenn sich die gesellschaftliche Produktion am stofflichen Reichtum orientiert, also das Ziel die Herstellung nützlicher Dinge zur Befriedigung der konkret-sinnlichen Bedürfnisse aller Menschen ist, dann steht eine ökologisch nachhaltige Ausrichtung der Gesellschaft nicht mehr im Gegensatz zu einer guten materiellen Absicherung des Lebens, sondern fällt mit dieser zusammen. Es wäre dann beispielsweise äußerst unvernünftig, klimaschädliche Gase in die Atmosphäre zu pumpen, massenhaft Wälder abzuholzen oder das Grundwasser zu verseuchen, wenn allgemein bekannt ist, dass dadurch die menschlichen Lebensgrundlagen zerstört werden. Und es wäre absurd, die Produktion von umwelt- und gesundheitsschädlichen Dingen zu befürworten, nur weil das soundsovielen Menschen die Möglichkeit verschafft, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und ein Einkommen zu erzielen. Unter kapitalistischen Bedingungen ist aber genau das „vernünftig“, weil das gesamte gesellschaftliche Leben auf der Produktion des abstrakten Reichtums beruht.
Es kommt also darauf an, diese Art der „Vernunft“ und die ihr zugrundeliegende Produktions- und Lebensweise in den Mittelpunkt der Kritik zu rücken. Damit ändert sich natürlich auch die politische Orientierung.
Verfechter des freien Markts: Zunächst einmal in einer schwachen Position
Die „Klimafrage“ ordnet sich dann in ein ganzes Bündel von essentiellen „Fragen“ ein, die sich allesamt durch einer radikale Transformation der Reichtumsproduktion beantworten lassen, genauer gesagt, durch eine konsequente Ausrichtung der gesellschaftlichen Reichtumsproduktion an konkret-stofflichen Kriterien und am Ziel eines guten Lebens für Alle. Natürlich wird eine solche politische Zielsetzung heftige Konflikte provozieren; denn sie bedeutet schließlich eine grundsätzliche Infragestellung der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise, die weit mehr ist als ein „Wirtschaftssystem“, sondern tief eingelassen ist in die gesellschaftlichen Beziehungen und Subjektivitäten. Dennoch hat auch in dieser Hinsicht die Corona-Krise in gewisser Weise ihren Teil dazu beigetragen, so manche der bisher geltenden Selbstverständlichkeiten zu erschüttern. Wenn Mietzahlungen vorübergehend eingestellt werden können, wenn im öffentlichen Nahverkehr auf Fahrscheinkontrollen verzichtet wird, wenn überall gefordert wird, die Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitssystems wieder zurückzunehmen, und wenn die Regierungen Unternehmen verstaatlichen wollen, um die öffentliche Versorgung zu sichern, dann wird damit die Logik des abstrakten Reichtums durchbrochen und der stoffliche Reichtum in den Mittelpunkt gestellt. Zwar handelte es sich dabei nur um Notmaßnahmen mit vorübergehendem Charakter, die der Staat in der Wahrnehmung seiner Rolle als Bewahrer des Allgemeinen ausfüllt; trotzdem stellte es einen tiefgreifenden Bruch mit der neoliberalen Ideologie dar, die schon im Anschluss an die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 massiv unter Druck geraten war.
Deshalb wird jeder Versuch, nach der akuten Phase der Krise wieder zum politischen Status quo ante zurückzukehren, heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Frage hervorrufen, in welcher Weise die allgemeine Versorgung der Gesellschaft organisiert und gewährleistet werden solle. Auf der medialen Ebene hat dieser Streit ja schon begonnen. Dabei finden sich die Verfechter des freien Markts zunächst einmal in einer schwachen Position wieder, weil die Corona-Krise gnadenlos offenlegt, dass die Privatisierung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens und anderer Sektoren der öffentlichen Versorgung katastrophale Konsequenzen für die Gesellschaft hat. Angesichts dessen scheint eine breit angelegte Verstaatlichung bzw. Wieder-Verstaatlichung dieser Sektoren die naheliegende Lösung zu sein. Im linken Diskurs werden vor diesem Hintergrund die Stimmen lauter, die für eine Erneuerung des keynesianischen Sozial- und Regulationsstaates oder sogar für den Staatssozialismus plädieren, und im grünen Spektrum macht man sich Hoffnungen darauf, den Kapitalismus durch staatliche Vorgaben und marktwirtschaftliche Anreize sozial-ökologisch zu reformieren.
Dabei wird jedoch übersehen, dass der Staat, schon ganz grundsätzlich betrachtet, in seinem Handeln und in seinem Zugriff auf den stofflichen Reichtum immer auf das System der abstrakten Reichtumsproduktion verwiesen bleibt. Innerhalb dessen hat er zwar durchaus Handlungsspielräume im Hinblick darauf, wie er die öffentlichen Aufgaben wahrnimmt, inwieweit soziale Ungleichheiten abgemildert werden und in welcher Weise er auf die Produktions- und Arbeitsbedingungen Einfluss nimmt. Und natürlich ist es politisch richtig, diese Spielräume zu nutzen, um soziale und ökologische Verbesserungen durchzusetzen, soweit das eben geht. Aber dennoch kann der Staat die grundlegende, selbstzweckhafte Dynamik der Produktion abstrakten Reichtums nicht ausschalten, sondern immer nur deren schlimmste Folgen irgendwie reparieren oder übertünchen.
Handlungsspielräume der Staaten
Hinzu kommt noch, dass die große Zeit des staatlich regulierten und sozial abgefederten Kapitalismus, der auf der Massenarbeit im Industriesektor und einer starken Binnenwirtschaft beruhte, schon lange vorbei ist und sich auch nicht wieder zurückholen lässt. In der Epoche der Finanzialisierung und Globalisierung sind aber die Handlungsspielräume der Staaten immer enger geworden, weil sie alles dafür tun müssen, um das eigene Territorium als Standort für das Kapital attraktiv zu halten und vor allem den Zufluss von fiktivem Kapital zu sichern.3
Denn seit durch die Dritte industrielle Revolution immer mehr Arbeitskraft in der Warenproduktion „überflüssig“ gemacht wurde, hat sich die Akkumulation von abstraktem Reichtum in die Finanzmärkte verlagert und dort eine atemberaubende Dynamik entwickelt, die auf dem Vorgriff auf zukünftigen Wert in der Gestalt von Finanztiteln beruht (fiktives Kapital). Deshalb bleibt den Staaten gar nichts anderes übrig, als in den wiederkehrenden und mit jedem Mal schärferen Finanzkrisen alles zu tun „was nötig ist“ (Mario Draghi), um das Finanz- und Bankensystem vor dem Zusammenbruch zu retten. Das wird auch in der Corona-Krise nicht anders sein. Denn zwar weicht der Verlauf dieser Krise von den Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte insofern ab, als sie von dem politisch verfügten Herunterfahren der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aktivitäten ausgelöst worden ist und sich daher auch direkt auf die „Realwirtschaft“ auswirkt. Trotzdem hat sie sogleich auch auf die ohnehin schon überreizten Finanzmärkte übergegriffen und dort gewaltige Erschütterungen ausgelöst, deren Konsequenzen noch nicht absehbar sind.
Es ist daher leicht vorherzusagen, dass die Prioritäten der Regierungen und Zentralbanken sehr bald wieder auf der Rettung des Banken- und Finanzsystems liegen werden. Denn wenn dort die Lawine ungedeckter Zukunftsversprechen abgeht, wird sie auch große Teile der „Realwirtschaft“ und öffentlichen Versorgung mit sich in den Abgrund reißen. Im Unterschied zu 2008/2009 sind aber diesmal die geldpolitischen Instrumente der Zentralbanken schon sehr weitgehend ausgereizt, und außerdem ist auch auf weltpolitischer Ebene nicht zu erwarten, dass sich die großen Wirtschaftsmächte auf ein gemeinsames Vorgehen einigen werden. Vielmehr zeichnet sich ab, dass jede von ihnen ihre eigenen Interessen auf Kosten der anderen verfolgt und der ohnehin schon existierende Trend zur nationalistischen und regionalen Abschottung eine zusätzliche Dynamik gewinnt.4 Die deutsche Regierung macht das gerade vor, indem sie mit ihrer Ablehnung der Eurobonds den Sprengsatz an die EU legt, was nicht nur infam und schäbig ist, sondern auch noch borniert, weil die Bundesrepublik objektiv am meisten von der europäischen Einheit und dem Euro profitiert. Doch der Nationalismus folgt seiner eigenen, gefährlichen Logik, die keinesfalls funktional im ökonomischen Sinne sein muss.
Autoritäre Krisen- und Notstandsverwaltung und sozialer Widerstand
Die Rückkehr des Staates wird daher unter ganz anderen Vorzeichen stehen als in den hoffnungsfrohen linken und grünen Blaupausen. Zwar ist durchaus damit zu rechnen, dass unter dem Druck der Öffentlichkeit die Notverstaatlichung vieler Sektoren beibehalten oder sogar noch ausgeweitet wird. Aber zugleich werden die Regierungen unter Verweis auf die Kosten des Krisenmanagements eine rigorose Austeritätspolitik fahren und diese durch den nationalistischen Appell an die Opferbereitschaft der Bevölkerung sowie durch verschärfte Kontrollmaßnahmen, wie sie ja gerade im großen Stile erprobt werden, flankieren. Denn es ist nicht nur die Marktlogik, die sich angesichts der anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben kompromittiert, sondern das gesamte Bezugssystem der Produktion abstrakten Reichtums gerät aus den Fugen. Deshalb reduziert sich das staatliche Handeln in immer mehr Ländern zunehmend auf die autoritäre Krisen- und Notstandsverwaltung. Denn je weniger der Staat seine Legitimation als Hüter des Allgemeinen durch Sicherung der öffentlichen Versorgung sichern kann, desto deutlicher tritt sein herrschaftlicher Kern hervor.
Um gegen diese bedrohliche Entwicklung ankämpfen zu können, muss es gelingen, den sozialen und politischen Widerstand, den sie hervorrufen wird oder jetzt schon hervorruft, zu bündeln. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn die vielfältigen Kämpfe gegen die verschärfte Austeritätspolitik und die staatliche Kontrollpolitik, gegen die Zerstörung der Naturgrundlagen und den Autoverkehr, gegen die Unbezahlbarkeit des Wohnen und die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse etc. verwandeln sich innerhalb des Systems der abstrakten Reichtumsproduktion sehr schnell in partikulare Interessenkämpfe, die dann auch politisch gegeneinander ausgespielt werden können; so etwa wenn die Klimabewegung eine möglichst hohe CO2-Steuer fordert, die gerade die ärmeren Teile der Bevölkerung stärker belasten würde. Deshalb muss deutlich gemacht werden, dass diese Kämpfe und Konflikte, so unterschiedlich sie auf den ersten Blick auch sein mögen, immer an einem Punkt negativ zusammenlaufen: sie alle sind ein Effekt der verselbständigten und destruktiven Logik der Produktion abstrakten Reichtums und der ihr zugrundeliegenden, widersprüchlichen Form ungesellschaftlicher Gesellschaftlichkeit.
Erst wenn diese negative Gemeinsamkeit bewusst wird, können sich die unterschiedlichen Kämpfe in eine gemeinsame Kraft verwandeln, welche die kapitalistische Produktions- und Lebensweise grundsätzlich in Frage stellt. Darüber hinaus bedarf es jedoch auch einer neuen Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation, die sich allerdings in groben Zügen ex negativo aus der Kritik am System abstrakten Reichtums ergibt.
Selbstorganisation
Es kann selbstverständlich nicht darum gehen, die alte Idee einer Verstaatlichung des gesellschaftlichen Lebens zu recyclen; denn abgesehen davon, dass der Staat immer nur die andere Seite des Marktes war, ist seine Rückkehr heute nur noch in der Gestalt des Krisen-Autoritarismus, des Nationalismus und der politischen Regression denkbar. Was vielmehr ansteht, ist die umfassende Vergesellschaftung der Produktion und der öffentlichen Versorgung im Rahmen einer allgemeinen und freien, gesellschaftlichen Selbstorganisation jenseits von Warenproduktion und staatlicher Verwaltungs- und Herrschaftslogik. Natürlich geht das nicht auf einen Schlag, sondern nur im Zuge eines längeren gesellschaftlichen Transformationsprozesses. Was das im Einzelnen bedeutet, lässt sich heute nicht vorhersagen, klar ist aber, dass dieser Prozess gekennzeichnet sein wird von konfliktreichen politischen Auseinandersetzungen um die Ressourcen und Potentiale der Reichtumsproduktion sowie um die Rahmenbedingungen für die Entwicklung von neuen Formen gesellschaftlicher Kooperation, Kommunikation und Planung. Denn die gesellschaftliche Alternative wächst nicht aus irgendwelche Nischen hervor, wie es in manchen Alternativkonzepten imaginiert wird. Sie kann sich nur im Kampf um das Feld des gesellschaftlich Allgemeinen konstituieren. Es gilt, dieses Feld neu zu erfinden; nicht als andere, herrschaftliche Seite einer Reichtumsproduktion, die sich verselbstständigt und ihren Akteuren als „zweite Natur“ gegenübertritt; sondern als Teil einer Gesellschaft, in der die Menschen bewusst über ihre Verhältnisse verfügen.
1 Norbert Trenkle: Ungesellschaftliche Gesellschaftlichkeit, www.krisis.org 2019
2 Norbert Trenkle: Lizenz zum Klimakillen, Streifzüge 77, Wien 2019
3 Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle: Die große Entwertung, Münster 2012; Norbert Trenkle: Workout. Die Krise der Arveit und die Grenzen des Kapitalismus, www.krisis.org 2018
4 Ernst Lohoff: Die letzten Tage des Weltkapitals. Kapitalakkumulation und Politik im Zeitalter des fiktiven Kapitals, Krisis 5/2016