Marx und die Kritik des Religionismus
Ernst Lohoff
Dieser Text beruht auf einem Zoom-Vortrag vom 31. Mai 2021, der hier einsehbar ist: https://www.youtube.com/watch?v=6SNtfSUXi4o (ab der Zeitmarke 24:25).
1.
Im Who is Who der Religionskritik nimmt Karl Marx einen der Spitzenplätze ein. Kein Überblicksbeitrag zum Thema, der ihn nicht neben Feuerbach und Freud als einen der wichtigsten Vordenker dieser Strömung nennen würde. Wenn es irgendeine Aussage eines religionskritischen Autors zum geflügelten Wort gebracht hat, dann Marxens Diktum von der Religion als dem „Opium des Volkes“. Umso bemerkenswerter ist die Art und Weise, wie es Marx geschafft hat, Aufnahme in den Kreis der religionskritischen Klassiker zu finden. Man nehme zum Vergleich Ludwig Feuerbach, dessen Bild in der religionskritischen Ahnengalerie unmittelbar neben dem von Marx hängt. Feuerbach hatte umfangreiche religionskritische Studien betrieben und auf dem Höhepunkt seiner Schaffenskraft sein Hauptwerk der Kritik der Religion gewidmet. Das Wesen des Christentums, ein mehrhundertseitiges Buch, machte unmittelbar nach seinem Erscheinen 1841 Furore. Marx verfasste die Texte, denen er seinen Ruf als Religionskritiker par excellence verdankt, als ganz junger Mann, und soweit sie überhaupt zu seinen Lebzeiten publiziert wurden, fanden sie kaum Beachtung. Hätte Marx nicht später als Urheber der Kritik der politischen Ökonomie und als Vordenker der Arbeiterbewegung theoretische Marksteine gesetzt, sein Name hätte niemals Eingang in die Liste der Religionskritiker gefunden.
Noch bemerkenswerter ist aber die inhaltliche Ausrichtung der einschlägigen Texte. Dem „Religionskritiker” Marx ging es nicht darum, die religionskritische Debatte weiterzutreiben und sich intensiv mit der Religion auseinanderzusetzen; die eigentliche Intention seiner religionskritischen Schriften bestand darin, einen Wechsel des Forschungs- und Kritikgegenstandes einzuklagen und zu begründen. An die Stelle der Kritik der Religion sollte die Kritik der Gesellschaft treten, die so etwas wie religiöses Bewusstsein hervorbringt. An diesem neuen Gegenstand, nicht an der Religion, arbeitete sich Marx dann in seinem weiteren Leben ab. Schon der erste Halbsatz der ersten religionskritischen Schrift zeigt die Marschrichtung an und ist für eine spätere Ikone der Religionskritik denkbar originell. Marx schreibt: „Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt.” (MEW 1, S. 378) Wäre Einstein davon ausgegangen, dass die klassische Physik die physikalischen Zusammenhänge bereits im Wesentlichen erklären könne, wäre er heute sicherlich nicht der bekannteste Physiker des 20. Jahrhunderts. Hätte Darwin die überkommenen Vorstellungen zur Entstehung der Arten als Endstation des Denkens akzeptiert, hätte er schwerlich mit der Evolutionstheorie die Biologie auf eine neue Grundlage gestellt. Mit Marx ist ein Denker zum Inbegriff des Religionskritikers aufgestiegen, dessen unmittelbarer Beitrag zur religionskritischen Debatte darin bestand, diese für mehr oder minder als bereits erledigt zu erklären. Der eigentliche Fokus seiner religionskritischen Schriften ist gar nicht die Religion selber, sondern eine Kritik der Religionskritik. Deren Vertretern warf er vor, am falschen, weil logisch nachgeordneten Kritikgegenstand zu kleben. Die christlichen Jenseitsvorstellungen waren für ihn letztlich nur Symptom verkehrter irdischer Verhältnisse, und vor allem anderen galt es diese zu analysieren und kritisieren.
2.
Die monotheistischen Religionen lehren seit jeher, der Mensch sei Gottes Geschöpf. Feuerbach hat diese Sicht umgekehrt und Gott zum Geschöpf des Menschen erklärt, oder um es in seinen eigenen Worten zu sagen: „Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen.“ (Feuerbach 1979, S. 95) Zusammen mit Freud, der diese Deutung später psychoanalytisch zu untermauern unternimmt, firmiert Feuerbach als Projektionstheoretiker. Und auch Marx wird als Dritter im Bunde dieser „Schule” zugeschlagen. Das ist natürlich insofern berechtigt, als Marx das Grundmotiv der Feuerbach‘schen Religionskritik eins zu eins übernahm. „Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.” (MEW 1, S. 378) Allerdings, und das ist entscheidend, fasst Marx den die Religion machenden Menschen in einer spezifischen Weise: „Aber der Mensch ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät.”
Was auf den ersten Blick als bloße Präzisierung erscheinen könnte, hat näher besehen weitreichende Implikationen und bringt Marx in einen scharfen Gegensatz zur eigentlichen, mit der Aufklärung beginnenden religionskritischen Traditionslinie. Das ist ihm selbst nicht entgangen. Zumindest was seinen unmittelbaren Vorgänger angeht, weist Marx in seinen Feuerbach-Thesen die fundamentale Differenz explizit aus. So heißt es in der sechsten These:
„Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren und ein abstrakt — isoliert — menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. kann bei ihm daher das menschliche Wesen nur als ‘Gattung’, als innere, stumme, die vielen Individuen bloß natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.‟ (MEW 3, S. 534 )
Der Vorwurf, „von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren”, fällt hier weder von ungefähr, noch trifft er allein Feuerbach und dessen offen anthropologische Argumentation; vielmehr verweist er auf den fundamentalen Unterschied zwischen der vom Geist der Aufklärung beseelten Religionskritik insgesamt und der Perspektive, unter der die Marx’sche Theorie religiöse Phänomene wahrnimmt. Die Religionskritik vor und nach Marx leitete das Bedürfnis, eine überirdische Instanz anzurufen, letztlich immer aus der conditio humana ab. Das bedeutet zunächst einmal insofern eine Dehistorisierung, als dem Religiösen eine niemals versiegende Quelle zugeschrieben wurde. Die klassische Religionskritik setzte auf den Vormarsch „der Vernunft” und hoffte, dieser werde die Menschen künftig immer mehr davon abhalten, ihre irrationalen religiösen Neigungen zu leben, ein Verschwinden dieser Neigungen fasste sie aber nicht ins Auge. Anders Marx: Indem er den Ursprung des religiösen Bedürfnisses vom einzelnen Menschen in das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse verlegt, wird der Glaube an das „Ewige” zu einem prinzipiell vergänglichen Phänomen. Es ist im Laufe der gesellschaftlichen Entwicklung entstanden und kann deshalb auch wieder gegenstandslos werden und sich auflösen. Das ist aber keineswegs schon alles. Wenn man den Marx’schen Ansatz ernst nimmt, dann zeigt sich, dass er auch die Binnengeschichte des Religiösen in ein von der klassischen Religionskritik grundverschiedenes Licht rückt.
Wer von irgendeinem überhistorischen menschlichen Wesenskern ausgeht und von diesem die Religion ableitet, muss die Veränderungen, die das Religiöse in den letzten zwei- bis dreitausend Jahren durchgemacht hat, als letztlich akzidentell behandeln. Im Gegensatz zum ominösen menschlichen Wesen ist das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse” alles andere als starr. Sobald man das Religiöse als genuin gesellschaftliches Produkt betrachtet, muss der Wandel in den Jenseitsvorstellungen genauso substantiell sein wie der Wandel der sozialen Verhältnisse, in den dieser eingebettet ist. Dies zu Ende gedacht, stellt sich die Frage, wie sinnvoll es überhaupt sei, von einem einheitlichen Phänomen namens Religion zu sprechen. Auf alle Fälle schwebt eine Kritik der Religion schlechthin immer in der Gefahr, entweder sich auf Allgemeinplätze beschränken zu müssen oder moderne religiöse Bewusstseinsformen in die Vergangenheit zu projizieren. Wer eine gerade Linie von den Höhlenmalern von Lascaux über den spätantiken Osiris-Kult bis zur heutigen Kirchgängerei zieht und überall ähnliche Motive am Werk sieht, kann sich vielleicht auf Feuerbach und Freud berufen, aber sicherlich nicht auf den Marx’schen Ansatz. Und auch wenn man ausschließlich die Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise betrachtet, ist man mit der Annahme, religiöse Bekenntnisse hätten in allen Stadien kapitalistischer Entwicklung eine ähnliche Bedeutung, eindeutig auf dem Holzweg.
3.
Die religionskritischen Schriften haben in der Entwicklung der Marx´schen Theorie eine weichenstellende Bedeutung. In diesen Texten wird die kapitalistische Gesellschaft als der zentrale Kritikgegenstand bestimmt, während das Alpha und Omega der Feuerbach‘schen Religionskritik als ein logisch nachgeordnetes Phänomen ins zweite Glied rückt. Marx ist auf das Thema Religion denn auch nie mehr zurückgekommen. Wer nach Texten sucht, in denen der reife Marx religiöse Bewusstseinsformen aus der kapitalistischen Vergesellschaftungsform ableiten würde, sucht vergeblich. Die religionskritischen Texte des jungen Marx konnten das schon deshalb nicht leisten, weil seine Analyse der kapitalistischen Produktionsweise und Vergesellschaftungsform zur Zeit ihrer Abfassung noch in den Kinderschuhen steckte. Seine ersten Anläufe in Sachen Kritik der Nationalökonomie – etwa die „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte“ – waren noch darauf fokussiert, welche verheerende Wirkung die kapitalistische Produktionsweise vor allem für die Arbeiter hatte. Sie mündeten in ein geschichtsphilosophisches Konstrukt ein: Die Arbeiterklasse, so die (Frohe) Botschaft, sei aufgrund ihrer vollkommenen Entfremdung dazu berufen, durch den Umsturz der kapitalistischen Ordnung dem „Gattungswesen” zum Durchbruch zu verhelfen.
Dieses Konzept ist in mehrfacher Hinsicht mit Vorsicht zu genießen. Dass die historische Entwicklung die Vorstellung vom Proletariat als Träger einer universellen Befreiungsbewegung gründlich dementiert hat, ist nur ein Grund; Begriffe wie „Entfremdung” und „Gattungswesen” verweisen auch auf eine dem Bau des Theoriegebäudes eigene grundsätzliche Problematik. Der junge Marx bezieht sich noch positiv auf wesensmetapysische Vorstellungen. Er operiert mit einem emphatisch aufgeladenen Begriff eines menschlichen Wesens, das in der Geschichte sich entfalten und schließlich zu sich kommen solle. Das ist noch sehr nahe an Hegels Idee der Selbstentfaltung des Weltgeistes; die „materialistische Wendung“ beschränkt sich letztlich darauf, den Weltgeist durch die gesellschaftliche Entität der Klasse zu ersetzen.
In seinen späteren Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie stellt Marx Hegel dagegen in einer ganz anderen Weise vom Kopf auf die Füße. Dort lehnt er sich zwar eng an dessen Vorgehensweise an; hat Hegel in der „Wissenschaft der Logik“ aus der abstrakten Kategorie des Seins die Totalität entfaltet, so versucht Marx aus den inneren Widersprüchen von Ware und Privatarbeit die Totalität des Kapitalverhältnisses abzuleiten; allerdings wird diese Art des theoretischen Zugangs für einen bestimmten Typus von Erkenntnisgegenstand reserviert, nämlich die kapitalistische Gesellschaft. Damit verliert zunächst einmal der von Hegel übernommene universalgeschichtliche Anspruch seine Grundlage. Der junge Marx hat in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ über den Kommunismus noch geschrieben: „Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.” (MEW 40, S. 536) Der reife Marx hat von solchen universalgeschichtlichen Vorstellungen immer weiter entfernt und konzentriert sich darauf, die kommunistische Perspektive aus der Unhaltbarkeit der kapitalistischen Zustände zu begründen. Wichtiger ist aber der Vorzeichenwechsel bei der Bewertung des Metaphysischen. In der Kritik der Hegel‘schen Rechtsphilosophie wird das metaphysische Denken noch aufseiten der Emanzipation verortet, wenn Marx schreibt: „Die Philosophie kann sich nicht verwirklichen ohne die Aufhebung des Proletariats, das Proletariat kann sich nicht aufheben ohne die Verwirklichung der Philosophie.” (MEW 1, S. 391) Erst durch ihre metaphysische Aufladung zum Träger des philosophischen Gedankens wird die Arbeiterklasse zum großen historischen Hoffnungsträger. Hält man sich dagegen an die Marx’sche Kritik der unheiligen Dreifaltigkeit von Waren-, Geld- und Kapitalfetisch, dann ist die Metaphysik aus dem Geisteshimmel herabgestiegen und in die Dinge gefahren, und gerade aus diesem Grund muss der Kapitalismus überwunden werden. Im Kapitalismus verwandelt sich das Produkt der menschlichen Hand verrückterweise in ein „sehr vertracktes Ding voll metaphysischer Spitzfindigkeiten und theologischer Mucken” (MEW 23, S. 85), während die Menschen im Gegenzug zu „ökonomischen Charaktermasken”, „Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse” (MEW 23, S. 100) mutieren.
Damit verändert sich aber die emanzipative Perspektive gegenüber den Auslassungen des jungen Marx entscheidend. Befreiung im Zeichen der Fetischkritik kann nur die Beseitigung des verrückten Zustands versachlichter Herrschaft bedeuten. Die Menschen befreien sich, indem sie die Produkte ihrer Hände ihres übersinnlichen Charakters entkleiden und in simple sinnliche Dinge verwandeln. Dazu müssen sie ihre gesellschaftlichen Beziehungen neu ausrichten und dazu übergehen, sich als gesellschaftliche Individuen aufeinander zu beziehen, statt als vereinzelte Einzelne. Das ist aber ein ganz anderes Programm als das der Verwirklichung irgendeines „Gattungswesens“. Vom Standpunkt der Fetischkritik heißt Emanzipation zu denken, antimetaphysisch zu denken. Der kommunistische Traum, das ist der Traum vom Ende des realmetaphysischen Albtraums versachlichter Herrschaft, der Traum von einem strikt diesseitigen Diesseits.
4.
Gesellschaftstheorie hat unweigerlich einen Zeitkern, in dem sich die spezifischen Umstände der Epoche ihrer Entstehung widerspiegeln – die Marx´sche Theorie macht da keine Ausnahme. In der wertkritischen Debatte à la Krisis hat es sich, anknüpfend an Rosdolskys Unterscheidung vom „exoterischen und esoterischen Marx”, eingebürgert, von einem „doppelten Marx” zu sprechen: Als Vordenker der Arbeiterbewegung und Prophet des Klassenkampfes, so die These, traf Marx Aussagen, die den spezifischen Bedingungen der Aufstiegsepoche des Kapitalismus verhaftet blieben. Genau aus diesem Grund wurden sie von der sozialistischen Bewegung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert begeistert aufgegriffen, und deshalb ist mit ihnen in unserem Zeitalter nichts mehr anzufangen. Daneben existiert aber noch ein zweiter Marx, der Marx der Warenform- und Fetischkritik. Mit dieser Seite der Marx’schen Theorie konnten die sozialistischen Bewegungen der Vergangenheit nichts anfangen: Er blieb in ihrer Rezeption völlig ausgeblendet. Gerade diese Seite ist aber im heutigen Krisenzeitalter die aktuelle.
Diese Scheidelinie zwischen dem Marx, der ein Kind seiner Zeit blieb, und dem Vordenker einer Gesellschaftskritik für das gegenwärtige Zeitalter durchzieht auch die religionskritischen Schriften. Wie aber sieht deren Verlauf aus? An welchen Elementen der Marx’schen Religionskritik ist festzuhalten, welche Aussagen sind dagegen als zeitbedingt fallen zu lassen? So viel lehrt ein Seitenblick auf die durch das Aufkommen neoreligiöser Strömungen ausgelöste Debatte: Marxens Grundsatzkritik an Religionskritiken à la Feuerbach ist für die Ideologiekritik so brisant wie selten zuvor. Wenn es darum geht, die Gründe für die neuerliche Exhumierung Gottes anzugeben, dann geben heute Stimmen den Ton an, die „den Menschen“ verantwortlich machen, der nun einmal seiner Natur nach für theologisches Hokuspokus empfänglich sei. Das herrschende Denken ist vor allem darauf versessen, sich Fragen nach dem inneren Zusammenhang zwischen dem Aufkommen eines Apokalypse-verliebten neuen Gotteskriegertums und den spezifischen Verrücktheiten der postmodernen Subjektivität vom Hals zu halten. Das geht indes am einfachsten, indem man die neoreligiösen Amokläufer evangelikaler, islamistischer oder hindu-fundamentalistischer Provenienz in ihrem Denken und Fühlen zu lebenden Fossilien erklärt. Marx insistiert demgegenüber darauf, dass auch religiös aufgeladenes Denken aus dem Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse zu erklären sei, Verhältnissen, in denen es auftritt, und keineswegs transhistorisch. Insofern steht sein Ansatz für die Gegenperspektive zum herrschenden Diskurs, der die gruseligsten Formen moderner Subjektivität archaisiert und so dazu nutzt, die herrschende Lebens- und Wirtschaftsweise in einem milden Licht erscheinen zu lassen.
5.
Während Marxens Kritik an der aufklärerischen Religionskritik in den letzten knapp 160 Jahren keinerlei Rost angesetzt hat, lässt sich das von seinen Aussagen zur Funktion religiöser Bekenntnisse nicht sagen. Am allerwenigsten taugen diese zur Erklärung des Phänomens, das im Zentrum der derzeitigen Debatte steht, zur Erklärung der diversen Fundamentalismen. Und auch wer verstehen will, was der Esoterik ihre Ausstrahlung verleiht, wird in den religionskritischen Schriften des jungen Marx schwerlich fündig.
Marx stand religiösen Vorstellungen vor allem aus einem Grund ablehnend gegenüber. Er sah in der Bindung an die christlichen Kirchen und ihre Lehren ein Hindernis auf dem Weg zur Selbstbefreiung des Proletariats. Das Gottvertrauen, so das Leitmotiv seiner einschlägigen Schriften, lullt die Unterdrückten ein und hält sie davon ab, sich als eine eigenständige gesellschaftliche Kraft zu formieren und zu emanzipieren: Der Gottesglaube diene der Versöhnung mit gesellschaftlichen Verhältnissen, mit denen man sich auf keinen Fall versöhnen dürfe. Auch die bekannteste Passage in den Marx´schen Schriften zum Thema ist ein einziges Plädoyer gegen falsche Duldsamkeit:
„Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.” (MEW 1, S. 378).
Warum die sozialistische Bewegung das Diktum vom „Opium des Volkes” begierig aufgegriffen hat, ist leicht zu erklären. Für eine Erweckungsbewegung, die sich das Ziel gesetzt hat, die Klasse zu aktivieren, kann Religionskritik nur heißen, Religion als ihr eigenes Gegenteil zu verstehen, also als ein die gesellschaftlichen Beharrungskräfte stärkendes Einschläferungsprogramm. Genau diesen Anwurf bringt aber die Opium-Metapher auf den Punkt. Schließlich handelt es sich beim Opium um ein starkes Sedativum.
Aus dieser Sentenz springt allerdings auch der Zeitkern der Marx’schen Aussagen zur Religion ins Auge. Der Gedanke, der Glaube an Gott stehe für falsche Duldsamkeit und Apathie, war in einer Zeit, in der der Fortschrittsglaube vorherrschte und die sozialistische Bewegung sich in der Offensive sah, sicherlich plausibel; wer daraus eine epochenübergreifende allgemeingültige Aussage machen will, den strafen die Neoreligiösen unserer Tage indes offensichtlich Lügen. Gott wird dort gerade nicht deshalb bemüht, um den Menschen Selbstbescheidung zu predigen, stattdessen dient Gott als Zulieferer für die Machtansprüche seiner Gläubigen. Ein zugegeben krasses, aber dennoch aufschlussreiches Beispiel lieferte im November 2020 Paula White, ihres Zeichens evangelikale Predigerin und Faith Advisor von Donald Trump. Nach dessen Wahlniederlage legte sie einen Auftritt hin, der in diversen Social medias viral ging. Dort gab sie nicht nur den „sound of victory”, den sie von einer höheren Stelle vernommen hatte, an ihr Publikum weiter und agitierte wild in Zungen, sondern hielt sich zwischendrin sogar für Gott selbst.1 Welche Droge Paula White auch immer genommen haben mag, Opium oder ein anderes Sedativum war es sicherlich nicht. Nichts ist ihr und ihren Anhänger so fremd wie Demut und Selbstbescheidung. Die Berufung auf Gott dient im Gegenteil dazu, einen kollektiven narzisstischen Größenwahn auszuleben. Wer sich auf Gott beruft, der hat eine höhere innere Wirklichkeit auf seiner Seite und ist über demokratischen Verfahrensregeln wie der Anerkennung von Mehrheitsergebnissen erhaben.
6.
Es ist von verschiedenen Seiten immer wieder darauf hingewiesen worden, dass die beiden großen, die Massen ergreifenden Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts, der Nationalismus und der Sozialismus, religiöse Züge aufwiesen. In diesem Kontext ist ständig von Diesseitsreligionen die Rede. In der Regel wird diese Titelvergabe damit begründet, dass in diesen Bewegungen an religiöse Rituale erinnernde Praktiken gang und gäbe seien. Die Beobachtung ist zwar richtig, bleibt aber an der Oberfläche. Man kann dem Begriff der Diesseitsreligion indes auch einen tieferen Sinn geben. Der Sozialismus und der Nationalismus griffen insofern zentrale Motive religiösen Denkens auf, als der Nation, dem Volk und der Klasse Attribute zugeschrieben wurden, mit denen die monotheistischen Religionen ursprünglich Gott ausgestattet hatten. Wie Gott gilt die Nation als ewig und ihrem Wesen nach immer gleichbleibend. Die Arbeiterklasse stellt als Inkarnation des heiligen Prinzips der Arbeit die schöpferische Potenz schlechthin dar, ist berufen, die Welt nach ihrem Bilde neu zu erschaffen und tritt damit in die Fußstapfen des Weltenschöpfers.2
Beide Kollektivsubjekte werden als souverän und allmächtig imaginiert. Damit aus dieser Potenz Wirklichkeit werden kann, müssen das Volk bzw. die Klasse allerdings der eigenen Kraft gewahr werden. Dementsprechender Beliebtheit erfreute sich eine Erweckungsmetaphorik. So beginnt die „Internationale” mit dem Imperativ „Wacht auf, Verdammte dieser Erde”. Das prägte auch das Bild, das die sozialistische Bewegung von der Religion zeichnete. Für eine Erweckungsbewegung, die angetreten ist, die überkommene jenseitsreligiöse Welterklärung zu verdrängen, ist es äußerst naheliegend, diese spiegelbildlich zu einem Sedativum zu erklären. Nur mit dieser besonderen Konstellation lässt sich erklären, warum Marx’ Diktum von der Religion als „Opium des Volkes“ derart begeistert aufgegriffen wurde.
Der junge Marx schreibt: „Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.” (MEW 1, S. 385) Mit diesem Satz bezieht Marx einen Standpunkt radikaler Diesseitigkeit. Statt sich blind dem Ratschluss Gottes, den Marktgesetzen oder irgendeiner anderen metaphysischen Instanz zu unterwerfen, sind die Menschen aufgefordert, eine Gesellschaft zu schaffen, in der sie selbst sowie ihre sozialen und sinnlichen Bedürfnisse das Maß aller Dinge seien. Offiziell hat sich die sozialistische Bewegung nie von diesem Ziel verabschiedet, sie hat es allerdings auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben und stattdessen einen Diesseitsbezug gepredigt, bei dem das Diesseits bis dahin deutlich jenseitige Züge aufwies. Eine ferne kommunistische Zukunftsgesellschaft, so die gängige Argumentation, wäre zwar konsequent an den Bedürfnissen der Individuen ausgerichtet und hätte keinen anderen Zweck, als ihnen den Raum zu ihrer freien Entfaltung zu geben; bis auf Weiteres stand aber etwas ganz anderes auf dem Programm. Es galt, auf dem Weg ins Paradies die Arschbacken zusammenzukneifen und den Triumph der Arbeiterklasse über das Kapital und dessen Knechte zu erstreiten. Als fleischgewordenes heiliges Prinzip der Arbeit, wies da glorreiche Kollektivsubjekt der Klasse freilich eine fatale Ähnlichkeit mit dem ausrangierten Christengott auf, wobei dieses Subjekt den Seinen weit mehr abverlangte als der Vorgänger. Der alte Gott hatte sich als Gegenleistung für ein Plätzchen im Himmel mit kindlicher Liebe und Achtung vor den Zehn Geboten begnügt. Wenn das mit der Gebotebefolgung nicht so ganz klappte, blieben noch immer Reue, Beichte und die Hoffnung auf Gottes Gnade. Die neue Göttin „Arbeiterklasse“ kannte die Kategorie der Gnade nicht, und Gehorsam war ihr zu wenig. Sie forderte von den einzelnen Proletariern, ein Klassenbewusstsein zu entwickeln und sich in die „Arbeitereinheitsfront“ einzureihen. Erst indem sie sich mit dem Klassenganzen identifizierten und ihr Leben diesem unterordneten, hatten sie im Gegenzug Teil an der großen historischen Mission ihrer Klasse.
Die großen geschichtsmächtigen Kollektividentitäten, die sich zusammen mit der kapitalistischen Gesellschaft herausbildeten, haben einen diesseitsreligiösen Charakter. Beim Klassenbegriff ist dieser Zug allerdings nicht in Reinkultur ausgeprägt. Das liegt daran, dass der Terminus Klasse noch eine zweite Bedeutung hat. Die Klasse stand nicht nur für den historischen Hoffnungsträger, der berufen schien, eine neue Welt aus der Taufe zu heben; Klasse bezeichnete gleichzeitig eine Funktionskategorie der kapitalistischen Gesellschaft. Die Arbeiterklasse umfasst einen bestimmten Typus von Warenbesitzern, nämlich jene Wirtschaftssubjekte, die nichts anderes zu Markte tragen können als ihre eigene Arbeitskraft. Sie vereint das gemeinsame Interesse, für diese Ware möglichst günstige Verkaufsbedingungen herauszuschlagen.
Die andere große, geschichtsmächtig gewordene Diesseitsreligion kam ohne derlei Mehrdeutigkeiten aus. Das lag daran, dass der klassische Nationalismus seinem Allerheiligsten einen Ausführungsgehilfen an die Seite stellte. Es galt als ausgemacht, dass jede Nation auch ihren eigenen Staat benötige, und an diesen wurde die Sicherung des Allgemeininteresses und die Überbrückung der Interessengegensätze delegiert. Weil die Zuständigkeit für die Herstellung des praktischen gesellschaftlichen Zusammenhangs ausgegliedert war, konnte die Nation im Gegenzug als Identifikationsgemeinschaft pur figurieren. Betrachtet man die Durchsetzungsgeschichte der Warengesellschaft, dann entpuppt sich die Idee der Nation als nichts weiter als die Überhöhung des Durchstaatlichungsprozesses. Im Zeichen des Glaubens an die Nation entstanden jene territorialstaatlich eingehegten, einheitlichen warengesellschaftlichen Funktionsräume, ohne die das System des abstrakten Reichtums die Gesellschaft schwerlich hätte durchdringen können. Im globalen Süden, aber auch in Osteuropa, ebneten die nationalistischen Bewegungen im 20. Jahrhundert überhaupt erst der nachholenden Herausbildung moderner Territorialstaaten den Weg. Und in den kapitalistischen Zentren wäre ohne den Vaterlandskult und ohne die verheerenden Kriege, in denen sich dieser entlud, der Übergang vom Nachtwächterstaat des 19. Jahrhunderts zum Interventionsstaat des 20. Jahrhunderts schwerlich vonstattengegangen. Im nationalistischen Denken stellt sich dieser Zusammenhang indes auf den Kopf. Dort sind die Nationen die Subjekte der Geschichte, während die Staatlichkeit diesen übersinnlichen Wesenheiten als ein bloßes Instrument dienen.
In der Konkurrenz der beiden großen Kollektivsubjekte hatte die Nation letztlich weitaus bessere Karten als ihre Stiefschwester, die Klasse. Das lag aber nicht allein daran, dass die Nation ausschließlich für das identitäre Kerngeschäft da war. Die nationalistische Diesseitsreligion hatte gegenüber dem Kult der Klasse weitere entscheidende Wettbewerbsvorteile. So blieb bei der Klasse das Allmachtsversprechen insofern auch etwas lau, als es an die Perspektive einer kommenden Umwälzung des gesamten gesellschaftlichen Gefüges gebunden war. Die Identifikation mit der Nation versprach demgegenüber auch ohne einen solchen in der fernen Zukunft liegenden Bezugspunkt den Einzelnen Teilhabe an deren phantasmagorischen Allmacht.3
7.
Vor dem Siegeszug der modernen Warengesellschaft galt der Herr der himmlischen Heerscharen als jene oberste Instanz, deren Ratschluss letztlich über das Schicksal der Menschen entschied. Mit dem Siegeszug der modernen Warengesellschaft wurde dieser Part neu besetzt. Der exoterische Klassenkampf-Marx gehörte zu den vielen Vordenkern dieser Entwicklung und spielte als Stichwortgeber bei der Formierung der sozialistischen Variante der neuen Diesseitsreligiosität eine Schlüsselrolle. Um eine Erklärung für den Übergang von der Jenseitsreligion zu den Diesseitsreligionen zu finden, muss man dagegen auf den esoterischen Marx rekurrieren.
Zur Erinnerung: Die Quintessenz der Marx‘schen Fetischkritik besteht darin, dass sich mit der Verwandlung aller Reichtumsproduktion in Warenproduktion der soziale Zusammenhang grundlegend verändert. Während die Reichtumsproduktion in vorkapitalistischen Gesellschaften in personale Herrschaftsbeziehungen eingebettet ist, wird in der kapitalistischen Gesellschaft die Herstellung des gesellschaftlichen Zusammenhangs an die menschlichen Erzeugnisse delegiert. Die Menschen beziehen sich nicht als gesellschaftliche Individuen aufeinander, sondern interagieren als Charaktermasken ihrer jeweiligen Waren. Ware und Wert strukturieren die Gesellschaft, und damit bekommt die Alltagspraxis eine metaphysische Struktur. Weil gesellschaftliches Handeln primär darin besteht, das jeweilige bornierte Privatinteresse zu verfolgen, wird die gesellschaftliche Entwicklung zu einem blinden Prozess, der sich gegenüber dem Wollen der Akteure verselbstständigt.
Dieses verrückte System der Herrschaft der Dinge über die Menschen stellt sich in der Wahrnehmung der Warenbesitzer indes auf den Kopf. Die Verkehrung betrifft nicht nur die individuellen Akteure4, sondern kennzeichnet auch die Welt des politischen Handelns. Dessen Reichweite ist alles andere als unbegrenzt. Durch die Auflösung der Gesellschaft in getrennte Privatproduzenten und durch die Warenform des gesellschaftlichen Reichtums sind die wirklich entscheidenden Weichen nicht nur für die Einzelnen, sondern auch für die Politik bereits gestellt, bevor diese überhaupt auf den Plan tritt. Der Gestaltungsspielraum von Politik beschränkt sich darauf, mit jenen Optionen zu jonglieren, die dieses Präjudiz noch übriglässt, und nachträglich an einem blinden gesellschaftlichen Prozess herumzuregulieren und herumzudeuten. Im warengesellschaftlichen Binnenbewusstsein erscheint politisches Handeln aber als freies Gestalten. Dass die politischen Subjekte bei der Umsetzung ihrer Pläne auf Schritt und Tritt auf Grenzen stoßen, erschüttert den Glauben an deren unbedingte Gestaltungsmacht keineswegs. Misserfolge werden nämlich immer nur als der Erfolg gegnerischer Kollektivsubjekte und ihrer Pläne wahrgenommen oder auf fehlerhaftes Handeln auf der eigenen Seite zurückgeführt. Deshalb lassen sie nur den Schluss zu, dass es an der notwendigen Entschlossenheit und Geschlossenheit fehle, mit anderen Worten: an der Selbstzurichtung. Gerade die Kollektivsubjekte, die im Zentrum der chiliastisch aufgeladenen Diesseitsreligionen standen, wurden denn auch als Ergebnis eines Selbstzurichtungsprozesses gedacht. Für die sozialistische Bewegung war die zur Umwälzung berufene Klasse dementsprechend nie identisch mit der heterogenen Masse der Lohnabhängigen. Der Klassenstandpunkt fand in der Regel stattdessen in der Partei seinen Ausdruck, mit der sich die klassenbewussten Proletarier zu identifizieren hatten.
Ein noch eindeutigeres Bild bietet die zweite, noch wichtigere Diesseitsreligion des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die Identifikation mit der Nation schloss immer den Imperativ ein, sich selbst zuzurichten und im Bedarfsfall Opfer zu bringen – bis hin zum süßen Heldentod fürs nationale Ganze. Für den Nationalismus war „das Volk“ immer nur Rohmaterial, das es zu erziehen und in Reih und Glied zu bringen galt. Zu den Feindbildern der nationalistischen Ideologie gehört die amorphe Masse. Dementsprechend fasst sie das Volk immer als Volkskörper, also als ein bereits in sich gegliedertes organisches Ganzes. Damit aus Volk Nation wird, fehlt nur noch der Kopf des Ganzen, die Unterordnung unter eine als selbstlos konstruierte nationale Führung.
8.
Die neoreligiösen Strömungen unserer Tage haben mit der überkommenen Religiosität, die Marx vor Augen hatte, nur gemeinsam, dass sie sich auch auf Gott beziehen. Allerdings könnte der Inhalt dieses Gottesbezugs kaum unterschiedlicher sein. Marx war die Religion deshalb ein Dorn im Auge, weil sie Demut und Selbstbescheidenheit lehrte und den Menschen von einer seinen sinnlichen und sozialen Bedürfnissen entsprechenden Gestaltung des Diesseits abhielt. Im Zeichen der Diesseitsreligionen haben die Menschen die alte Religiosität überwunden, aber in einer höchst paradoxen Form. Gott wurde zwar aufs Altenteil geschickt, aber nur damit die Individuen frei wurden für den Dienst an imaginären Gemeinschaften, die die Attribute Gottes geerbt hatten.
Die neue Religiosität wiederum nimmt diese Übertragung der göttlichen Allmacht in keiner Weise zurück. Schon die individualistische Variante der Neoreligiosität, die Esoterik, ist in dieser Hinsicht aufschlussreich. Die Esoterik-Fans agieren wie vermeintliche Super-Einzelsubjekte. Es reicht ihnen nicht, sich der Welt mit ihren beschränkten Verstandeskräften und ihrer beschränkten Zahlungskraft zu bemächtigen, sie wollen auch spirituelle Kräfte für ihre persönlichen Zwecke abrufen. Dementsprechend ordern sie nicht nur wie Hinz und Kunz bei Amazon, sondern schwören auch auf versandkostenfreie „Bestellungen beim Universum“ das laut Klappentext des gleichnamigen Buches „den Traumpartner, den Traumjob oder die Traumwohnung und vieles mehr“ frei Haus liefert – die Aneignung der richtigen Herbeidenk-Technik vorausgesetzt. Und auch die fundamentalistischen Strömungen stellen keineswegs den alten Glauben an die Unergründlichkeit von Gottes Ratschluss wieder her, vielmehr wird Gott als Zulieferer für die Allmachtsansprüche der fundamentalistischen Gemeinden in Dienst genommen. Insofern stehen die Religionismen unserer Tage den klassischen Diesseitsreligionen Sozialismus und Nationalismus weit näher als der vormodernen Religiosität, auf die sie sich offiziell berufen.5 An die Stelle von Nationen und Klasse tritt die jeweilige religiöse Gemeinde oder Sekte. Mit ihrem Auftauchen erhält die Vorstellung, irgendwelche menschlichen Kollektivsubjekte seien die souveränen Herren der warengesellschaftlichen Welt ihre an das Krisenzeitalter angepasste Form.
9.
Die klassischen Diesseitsreligionen waren beide integrale Bestandteile der Aufstiegsgeschichte der Warengesellschaft. Inzwischen ist das warenproduzierende Weltsystem indes in ein ganz anderes Stadium seiner Entwicklung eingetreten. Das System versachlichter Herrschaft von Ware und Wert hat seine historische Schranke erreicht. Die Warensubjekte erleben eine Krisenepoche, die sie mit einer nicht enden wollenden Kette ökologischer Katastrophen, ökonomischer Erschütterungen und sozialer Verwerfungen konfrontiert. Das verändert natürlich die gesellschaftliche Atmosphäre tiefgreifend. Die Diesseitsreligionen waren allesamt fortschritts-optimistisch aufgeladen und mussten das auch sein, weil sie eine bessere Welt auf Erden versprachen. Das gilt selbst noch für die letzte unter ihnen, die neoliberale Marktreligion. Im Zeichen des totalen Marktes, so ihre – gegenüber dem schon vor Jahrzehnten einsetzenden Krisenprozess ignorante – Botschaft, geht die Menschheit einer goldenen Zukunft entgegen. In dem Maß, wie sich ein allgemeiner Zukunftspessimismus breitmachte, gewannen die verschiedenen Krisenverarbeitungs-Ideologien an Einfluss.
Eigentlich stößt der Selbstzerstörungskurs, auf dem sich die Weltgesellschaft befindet, die Menschen mit der Nase drauf, wie es um die Gestaltungsmacht und Souveränität der politischen Mächte bestellt ist: Die vermeintliche Kommandobrücke, von der aus sich die gesellschaftlichen Prozesse steuern lassen, ist nichts weiter als ein Phantom. Dass die Gemeinde der Warenbesitzer das an die Waren abgetretene gesellschaftliche Kommando irgendwo in den eigenen Reihen wähnt, ist freilich tief in der gesellschaftlichen Grundstruktur verankert. Deshalb verschwindet die Auffassung, diese Gesellschaft würde von souveränen Kollektivsubjekten beherrscht, in der Krisenepoche nicht einfach; äußerst widerstandsfähig, wie Zwangsvorstellungen nun einmal sind, nimmt sie Formen an, die den veränderten Bedingungen und der pessimistischen Grundstimmung Rechnung tragen.
Die Leistung der Krisenverarbeitungs-Ideologien besteht darin, die grassierende Weltuntergangsstimmung zu bedienen und gleichzeitig den Glauben an souveräne Subjekte fortzuschreiben. Sieht man einmal von Europa ab, dann spielen im Konzert der gemeingefährlichen Krisenverarbeitungs-Ideologien fast überall auf der Welt inzwischen neoreligiöse Strömungen eine entscheidende Rolle.6 Sie treten entweder allein auf oder vermischt mit zerfallsnationalistischen Vorstellungen. Diese starke Stellung kommt nicht von ungefähr. Gott ins Spiel zu bringen, erleichtert nämlich die Hauptaufgabe des identitären Geschäfts – die Synthese von Krisengefühl und Souveränitätswahn – gleich in mehrfacher Hinsicht.
Zunächst einmal bietet die Exhumierung Gottes den unschätzbaren Vorteil, dass sie erlaubt, die Welt als von Grund auf verderbt zu betrachten und doch den Anspruch zu erheben, einen Heilsplan umzusetzen, was nun einmal zur Aura der großen Kollektivsubjekte gehört. Wer Gott auf der eigenen Seite weiß, ist der Mühe enthoben, auf Erden dem Gros der Bevölkerung eine positive Perspektive zu bieten. Wo Gott wieder auf die Bühne geschoben wird, ist dessen Kompagnon, der Satan, nicht weit. Der, und nicht Gott, ist der eigentliche Hauptdarsteller in den alternativen Wirklichkeiten der Religionismen. Identitätsproduktion war schon immer auf einen Widersacher angewiesen, der als negative Projektionsfläche diente. Mangels eines einigenden positiven Bandes wird die Feindbestimmung in der Krisenepoche für die Formierung von Kollektivsubjekten wichtiger denn je. Vor allem anderen braucht man ein gegnerisches Kollektivsubjekt, das mit seinen dunklen Machenschaften für die Malaise verantwortlich zeichnet.
Die alten Diesseitsreligionen strotzten noch vor Selbstbewusstsein und wollten eine Welt gewinnen, und das auf Erden. Als Krisenverarbeitungs-Ideologien liegt den neoreligiösen Konzepten das Gefühl einer hochgradigen Gefährdung der eigenen Subjektherrlichkeit zugrunde. Man denke nur an die US-amerikanischen Evangelikalen. Sie verbinden den in der Krisenepoche weitverbreiteten Wunsch, die Zeit zurückzudrehen („Make America great again“), mit einer bestimmten, umfassenden Erklärung dafür, warum die Welt außer Rand und Band geraten sei. Als Grund für den Niedergang werden die Löcher ausgemacht, die in das System des sexistischen und rassistischen Ausschlusses geschlagen wurden. Die Verantwortung tragen die gesellschaftlichen Kräfte, die das zugelassen haben. Hinter der evangelikalen „Bibeltreue“ verbirgt sich ein selektiver Bezug auf die überlieferten Texte, der vor allem eins ermöglicht: Vermittelst einer entsprechend zurechtgelegten „Heiligen Schrift“ lässt sich eine gegen Zweifel und Kritik schon im Ansatz immunisierte Identität herbeizaubern.
Dass sich die Religionisten in der strukturellen Defensive sehen, macht sie in keiner Weise friedfertig, im Gegenteil, sie sehen sich in einer vermeintlichen Putativnotwehr-Situation, und das birgt ein beachtliches Eskalationspotential: Denn anders als im Zeitalter des Nationalismus steht der Hauptfeind im eigenen Land. Der verwilderte Souveränitätswahn wird damit zu einem eigenständigen Moment der Gesamtkrise, indem er dem Prozess der gesellschaftlichen Desintegration eine neue Qualität verleiht.
Literaturverzeichnis:
Feuerbach, Ludwig (1979): Das Wesen der Religion, Hrsg. von A. Esser, 3. Auflage, Heidelberg 1979
Feuerbach, Ludwig (1984): Das Wesen des Christentums. Ditzingen 1984
Lohoff, Ernst (2008): Die Exhumierung Gottes. In: Krisis 32, Münster 2008
MEW 1 = Marx, Karl (1981): Marx-Engels-Werke Bd. 1. Berlin 1981
MEW 3 = Marx, Karl (1978): Marx-Engels-Werke Bd. 3. Berlin 1978
MEW 23 = Marx, Karl (1983): Das Kapital, Band 1, Marx-Engels-Werke Bd. 23,
Berlin 1983
MEW 40 = Marx, Karl (1968): Marx-Engels-Werke Bd. 40. Berlin 1968
Mohr, Bärbel (1998): Bestellungen beim Universum. Ein Handbuch zur Wunscherfüllung. Aachen 1998
Religionskritik Reader (2013): Religionskritik Reader Linksjugend Solid. Redaktion: Julian Plenefisch. Berlin 2013
http://www.linksjugend-solid-bw.de/wordpress/wp-content/uploads/2017/02/religionskritik-reader.pdf
Rosdolsky, Roman (1974): Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen Kapital. Der Rohentwurf des Kapital 1857–1858. 3 Bände. 3. Auflage, Frankfurt a. M./ Wien 1974
Fußnoten
1 Paula White speaking in Tongues, https://www.youtube.com/watch?v=vFOCAATdxyE
2Auch der christliche Gott war keineswegs ein personaler Gott. Vielmehr nahm die christliche Theologie die neoplatonische Tradition auf und setzte Gott und Logos in eins, so zu Beginn des Johannes-Evangeliums (1.1): „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“.
3Nichts dokumentiert die Überlegenheit der Idee der Nation gegenüber der Klasse im Reich der imaginären Gemeinschaften schlagender als die Reaktion der sowjetischen Führung auf den Überfall durch Hitler-Deutschland. Sie mobilisierte die Bevölkerung des Landes nicht zur Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften, sondern rief stattdessen wohlweislich den „Großen Vaterländischen Krieg” aus.
4Das System versachlichter Herrschaft trennt zwischen Person und Funktion. Jeder ist zwar gezwungen zu kaufen und zu verkaufen, aber es steht jedem Warenbesitzer frei, mit wem er Kauf- und Verkaufsbeziehungen eingeht, und es bleibt ihm überlassen, den Weg zum Markterfolg zu finden. Diese zur Exekution versachlichter Herrschaft gehörenden Wahlmöglichkeiten sind dem warengesellschaftlichen Binnenbewusstsein Grund genug, die Warensubjekte als souveräne Gestalter ihrer Existenz wahrzunehmen.
5Um diesem Umstand terminologisch Rechnung zu tragen, habe ich in dem Text „Die Exhumierung Gottes” (Krisis 32) zur Bezeichnung der neoreligiösen Strömungen unserer Tage den Begriff des Religionismus eingeführt. Er soll gleichermaßen die innere Verwandtschaft mit den Diesseitsreligionen betonten und den fundamentalen Unterschied zu traditionellen Formen von Religiosität. Es ist nun einmal nicht dasselbe, ob die Berufung auf Gott die Unterwerfung unter einen unergründlichen göttlichen Willen oder die Indienstnahme Gottes durch ein kollektives Willenssubjekt beinhaltet.
6Nur auf dem Mutterkontinent der Säkularisierung kommen die zerfallsnationalistischen Strömungen weitgehend ohne neoreligiöse Beimengungen aus.