Anmerkungen zu Aaron Benanavs Vision einer Welt ohne Mangel
erschienen in Navigationen 2/2022
von Ernst Lohoff und Daniel Nübold
Wer das schmale Suhrkamp-Bändchen Automatisierung und die Zukunft der Arbeit von Aaron Benanav kauft, erhält eigentlich zwei Bücher. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Frage, ob dieser Gesellschaft die Arbeit ausgehe oder nicht. Benanav kritisiert die weitverbreitete These einer kommenden technologischen Arbeitslosigkeit vehement. Ansichten, wie sie etwa die London School of Economics vertritt, der zufolge mit dem Übergang zur Industrie 4.0 in den nächsten Jahren rund die Hälfte der Jobs in der EU wegfallen könnten, ohne dass auch annähernd so viel neue Beschäftigung entstünde, verwirft er kategorisch. Im zweiten Teil des Buches löst er sich von dieser engen Fragestellung und erörtert, wie eine vom Mangel befreite Gesellschaft aussehen könnte. Dabei stützt er sich nicht nur auf das klassische utopische Denken, etwa von Thomas Morus. Viele Anregungen verdankt er auch der Science-Fiction Literatur. Insbesondere Star Trek hat es ihm angetan. Im dortigen Universum haben die Menschen nicht nur den Mangel überwunden, sondern auch die Geldwirtschaft. Wo es gilt, unendliche Weiten zu entdecken, ist Arbeitslosigkeit unvorstellbar.
Für die reale Welt bestreitet Benanav das Phänomen struktureller Massenarbeitslosigkeit bzw. chronischer Unterbeschäftigung nicht. »Es gibt schlichtweg zu wenige Jobs« (S. 28) und das weltweit. Das sei allerdings nicht technologisch bedingt, sondern einer ausgeprägten Wachstumsschwäche geschuldet. »Mit dem Wachstum der Wirtschaft verlangsamt sich auch das der Beschäftigung, und ebendies – nicht der technologische Wandel – hat die Nachfrage nach Arbeit weltweit gedämpft.« (S. 9) Die wirtschaftliche Stagnation konstatiert der Wirtschaftshistoriker Benanav freilich nur und lässt seine Leser:innen über deren Ursache im Unklaren. Selbstverständlich leugnet Benanav nicht, dass mit dem technologischen Wandel bestimmte Beschäftigungssektoren im Verschwinden begriffen seien, so wie früher schon »Telefonistinnen oder Stahlarbeiter, die ihren Werkstoff mit der Zange in die Walze schieben.« (S. 24) Er bestreitet aber energisch, dass dieser Verdrängungsprozess gegenüber früheren Phasen kapitalistischer Entwicklung eine neue Qualität habe und nicht durch das Wachstum in anderen Bereichen kompensiert werden könne. Die Grundannahme des Automatisierungsdiskurses hält Benanav für grundfalsch: »In Wirklichkeit beschleunigt sich das Wachstum der Arbeitsproduktivität nämlich nicht, sondern lässt nach.« (S. 8)
Produktivität ist nicht gleich Produktivität
Es mangelt Benanav nicht an prominenten Kronzeugen für diese These. Unter anderen beruft er sich auf den Ökonomen und Urheber des »Produktivitätsparadoxons« Robert Solow und zitiert dessen berühmte Sentenz: »Wir können das Computerzeitalter überall feststellen, nur nicht in der Produktivitätsstatistik.« (S. 38) Und in der Tat: Die volkswirtschaftlichen Produktivitätsstatistiken bieten alle das gleiche Bild. Die Kurve der Arbeitsproduktivität steigt zwar, aber ausgesprochen gemächlich. Noch nie in der Geschichte des Kapitalismus fiel der Anstieg so flach aus wie in den letzten Jahrzehnten.
Ist damit aber wirklich die Debatte um die Industrie 4.0 als der große Jobkiller empirisch widerlegt? Nein. Benanav übersieht nämlich, dass die Vertreter des »Produktivitätsparadoxons« und des Automatisierungsdiskurses zwar beide das Wort Arbeitsproduktivität im Munde führen, dabei aber höchst unterschiedliche Sachverhalte im Auge haben. Der Automatisierungsdiskurs argumentiert, wenn er von einer explodierenden Produktivität spricht, auf der stofflichen Ebene. Er thematisiert das Verschwinden lebendiger Arbeit aus den Betriebsabläufen und fasst dementsprechend Output als die produzierte Gütermenge. Die Arbeitsproduktivität hat sich verdoppelt, wenn sich der Ausstoß an Autos, Stahl usw. pro Arbeitsstunde verdoppelt. Die Kennzahlen der Wirtschaftsforschung messen dagegen den Geldwert der erzeugten Güter. Die Produktivität pro Arbeitsstunde hat sich in den Wirtschaftsstatistiken verdoppelt, wenn die Einnahmen aus dem Verkauf der pro Arbeitsstunde erzeugten Güter sich verdoppeln. Wie alle Vertreter des Produktivitätsparadoxons operiert auch Benanav mit rein monetären Größen, unterstellt aber, dass er damit die stoffliche Produktivität adäquat erfassen würde.
Diese Vermischung zweier völlig unterschiedlicher Fragen zeigt sich insbesondere an den Definitionen, die Benanav seiner Analyse zugrunde legt. »Output […] bezeichnet den Umfang der Produktion (wie viel hergestellt wird), verstanden als reale bzw. inflationsbereinigte Wertschöpfung der jeweiligen Branche.« (S. 40) Die Wertschöpfung, die er hier anführt, wird entgegen seiner eigenen Beschreibung nicht in der Menge der produzierten Gebrauchswerte gemessen (»wie viel hergestellt wird«), sondern in einer Währungseinheit. Dementsprechend ist für ihn der Output einer gesamten Volkswirtschaft identisch mit dem Bruttoinlandsprodukt (BIP). Damit ist die Begriffsverwirrung komplettiert. Das BIP umfasst nämlich nicht nur die Preise jener Waren und Dienstleitungen, die der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dienen, sondern jedes durch Wirtschaftstätigkeit erzielte Einkommen, auch wenn diese keinen anderen Inhalt hat als das Hin- und Herschieben von Geld, wie etwa im Finanzsektor.
Solange »Technologie […] die Arbeiter produktiver, aber nicht Arbeit überflüssig« macht, »geht von ihnen eine effektive Nachfrage nach Gütern aus« (S. 26) und der Absatz der kapitalistischen Waren bleibt gesichert. Benanav weist explizit darauf hin, dass es bei dieser Konstellation nicht unbedingt bleiben muss: »Diese fragile Klammer, die kapitalistische Gesellschaften zusammenhält, kann ein technologischer Durchbruch jederzeit zerstören.« (Ebd.)
Für Benanav ist das eine theoretische Möglichkeit, die dereinst eintreten kann oder auch nicht – ohne Bedeutung für die gegenwärtige historische Situation. Wer sauber zwischen stofflicher und monetärer Produktivität unterscheidet, kommt freilich zu einem anderen Ergebnis. Das »Produktivitätsparadoxon« beweist keineswegs, dass die These von der beschleunigten Verdrängung lebendiger Arbeit empirisch unhaltbares »leeres Gerede« (S. 18) sei. Vielmehr betrachten die Vertreter:innen des Automatisierungsdiskurses und die Anhänger:innen des Produktivitätsparadoxons zwei Seiten der gleichen Medaille. Gerade weil die stoffliche Produktivität explodiert und es zu einer massenhaften Freisetzung lebendiger Arbeit kommt, sinkt die Profitabilität in der Realwirtschaft und verlagert sich der Schwerpunkt der Kapitalakkumulation hin zur Finanzindustrie. Das Zerbrechen der »fragilen Klammer« ist also alles andere als ferne Zukunftsmusik, wie Benanav unterstellt. Sie hat längst begonnen.
Auf Umwegen in die befreite Gesellschaft
Benanav hat durchaus Sympathien für den linken Flügel im Automatisierungsdiskurs. Vor allem macht er sich die Perspektive zu eigen, dass »der Kapitalismus eine nur vorübergehende Produktionsweise sein könne, die einer neuen, nicht mehr auf Lohnarbeit und monetärem Güteraustausch beruhenden Form von gesellschaftlichem Leben weichen werde.« (S. 26) Auf Distanz zum Automatisierungsdiskurs geht Benanav allerdings insofern, als er ihm Technikdeterminismus attestiert und eine Tendenz zu technokratischen Lösungen. Das Ziel einer von Mangel befreiten Gesellschaft, so Benanavs Plädoyer, sei völlig unabhängig von der technologischen Entwicklung anzupeilen und nicht mit dieser zu verkoppeln.
Im Zentrum seiner Emanzipationsvorstellung steht nicht die Veränderung der Technik, sondern die Veränderungen der gesellschaftlichen Beziehungen: »Wenn Vollautomatisierung sowohl als Traum wie als Albtraum erscheinen kann, dann weil sie nicht zwingend mit menschlicher Würde verbunden ist und nicht von selbst zur Überwindung von Mangel führen wird – ebenso wenig wie das bedingungslose Grundeinkommen.« (S. 149f.) Stattdessen betont er, »dass die entscheidende Voraussetzung für eine Welt jenseits des Mangels nicht in der bedingungslosen Verteilung von Geld liegt, […] sondern in der Abschaffung von Privateigentum und monetärem Austausch zugunsten geplanter Kooperation.« (S. 132f.)
So viel ist für ihn klar: Mit einer Renaissance irgendeiner realsozialistischen Planwirtschaft hat »gerechte Kooperation« (S. 138) nichts zu tun: »Zentralistische Planung hat sich als wirtschaftlich irrational und ökologisch verheerend erwiesen«. (S. 131) Aufgrund dieser weitreichenden Zielsetzung kann sich Benanav auch nicht so recht mit dem oft als Antwort auf die Krise der Arbeit gehandelten bedingungslosen Grundeinkommen anfreunden. Zwar würde dessen Einführung eine Entkoppelung des Einkommens vom Arbeitszwang bedeuten, was in Zeiten schwindender Nachfrage nach Arbeitskraft als Lösung erscheint; einer Überwindung der herrschenden Verhältnisse käme man damit aber nicht näher. Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde nämlich »an der Beziehung zwischen Einkommen und Vermögensbesitz nichts ändern« (S. 127). Aus diesem Grund »könnte sich eine Wirtschaft, die schon heute darauf ausgelegt ist, Menschen auf eine atomisierte Existenz zu reduzieren, mühelos mit einem BGE arrangieren.« (S. 126)
Eine Welt jenseits des Mangels – das ist für Benanav das Ziel, auf den eine emanzipatorische Bewegung ausgerichtet sein muss. Die Vorstellung einer vom Mangel befreiten Gesellschaft ist auch im Automatisierungsdiskurs insofern zentral, als dort die technologische Vollautomatisierung zur Voraussetzung einer vom Mangel befreiten Gesellschaft verstanden wird. Diese Argumentation kehrt Benanav um: »Anstatt eine vollautomatisierte Wirtschaft vorauszusetzen und sich die dadurch gegebenen Möglichkeiten zum Aufbau einer besseren und freieren Welt auszumalen, könnten wir von einer Welt der universellen Menschenwürde ausgehen und dann fragen, welcher technische Wandel nötig wäre, um sie zu verwirklichen.« (S. 133) Benanavs Perspektivwechsel ist insofern berechtigt, als technischer Wandel nicht im luftleeren Raum stattfindet, sondern von der Gesellschaft geprägt ist, in der er stattfindet. Das gilt insbesondere für die kapitalistische Gesellschaft, in der die Gebote betriebswirtschaftlicher Rentabilität darüber entscheiden, welche Technologien sich letztlich durchsetzen und welche nicht. Das Ende des Mangels kann schon deshalb nicht einem vermeintlichen Selbstlauf der Technikentwicklung entspringen, weil »in kapitalistischen Gesellschaften entwickelte Technologien nicht neutral sind: Sie sind so entworfen, dass sie die Herrschaft des Kapitals verkörpern, nicht um die Menschen von Mühsal zu befreien.« (S. 140f.)
Soziale Verhältnisse als Quelle des Reichtums
Nicht durch technische Innovationen kann sich die Gesellschaft von der Herrschaft des Mangels befreien, entscheidend ist vielmehr die Veränderung der sozialen Beziehungen. »Fülle ist […] ein gesellschaftliches Verhältnis: Es beruht auf dem Prinzip, dass in keiner Beziehung, die man zu anderen unterhält, die Fähigkeit, die eigene Existenz zu sichern, auf dem Spiel steht.« (S. 143) So fruchtbar solche Überlegungen auch sind, sie bleiben für Benanavs Analyse merkwürdig konsequenzlos. Das hängt mit dessen auf die altehrwürdige Klassenfrage fixiertem Kapitalismusverständnis zusammen. Bei aller inneren Distanz zu traditionellen linken Vorstellungen – das Kernmerkmal des Kapitalismus stellt für ihn die Verfügungsmacht der Kapitalistenklasse über die Produktionsmittel dar und »ihre Entscheidungshoheit über Investitionen« (S. 129). Sobald er das Bild einer vom Mangel befreiten Gesellschaft zu zeichnen versucht, ist ihm zumindest über weite Strecken der fundamentale Unterschied zwischen monetärem Reichtum und stofflichem Reichtum gegenwärtig. Solange Benanav Kapitalismusanalyse betreibt, wird beides, wie in der VWL üblich, einfach gleichgesetzt, was zu der schon geschilderten Verwechslung von Profitabilität mit Produktivität führt.
Diese Diskrepanz im Umgang mit der Frage der Reichtumsform ist der tiefere Grund, warum das Buch, wie schon eingangs erwähnt, in zwei Teile zerfällt. Nur wo er den Umweg über die Science-Fiction und die Utopie geht, begreift Benanav, inwiefern sich eine Welt ohne Mangel vom Kapitalismus abheben muss. Wo er glaubt, die kapitalistische Wirklichkeit empirisch zu erfassen, fällt er hinter genau diese Erkenntnis zurück.