18.05.2022 

Bildung in Zeiten des Neoliberalismus

Die neoliberale Ideologie, wonach Gesellschaftlichkeit allein aus ökonomischem Wettbewerb bestehen soll, beherrscht immer noch unser Leben. Das zeigt sich auch im Bildungssystem.

Peter Samol

Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Monatszeitung OXI – Wirtschaft anders denken 5/22 veröffentlicht.

In den ersten beiden Jahrzehnten nach der Jahrtausendwende wurden Kindergärten, Schulen und Universitäten zahlreichen Reformen unterworfen. Zwar waren nicht alle davon erfolgreich, durchgesetzt hat sich jedoch die Tendenz, die Bildung junger Menschen ganz an den Bedürfnissen des Marktes auszurichten. Wichtige Akteure aus der Wirtschaft standen bei dieser Entwicklung Pate. So sagte etwa Jürgen Kluge, seinerzeit Chef der Unternehmensberatung McKinsey, im Jahr 2003, dass das Bildungssystem fungieren müsse wie eine „durchgängige Prozesskette“. Der Ausdruck stammt eigentlich aus der Industrieproduktion. Und die damalige Vize-Präsidentin der Deutschen Industrie- und Handelskammer, Dagmar Bollin-Flade, forderte 2005, die Arbeitsweltorientierung solle stärker im Schulprogramm verankert werden. Solche Rufe blieben nicht unerhört und die Lehrpläne wurden zunehmend auf jene Inhalte fokussiert, die der Arbeitsmarkt nachfragt. Bildung nach Gesichtspunkten wie Persönlichkeitsentwicklung und Kritikfähigkeit fand dagegen immer weniger statt.

Ein wesentlicher Auslöser für die Welle der Bildungsreformen in Deutschland was der so genannte PISA-Schock im Herbst 2001. Der PISA-Test ist eine internationale Schulleistungsstudie unter der Schirmherrschaft der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD), die seit 2001 alle drei Jahre stattfindet. Der Test ermittelt, welche Mathematik-, Lese- und Schreibkompetenzen Schülerinnen und Schüler gegen Ende ihrer Schulzeit erworben haben. Dabei lautet die überaus simple Grundfrage: „Wer bringt die besten Leistungen?“ Vor dem ersten PISA-Test galt das hiesige Bildungssystem als eins der besten der Welt. Die deutschen Test-Ergebnisse fielen aber nur durchschnittlich aus. Hiesige Bildungspolitiker mochten das nicht auf sich sitzen lassen und verkündeten prompt „eine neue Kultur der Anstrengung an den Schulen“. Es folgte eine galoppierende Welle von Reformen des deutschen Bildungssystems. Eine Steigerung der Bildungsausgaben war dabei allerdings nicht vorgesehen.

Man begann mit den Kindergärten. Diese erhielten Erziehungspläne von mehreren hundert Seiten Umfang, in denen detailliert vorgeschrieben wurde, wie künftig bildungsfördernd vorzugehen sei. Darin geht es weniger um die Betreuung der Kinder, sondern vor allem um die Voraussetzungen für einen möglichst glatten Schuleinstieg. Eins der wichtigsten Instrumente ist die gezielte Entwicklungsbeobachtung jedes einzelnen Kindes, die jeweils in einer individuellen Bildungsdokumentation festgehalten und ausgewertet werden muss. Auf ihrer Grundlage wird dann anhand normierter Entwicklungsskalen entschieden, ob und wie die Kompetenzen der Schützlinge zu fördern sind.

In den Schulen sollte der Lernertrag erhöht werden. Ein zentrales Reformprojekt war in den Nullerjahren die möglichst frühe Einschulung der Kinder. Kamen zuvor einfach alle Kinder in die Schule, die am ersten Schultag sechs Jahre alt waren, wurde seinerzeit der Geburtsmonat der einzuschulenden Kinder sukzessive in Richtung Jahresende verschoben, so dass zum üblichen Schulstart, meist im August, zunehmend Kinder in die Schulen kamen, die erst später sechs Jahre alt wurden. An die 50 Prozent fünfjährige Erstklässler sind seitdem keine Seltenheit. Befunde von Medizinern und Kindertherapeuten, wonach zu früh eingeschulte Kinder häufiger als andere gesundheitliche und psychische Probleme bekommen, wurden ignoriert; wichtiger war stattdessen eine effiziente Bereitstellung von Schülerströmen, um den Personalbedarf der Wirtschaft zu erfüllen.

Eine wichtige Rolle spielte auch die Frage, wie die Lehrpläne an den Schulen umgestaltet werden sollten. Neben fachlichen Befähigungen ging es dabei um so genannte Soft Skills sowie ganz allgemein um eine Kultur der Leistungsbereitschaft. Die Lehrer sollten nicht mehr vornehmlich Wissen vermitteln, sondern Manager, Lerntrainer und Jobberater sein. An der chronischen Unterfinanzierung der Schulen änderte sich allerdings nichts. Stattdessen entlastete der Staat lieber Betriebe von Steuern und Sozialabgaben. An Schulgebäuden, Einrichtungen, Arbeits- sowie Lehr- und Lernmitteln wurde dagegen wie immer gespart. Nach wie vor blättert in vielen Klassenräumen der Putz von den Wänden, tropft Wasser durch undichte Dächer und nicht selten sind sogar die Heizungen kaputt; ganz zu schweigen von den schlecht gepflegten Toiletten. Gespart wird auch am Unterrichtsmaterial, das entweder veraltet ist oder dessen Kosten weitgehend auf die Eltern überwälzt werden. Außerdem ist die Zahl der Lehrkräfte häufig so knapp bemessen, dass jeder Krankheitsfall zu einem massiven Unterrichtsausfall führt.

Der radikalste Änderungsversuch am deutschen Schulsystem bestand in der flächendeckenden Einführung des verkürzten Abiturs nach zwölf statt nach 13 Schuljahren. Mit Ausnahme von Rheinland-Pfalz wurden zwischen 2012 und 2015 alle Bundesländer von dem Wahn erfasst, ihre Gymnasiasten im Eiltempo zum Abitur zu hetzen. Um die Gymnasialzeit von neun auf acht Jahre zu verkürzen, musste der komplette Unterrichtsstoff eines Schuljahres auf die verbleibenden acht Jahre umverteilt werden. Die Folge waren verlängerte Unterrichtszeiten sowie eine Verdichtung der Lernpläne und Prüfungsanforderungen. Für die Schüler bedeutete das ein Arbeitspensum von bis zu 50 Stunden pro Woche und mehr. Das machte die verkürzte Gymnasialzeit so unpopulär, dass in der Folge zahlreiche Landesregierungen abgewählt wurden, weil sie den Unmut von Schülern, Eltern und Lehrern nicht ernst genug nahmen. In vielen Ländern wurde sie wieder abgeschafft. Heute gibt sie noch in acht Bundesländern. Darunter befinden sich auch die fünf neuen Bundesländer, in denen das zwölfjährige Abitur schon zu DDR-Zeiten der Normalfall war. Bei ihnen ist die kürzere Gymnasialzeit eine gewachsene Struktur mit entsprechend schülerfreundlichen Lehrplänen.

Noch umfassender scheiterte der Versuch, an deutschen Universitäten Studiengebühren einzuführen. Aufgrund einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Januar 2005 wurde ein Bundesgesetz gekippt, das Studiengebühren im Erststudium verboten hatte. Einige Bundesländer nutzten die Gelegenheit und führten Gebühren von 500 Euro pro Semester ein. Mit dem Geld sollten nicht nur Finanzierungsprobleme gelöst werden; es ging auch um so genannte Lenkungswirkungen: Studiengänge sollten gestrafft und so genannte Bummelstudenten „ausgefiltert“ werden sollten. Bildung sollte zur käufliche Ware werden und die Studenten ein betriebswirtschaftlich kalkulierendes Verhältnis zu ihren Bildungswünschen entwickeln. Die Hochschulen sollten die Studenten als zahlende Kunden betrachten und ein entsprechender Wettbewerb zwischen den Universitäten und unter den Fachbereichen um die Studenten angeheizt werden. Faktisch wurde das Studieren durch die Gebühren jedoch so unattraktiv, dass immer mehr junge Leute in Bundesländer ohne Gebühren auswichen. Ein Land nach dem anderen nahm daraufhin die Gebührenerhebung zurück. Seit 2014 gibt es nirgendwo mehr Studiengebühren für ein Erststudium. In einigen Bundesländern kostet allerdings ein Zweitstudium zwischen 500 und 650 Euro pro Semester; in anderen werden solche Gebühren fällig, wenn man die Regelstudienzeit um mehr als drei Semester überzieht.

Vollständig durchgesetzt hat sich dagegen die Bologna-Reform. Im Jahr 1999 verständigten sich 29 europäische Staaten in der gleichnamigen italienischen Stadt auf die so genannte Bologna-Deklaration. Sie besagt, dass alle beteiligten Länder bis 2010 einen gemeinsamen Hochschulrahmen schaffen sollten, der die internationale Vergleichbarkeit von Studienabschlüssen garantiert. Deutschland schaffte daraufhin die alten Diplom- und Magisterabschlüsse ab und führte an ihre Stelle den Bachelor- sowie den darauf aufbauenden Masterabschluss ein. Darüber hinaus wurde die Lehre an den Universitäten in einem noch nie zuvor da gewesenen Umfang gestrafft und verschult. Den Studenten wurde detailliert vorgeschrieben, welche Studienleistungen sie zu erbringen haben. Ihre Belastung wurde dabei so berechnet, dass sie pro Woche 40 Stunden betragen sollte. Ein Studium sollte so etwas wie ein Vollzeitjob sein – allerdings ohne Bezahlung. Studentinnen und Studenten sollten außerdem weniger wissenschaftlich arbeiten, sondern vor allem fit für ihren Berufseinstieg gemacht werden. Herzstück der Reform war die so genannte Modularisierung. Hierzu wurde das gesamte Studium in Module, d.h. in Blöcke von Lehrveranstaltungen rund um ein Thema, gegliedert. Inhalte werden jetzt nicht mehr umfassend behandelt, sondern auf ihre unverzichtbaren Kernbestände reduziert. Ferner werden wirtschaftskonforme Lern- und Transferkompetenzen wie etwa Teamfähigkeit und Projektmanagement gelehrt. Weil die Modularisierung die Dauer des Studiums erheblich verkürzen soll, sind Vertiefungen des Stoffs nicht prüfungsfähig und werden daher auch nicht unterrichtet. Die Folge war eine enorme Inhaltsverarmung des Studiums. Dennoch wurde gleichzeitig der Druck an den Universitäten so hoch, dass seit der Reform jedes Jahr fast 30 Prozent aller Hochschüler ihr Studium abbrechen. Der Bildungspolitik damit das Kunststück gelungen, die Studienqualität zu verschlechtern und zugleich die Studierenden zu überfordern.

Alles in allem ist die ständige Beurteilung auf Wirtschaftlichkeit seit den neoliberalen Bildungsreformen zum Alltag geworden. Bildungsgänge sind jetzt nicht mehr darauf ausgelegt, die Erfassung komplexe Zusammenhänge zu vermitteln oder kritikfähige Persönlichkeiten zu entwickeln. Stattdessen herrschen Leistungshetze und Zeitknappheit. Dabei werden die jungen Menschen nicht nur systematisch überfordert, ihnen wird außerdem jede Lust an der intellektuellen Erschließung der Welt genommen.