Warum Kapitalismus zu Verzicht nötigt und wir viel weniger arbeiten könnten
von Lothar Galow-Bergemann und Ernst Lohoff
Auszug aus dem gleichnamigen Text im Buch Shutdown. Klima, Corona und der notwendige Ausstieg aus dem Kapitalismus ISBN 978-3-89771-292-8, Unrast Verlag, 14,00 €
Die Welt, die wir kennen, zerfällt im Eiltempo. Seit Jahren stellt sich wie von selbst das Wort Krise ein – gleich ob von Klima, Finanzen, Wirtschaft, Sozialsystemen, Demokratie, Migration oder internationalen Beziehungen die Rede ist. In den kritischen Sozialwissenschaften ist von einem Zeitalter der »multiplen Krisen« die Rede (Brandt/Wissen 2017). Mit der Ausbreitung des Coronavirus hat sich diese allgemeine Krise in einer Geschwindigkeit und einem Ausmaß zugespitzt, wie es sich bis dahin kaum jemand vorstellen konnte.
Die Corona- und Klimakrise führen vor Augen, wie ›unsere Wirtschaft‹ vor den existenziellen Herausforderungen der Zeit versagt. Ewiges Wachstum, maximaler Profit und steigende Aktienkurse sind das Lebenselixier der Wirtschaft. Ohne sie fängt sie sofort an zu kriseln. Die Klimakrise offenbart, dass ein auf Unendlichkeit programmiertes Wachstum eher mittel- als langfristig auf die Zerstörung des Planeten hinauslaufen wird. Die Herausforderung durch die Corona-Pandemie führte dagegen schlagartig vor Augen, dass so eine Wirtschaft in kürzester Zeit Leichenberge produzieren kann1, wenn ihr nicht massiv in die Speichen gegriffen wird. Der Marktwirtschaft Zügel anzulegen, bemühten sich zunächst viele Staaten – in unterschiedlichem Ausmaß und insgesamt mehr schlecht als recht. Übrigens führten sie damit bemerkenswerterweise im Handumdrehen vieles ad absurdum, was bis dahin als unumstößlich und heilig galt – von der Schuldenbremse bis hin zum Glauben an das angeblich so segensreiche Wirken des Marktes selbst. Für einen kurzen Moment lag offen zutage, dass Handeln gegen die betriebswirtschaftliche Logik des Kapitals nicht nur möglich, sondern auch überlebensnotwendig ist. Das ist eine wichtige Erfahrung, die wachgehalten werden sollte, denn sie ist von großem Wert für jede emanzipatorische Bewegung.
Doch es dauerte nicht lange und die brutalen Zwänge der Kapitalverwertung verschafften sich gegen die halbherzigen gesundheitspolitischen Maßnahmen immer mehr Geltung. Bereits nach wenigen Tagen eines von Beginn an nur halbherzigen Shutdowns wurden die Stimmen immer lauter, die die Wirtschaft auf Teufel komm raus schleunigst wieder hochfahren wollten. In Deutschland gab Alexander Dibelius, ein Investmentbanker und Arzt(!), der die mörderischen Konsequenzen der betriebswirtschaftlichen Logik in schamloser Offenheit verteidigte, den Ton vor: »Ist es richtig, dass zehn Prozent der – wirklich bedrohten – Bevölkerung geschont, 90 Prozent samt der gesamten Volkswirtschaft aber extrem behindert werden, mit der unter Umständen dramatischen Konsequenz, dass die Basis unseres allgemeinen Wohlstandes massiv und nachhaltig erodiert?« (Handelsblatt, 23.03.20) Folgerichtig verharmloste er die Gefährdung durch eine Pandemie, die weltweit zu schwersten Gesundheitsschäden und vielen Todesopfern führt, zu »einer Grippewelle«, die »für die Menschheit nicht so fatal wie die Pest im Mittelalter oder ähnliche Seuchen« sei (ebd.). Die Denkweise des Investmentbankers, der dem Arzt in ihm keine Chance ließ, wurde bald tonangebend. Ein ganzer Chor von Ausstiegsdrängler*innen aus Wirtschaft und Politik stimmte bald diese Melodie an. Dies wurde umso populärer, als es sich auch schnell als enorm anschlussfähig an die Kreuz- und Querfront des vereinigten politischen Irrsinns erwies, wie sie sich schon bald in den sogenannten Corona-Demos zusammenfand. »Besser es sterben Menschen, als die Wirtschaft bricht ein« lautete die mal mehr, mal weniger offen ausgesprochene Botschaft. Denn genau darauf lief es im Prinzip immer wieder hinaus, gleich ob ein zynischer US-Präsident – die Zahl der offiziell registrierten Corona-Toten in seinem Land näherte sich gerade der 100.000er Grenze – für den Fall einer zweiten Pandemiewelle einen weiteren Lockdown kategorisch ausschloss (zdf.de, 22.5.2020) oder ob ein pseudophilosophisch daherschwurbelnder deutscher Parlamentspräsident meinte, man könne schließlich »nicht alles dem Schutz des Lebens unterordnen« (Der Tagesspiegel, 26.04.2020) und ein süddeutscher Oberbürgermeister meinte, es gehe ohnehin nur um »Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären« (Der Tagesspiegel, 28.4.2020). Wo sich die Ethik nach der Wirtschaft richten muss, brechen früher oder später alle Dämme der Humanität.
Auch in Deutschland waren die staatlichen Maßnahmen von Anfang an inkonsequent und widersprüchlich. Selbst zur Zeit der relativ stärksten Restriktionen mussten 60 Prozent der Beschäftigten weiterhin vor Ort arbeiten (Welt online, 02.04.2020) und durften das Virus zum Wohle der Wirtschaft weiterverbreiten. Menschen, die an Corona starben, hätten in Deutschland im Durchschnitt noch neun Lebensjahre vor sich gehabt (tagesschau.de, 08.05.2020). Gar nicht zu reden von all den Menschen im Globalen Süden, deren Infektion weder festgestellt noch behandelt wurde und die daran starben, ohne dass die Welt groß Notiz davon nahm. Armut und Hunger nahmen weltweit zu. Vor die Wahl zwischen Pest und Cholera gestellt, hieß das für viele Menschen: »Wir sterben lieber am Virus als zu verhungern« (Der Tagesspiegel, 04.06.2020). Eine Wirtschaft, die sich angesichts einer Pandemie als extrem stör- und krisenanfällig erweist, stahl und stiehlt weltweit vielen Menschen Leben und Gesundheit.
Doch all das markierte erst den Beginn der Verwerfungen. Fast alle Ökonom*innen rechneten mit einer schweren globalen Wirtschaftskrise im Gefolge der Corona-Krise. Bereits im Frühjahr schrieb etwa der Chefkommentator der Welt, Jaques Schuster, noch sei nicht klar, »ob die Folgen der Pandemie … Europa nur in eine schwere Rezession stürzen werden oder in eine tiefe Depression mit Staatsbankrotten und der Wiederkehr der Horde als politische Größe, so wie wir sie aus der Zwischenkriegszeit kennen« (Die Welt, 23.05.2020).
Das gigantische Krisenpotenzial des Kapitalismus wird heute noch nicht einmal mehr von seinen notorischen Fans abgestritten. Den Staaten und Zentralbanken blieb überhaupt nichts anderes übrig, als im Handumdrehen rund um den Globus Billionenbeträge für Rettungspakete zu generieren, die alles, was es bisher an ›Geldschöpfung‹ gab, bei Weitem in den Schatten stellten – selbst die in der Finanzkrise 2008/2009 und den Folgejahren. Eine ›solide‹ Deckung der staatlichen Ausgabenprogramme rückte in weitere Ferne denn je. So ging die EU-Kommission bereits im Frühjahr davon aus, dass sie die Anleihen, die sie dafür an den Finanzmärkten aufnehmen musste, erst im Jahr 2058 abgezahlt haben würde (FAZ, 27.05.2020). Das Bundesland Nordrhein-Westfalen plant bereits mit dem Jahr 2070 (Der Tagesspiegel, 25.03.2020). Wohlgemerkt, es geht hier nicht um die bereits in früheren Zeiten angehäuften Schuldenberge, sondern alleine um diejenigen, die nun noch obendrauf gesattelt wurden. Ob die Akteur*innen selbst noch an die Rückführbarkeit der explodierenden Staatsverschuldung glauben? Vermutlich nicht. Zumal in den nächsten Jahrzehnten, so sicher wie das Amen in der Kirche, weitere schwere Krisen folgen werden, die selbstverständlich wieder gigantische staatliche Rettungspakete notwendig machen.
Der mit dem Corona-Virus konfrontierte Kapitalismus bestraft die Menschen also gleich dreifach: Erstens mit weitaus größeren Schäden an Leben und Gesundheit, als sie eine neue Seuche in einer vernünftig eingerichteten Wirtschaft mit sich brächten. Zweitens mit sinkendem Lebensstandard für viele – bis hin zu verstärkter Armut und Hunger. Und drittens mit der Aussicht auf eine Zukunft mit noch mehr wirtschaftlichen und politischen Krisen. Was unter kapitalistischer Herrschaft erst geschähe, wenn sich das Virus als besonders hartnäckig und mutationsfreudig erwiese oder längere Zeit kein Impfstoff gefunden würde, kann man sich an fünf Fingern abzählen. An das Auftreten einer ganz neuen Pandemie, die möglicherweise eine deutlich höhere Sterblichkeitsrate aufweisen könnte als Covid 19, will man gar nicht erst denken. Wenn eine Wirtschaftsweise, die angesichts einer Herausforderung, die jederzeit wieder auftreten kann, derart ins Taumeln gerät und viele Menschen buchstäblich mit sich in den Abgrund reißt, dann entpuppt sich die Abkehr von ihr als eine Frage des nackten Überlebens.
Gegenüber dem lebensbedrohenden Potenzial der Klimakrise nimmt sich die Corona-Pandemie allerdings noch eher bescheiden aus. Die Erderwärmung führt zu einer dystopischen Zukunft mit steigendem Meeresspiegel, Überschwemmungen, Starkregen, Dürre, Hitzerekorden und Stürmen in immer schnellerer Abfolge. Alle Beteuerungen, dieser Prozess ließe sich mit ›marktwirtschaftlichen Instrumentarien‹ bekämpfen, überzeugen in etwa so wie der Versuch, ein brennendes Haus mit Benzin zu löschen. Der Nachhaltigkeitsdiskurs ist so neu nicht, wie er manchen immer noch scheint. Genauer gesagt ist er sogar ein ziemlich alter Hut. International wird er spätestens seit dem Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums (Dennis Meadows u.a.) im Jahr 1972 geführt. Dass wir uns trotz unzähliger Konferenzen, Beschlüsse und Erklärungen zur Nachhaltigkeit ein halbes Jahrhundert später auf dem Weg in eine Klimakatastrophe befinden, verweist auf die prinzipielle ökologische Inkompetenz der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Wenn schließlich die EU-Kommissionspräsidentin bei Ankündigung ihres ›Klimapakets‹ im Jahre 47 nach 1972 erklärte, der Klimaschutz müsse ausgerechnet zum Wachstumsmotor werden (Deutschlandfunk, 30.11.2019), sagt das alles über die Aussichten des Weltklimas unter kapitalistischen Bedingungen.
Selbst wenn ein Wunder geschähe und trotz Wirtschaftswachstums dank des beschleunigten Ausbaus von Windkraft und Solarenergie und des Übergangs zur Elektromobilität der CO2-Ausstoß entscheidend zurückginge, wäre wenig gewonnen. Denn die Klimakrise ist nur ein Aspekt einer umfassenden Ressourcen- und Biosphärenkrise, und solange der Wachstumszwang unangetastet bleibt, wird eine Reduktion der Emission von Treibhausgasen immer nur mit einem verschärften Raubbau bei den anderen, nicht fossilen Naturressourcen erkauft.2
Dass der Wachstumszwang beseitigt werden muss, um den Prozess der Erderwärmung noch unter Kontrolle zu bekommen, demonstrierte auf seine Weise der Lockdown im Frühjahr 2020. Kaum war der Wachstumsmotor pandemiebedingt gedrosselt, zeigten sich schon schlagartig bedeutende positive ökologische Effekte. Das galt etwa für die Luft- und Wasserqualität. So zeigten Satellitenaufnahmen der NASA einen signifikanten Rückgang von Stickoxid- und Feinstaubemissionen (Wissenschaft.de, 19.03.2020). Was die Politik seit Jahrzehnten nicht zuwege bringt, war im Kampf gegen den Virus ganz nebenbei im Handumdrehen geschafft. In dem Maße, wie der Lockdown beendet wurde, war es mit all diesen positiven Erscheinungen freilich sofort wieder vorbei.
Der kurzzeitige ökologische Kollateralnutzen des Lockdown hat überzeugend vor Augen geführt, dass die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie nicht ohne die Befreiung der Reichtumsproduktion vom Wachstumszwang zu haben ist. Die Reichtumsproduktion lässt sich aber wiederum nicht vom Wachstumszwang befreien, ohne eine Neubestimmung dessen, was gesellschaftlicher Reichtum überhaupt sein soll. Denn wenn wir sagen, jemand sei reich und damit meinen, er besitze viel Geld oder Kapital, reproduzieren wir lediglich einen ganz spezifischen Begriff von Reichtum – den kapitalistischen. Was aber Menschen wirklich zum Leben brauchen, ist stofflicher Reichtum wie Nahrung, Kleidung, Wohnung, Bildung, Wissen(schaft), Gesundheit, Kultur usw. Dass heutzutage z.B. die Versorgung einer Gesellschaft mit Lebensmitteln davon abhängt, dass u.a. die Chemie- und Automobilindustrie ›profitabel‹ sind – weil es nämlich nur dann ›Arbeitsplätze‹ und ›Kaufkraft‹ geben kann – hat keinerlei stofflichen Begründungszusammenhang, sondern ist allein der abstrakten Reichtumsproduktion des Kapitalismus geschuldet.3 Der Übergang zu einem neuen Reichtumskonzept beginnt zwar im Kopf; freilich genügt ein Wechsel der Vorstellung vom Reichtum nicht. Damit die gesellschaftlichen Verhältnisse sinnliche Vernunft annehmen, ist es unerlässlich, den gesellschaftlichen Reichtum der kapitalistischen Form zu entkleiden. Die Gesellschaft muss dazu übergehen, keine Waren mehr zu produzieren, sondern simple Güter. Wir brauchen eine Produktion, die – anders als die Produktion von Waren – keinem anderen Zweck dient als dem der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Die Auflösung der Gesellschaft in getrennte Privatproduzenten und die Herrschaft des abstrakten Reichtums, der sich in Geld darstellen muss, sind zu überwinden.
Diese Perspektive mutet zunächst einmal fremdartig an. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie einen Zustand als gesellschaftliches Ziel propagiert, der laut herrschender Doktrin immer schon existiert. Folgt man der offiziellen Lesart, sind Gütererzeugung und Warenproduktion grundsätzlich ein und dasselbe und die sinnlichen Bedürfnisse der Menschen stellen auch in der kapitalistischen Gesellschaft Alpha und Omega allen Wirtschaftens dar. Laut Duden, der sich an die Definitionen der VWL-Lehrbücher hält, ist unter einem »Wirtschaftsgut« nämlich ein »Gut, das der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient« zu verstehen. Und das Wort Wirtschaft bezeichnet angeblich die »Gesamtheit der Einrichtungen und Maßnahmen, die sich auf Produktion und Konsum von Wirtschaftsgütern beziehen«.4 Dass Reichtum sich in Geldgrößen misst und darstellt, erscheint in dieser Sicht als eine rein technische Angelegenheit.
Karl Marx hat schon im 19. Jahrhundert mit seiner Kritik der politischen Ökonomie dargelegt, warum dieses Verständnis in die Irre führt und inwiefern Gütermarktwaren Teil des gesellschaftlichen Reichtums sind. Nicht ihres Gebrauchswerts wegen verkörpern Rock, Leinwand, Auto und Co. gesellschaftlichen Reichtum, sondern einzig und allein soweit sie Tauschwert und damit abstrakten Reichtum repräsentieren. Dessen permanente Vermehrung, der selbstzweckhafte Prozess der Verwandlung von Geld in mehr Geld, bildet in der warenproduzierenden Gesellschaft den eigentlichen Inhalt aller Ökonomie.
Wenn es eines Beweises bedurft hätte, dass die offizielle Doktrin der kapitalistischen Wirklichkeit nicht gerecht wird, die Corona-Pandemie liefert ihn – und zwar in Gestalt der unabsehbaren ökonomischen Kosten und Lasten des Shutdowns. Versetzen wir uns für einen Moment in eine Gesellschaft, in der die Reichtumsproduktion tatsächlich keinen anderen Inhalt hätte, als den, Menschen zu versorgen, und in der Tauschwert und abstrakter Reichtum keine Rolle spielen würden. Sähe sich eine solche Gesellschaft pandemiebedingt zu einem solchen Shutdown gezwungen, wie er im Frühjahr 2020 stattfand, dann blieben die Folgen äußerst begrenzt. Bekanntlich legt ein Virus wie Sars-CoV-2 keine Häuser in Schutt und Asche, er setzt weder Computer außer Gefecht noch zerstört er Maschinen oder beschädigt die Infrastruktur. Selbst in den direkt vom Shutdown betroffenen Wirtschaftssektoren bleibt der schon bestehende stoffliche Reichtum völlig unberührt. Wenn ein Restaurant für einige Wochen schließen muss, bleibt zwar die Küche kalt und die Gaststube leer, aber weder die Baulichkeiten noch die Einrichtung nehmen Schaden. Und auch was Köchin und Kellner angeht, bedeutet die Zwangspause keinerlei Verlust von Know-how. Rein stofflich betrachtet, kann Sars-CoV-2 nur in zweierlei Hinsicht Wohlstandsverluste nach sich ziehen. Zum einen muss die Gesellschaft, um Leben zu schützen, mehr menschliche und materielle Ressourcen für den Medizinsektor mobilisieren als üblich, Ressourcen, die für andere Verwendung nicht mehr zur Verfügung stehen. Zum anderen stellen die von Einschränkungen betroffenen Wirtschaftszweige weniger neue Güter und Dienste zur Verfügung als ohne diese. Dabei handelt es sich selbstverständlich aber um ein auf die Dauer der Restriktionen befristetes Phänomen.
Was den Verlust an stofflichem Reichtum angeht, gab es selbstverständlich zahlreiche, weit einschneidendere Ereignisse in der Geschichte als die Corona-Pandemie. Das schlimmste des 20. Jahrhunderts war der Zweite Weltkrieg. Da die kapitalistische Gesellschaft gnadenlos alles in Geldgrößen übersetzt,5 werden perverserweise auch die verlorenen Menschenleben, Kriegszerstörungen und an Kriegszwecke verschwendeten produktiven Potenziale zu einer Geldsumme aufaddiert. Nach gängigen Schätzungen von Historikern kostete der Zweite Weltkrieg die USA, das Land mit der bei Weitem größten Kriegswirtschaft, nach heutigem Wert 4 Billionen Dollar bzw. knapp 3,4 Billionen Euro.6 Diese Größenordnung ist insofern höchst aufschlussreich, als sie einen Vergleichsmaßstab für die Kosten der Corona-Pandemie liefert. Natürlich ist es noch nicht absehbar, wie hoch diese schließlich ausfallen werden. Das hängt nicht zuletzt auch vom weiteren Verlauf der Pandemie ab. Allerdings könnten nach Schätzungen der Deutschen Bank allein die Maßnahmen im Frühjahr 2020 den deutschen Staat bis zu 1,9 Billionen Euro kosten und damit ungefähr genauso viel wie der gesamte Prozess der Wiedervereinigung.7 Hinzu kommen noch die Notfall-Anleihekaufprogramme der EZB. Schon im März hatten die Frankfurter Währungshüter das Pepp (= Pandemic Emergency Purchase Programme) in Höhe von 750 Mrd. Euro gestartet, das bereits im Juni auf 1,35 Billionen Euro aufgestockt wurde.8 Im Vergleich zu den Verwüstungen, die der Zweite Weltkrieg angerichtet hat, dürften sich die Verluste an stofflichem Reichtum im Gefolge der Corona-Pandemie im Promillebereich bewegen. Die volkswirtschaftlichen Gesamtkosten bewegen sich hingegen in einer ähnlichen Größenordnung. Würde die bürgerliche Ökonomie ihre eigenen Grundannahmen ernst nehmen, dann müsste sie angesichts dieser Diskrepanz ihre eigene Disziplin in die Mülltonne treten. Wenn Geld, wie immer behauptet wird, wirklich nur ein technisches Mittel zur Vermittlung von Gütern wäre und die monetären Flüsse lediglich die Bedürfnispräferenzen der Menschen und stofflichen Flüsse abbildeten, dann könnte es die immensen wirtschaftlichen Kosten, die alle Wirtschaftsexpert*innen sehen, gar nicht geben.
Fasst man dagegen in Anlehnung an Marx die Bildung abstrakten Reichtums und dessen permanente Vermehrung als den tatsächlichen Inhalt des ökonomischen Treibens in der Warengesellschaft, dann ist es nicht mehr rätselhaft, warum die kapitalistische Ökonomie auf den Shutdown derart überempfindlich reagiert. Maschinen kann man an- und abstellen, ohne dass sie Schaden nehmen. Menschen müssen sogar pausieren, um arbeitsfähig zu bleiben. Das gesellschaftliche Verhältnis Kapital, also der selbstzweckhafte Prozess der Verwandlung von Geld in mehr Geld, kann dagegen nicht einfach eine Pause einlegen, um einige Wochen später dort weiterzumachen, wo er aufgehört hat. Jeder Stillstand, ja sogar eine bloße Verlangsamung des Kapitalkreislaufes stellt bereits Kapitalvernichtung dar und ist deshalb für ›unsere Wirtschaft‹ fatal.
Was Einzelunternehmen angeht, springt dieser Zusammenhang unmittelbar ins Auge. Während des Shutdowns läuft das Gros der Betriebsausgaben weiter, während die Einnahmen einbrechen. Das bedeutet ein Schrumpfen des Kapitalstocks und dementsprechend setzt ein Neustart entweder genügend Reserven voraus oder er muss mit neuen Krediten finanziert werden. Das ist aber noch nicht alles. Die Welt des abstrakten Reichtums umfasst neben den Gütermarktwaren noch eine zweite Abteilung, nämlich die auf den Kapitalmärkten gehandelten Waren, etwa Aktien und Anleihen. Dieser Teil des abstrakten Reichtums bildet sich durch die Vorabverwandlung von Renditeerwartungen in zusätzliches gesellschaftliches Kapital (vgl. Lohoff/Trenkle 2012 sowie Lohoff 2014). Dieses fiktive Kapital (Marx) reagiert seiner eigentümlichen Entstehung wegen besonders sensibel auf einen Shutdown. Wenn sich Gewinnerwartungen in Luft auflösen und Unternehmen in die roten Zahlen rutschen, dann bekommt das dem Kurs ihrer Aktien nicht gut und auch die Anleihen solcher Unternehmen können notleidend werden. Es droht die massenhafte »Entwertung« von fiktivem Kapital (vgl. Lohoff/Trenkle 2012). Die exzessive Geldpolitik der Zentralbanken ist ausschließlich darauf gerichtet, diese Gefahr zu bannen, während die Regierungen mit ihren kreditfinanzierten Programmen primär Ersatz für entwertetes fungierendes Kapital schaffen.
Die Herrschaft des abstrakten Reichtums, die Ausrichtung der Wirtschaft auf die selbstzweckhafte Vermehrung von Geld in mehr Geld macht die Wirtschaft krisenanfällig. Diese Eigentümlichkeit wird durch die Abhängigkeit des heutigen Kapitalismus von der Finanzmarktdynamik noch einmal extrem gesteigert. Die absurde Reichtumsform des abstrakten Reichtums wird aber nicht erst mit dem Krisen-Stakkato unserer Tage zum Problem. Unter dem Gesichtspunkt der sinnlichen Vernunft und der menschlichen Bedürfnisse ist auch schon der ›Normalzustand‹ des Kapitalismus ein Skandal. Wir bezahlen unseren Gehorsam gegenüber der Diktatur des abstrakten Reichtums seit jeher mit dem Verlust jeder Menge Lebenszeit und -qualität. Das wird uns allerdings erst dann bewusst, wenn wir die historische Besonderheit dieser Reichtumsform durchschaut haben und verstehen, dass sie weder Gottes Wille noch Naturgesetz ist, wir sie folglich auch wieder aus der Welt schaffen können. Und nicht nur das: wir werden es bei Strafe unseres Untergangs sogar tun müssen.
Wofür müssen wir in diesen sogenannten ›normalen‹ Zeiten eigentlich arbeiten? Wie viel Lebenszeit müssen Millionen Menschen mit Tätigkeiten zubringen, die mit der Versorgung mit den nötigen Gebrauchsgütern gar nichts zu tun haben, sondern einzig und allein mit der Aufrechterhaltung der warengesellschaftlichen Ordnung? Man denke nur an die Finanzindustrie, die Banken und Versicherungen, überhaupt das gesamte Geldwesen. Wie viel menschliche und natürliche Ressourcen werden für Steuerwesen, Handel und Werbung verschleudert, wie viel für die Arbeitsverwaltung, für Justiz, Polizei, Gefängnisse, Rüstung, Militär? Wie viele Menschen machen Überstunden ohne Ende, erleiden Herzinfarkt und Burnout, reiben sich im brutalen Konkurrenzkampf auf – alleine dafür, dass ›ihre‹ Firma mehr überflüssige und schädliche Autos produziert als die ›Mitbewerber‹, die genauso um die Gunst des Marktes buhlen müssen? Und dort, wo es doch eigentlich um das wirklich Notwendige gehen müsste, sei es in der Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung oder im Bildungswesen – wie viel Arbeitszeit geht auch da allein dafür drauf, sicherzustellen, dass diese Bereiche wenigstens noch halbwegs ›finanziert‹ werden können? Wie viele Schiffe und Flugzeuge werden alleine aus dem Grund gebaut, weil die abstrakte Reichtumsproduktion den ewigen Wettlauf um das ›preisgünstigste Angebot‹ verlangt, und sei es auch 10.000 km weit entfernt? Wie viel Energie und Ressourcen, wie viel menschliche Kraft und Fähigkeiten verbrauchen sie, wenn sie permanent und in immer höherer Stückzahl und immer engerem Takt den Globus umrunden? Wie viele Materialtransporte und Reisen von Menschen, wie viele Computer, wie viele Bürogebäude und Produktionsstätten dienen alleine dem Zweck, die Produktion schnelllebiger, überflüssiger und umweltschädlicher Dinge auf immer neue Höhen zu treiben, weil sich das betriebswirtschaftlich rechnet – mit der Folge, dass es danach logischerweise noch mehr von diesen Materialtransporten, Reisen, Computern, Bürogebäuden und Produktionsstätten gibt? Wie viele Menschen sind mit Herstellung, Handel und Bewerbung von Produkten befasst, die innerhalb kurzer Zeit kaputtgehen und durch neue, ebensolche ersetzt werden müssen (Valdivia 2004)?
Radikale Arbeitszeitverkürzung ist möglich, aber nicht im Kapitalismus …
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Fußnoten
1 So transportierte im März 2020 ein nächtlicher Konvoi von Militärfahrzeugen im italienischen Bergamo die Leichen von Corona-Opfern ab, weil der dortige Friedhof überfüllt war (Der Tagesspiegel, 19.03.2020), in New York City wurden Leichen in Kühlwagen gestapelt, weil die Beerdigungskapazitäten nicht ausreichten (Der Tagesspiegel, 01.05.2020) und in Ecuador blieben die Leichen einfach auf Straßen und in Wohnungen liegen (Frankfurter Rundschau, 15.04.2020).
2 Ein ›qualitatives Wachstum‹ ist ein Hirngespinst, das die Verlagerung von Naturverbrauch auf neue Ressourcen mit dessen Reduktion verwechselt. Vgl. dazu den Beitrag Wie Sand am Meer von Ernst Lohoff in diesem Band.
3 Vgl. zum Begriff des abstrakten Reichtums und zur Frage seiner Aufhebung auch den Text Verdrängte Kosten von Norbert Trenkle in diesem Band.
4 www.duden.de: Stichworte ›Wirtschaftsgut‹ und ›Wirtschaft‹.
5 Man kann die bunte Vielfalt qualitativ verschiedener Gebrauchsgüter nicht in eine Geldgröße übersetzen, ohne von ihrer stofflichen Seite zu abstrahieren und als abstrakten Reichtum zu behandeln. Die bürgerliche Ökonomie hat zwar keinen Begriff des abstrakten Reichtums, dafür behandelt sie de facto den stofflichen Reichtum immer schon als Darstellungsform abstrakten Reichtums.
7 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/kosten-der-corona-hilfen-1900-000-000-000-euro-16761836.html
8 https://www.handelsblatt.com/finanzen/geldpolitik/anleihekaeufe-aufgestockt-ein-krisenprogramm-von-1-35-billionen-euro-die-ezb-geht-in-die-vollen/25886928.html