27.08.2022 

„Das Putin-Regime ist ein Vorbild für fast alle autoritären Machthaber in der Welt‟

Interview mit Norbert Trenkle
von Selçuk Salih Caydı

Erschienen auf türkisch in Medyascope, 22.8.2022
https://medyascope.tv/2022/08/21/norbert-trenkle-putin-rejimi-dunyadaki-hemen-hemen-tum-otoriter-yoneticiler-icin-bir-rol-modelidir/

Selçuk Salih Caydı: Der Angriffskrieg Russlands ist auch in der Türkei ein sehr wichtiges Thema. Viele betrachten ihn allerdings als Verteidigungskrieg Russlands gegen den „bösen Westen‟. Dieses Narrativ findet man sowohl bei der Ultra-Rechten wie bei der traditionellen Linken. Wie kommt es zu dieser Einigkeit?

Norbert Trenkle: Wenn Putin gegen den „bösen Westen‟ und gegen die sogenannten westlichen Werte hetzt, dann spielt er sich damit als legitimer Erbe des traditionellen Antiimperialismus auf. Deshalb bekommt er so viel Zuspruch bei der Rechten und bei der Linken und deshalb identifizieren sich auch viele Menschen im Globalen Süden mit ihm und seiner Kriegspolitik. Der Antiimperialismus war ja einmal verbunden mit den Kämpfen gegen die koloniale und postkoloniale Herrschaft und hatte in diesem Kontext ganz fraglos seine Berechtigung. Denn es waren die westlichen Mächte, die sich die Welt untereinander aufteilt hatten und sie beherrschten. Und es waren die westlichen Mächte, allen voran die USA, die auch noch nach der staatlichen Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien dort rücksichtslos ihre Interessen durchsetzen, nicht selten auch mit Krieg und durch den gewaltsamen Sturz unbequemer Regierungen. Deshalb erschien, im Kontext des Kalten Krieges, die Sowjetunion als natürlicher Verbündeter der nationalen Befreiungsbewegungen, auch wenn sie schon damals ihre eigenen imperialen Interessen verfolgte. Das wurde aber gerne übersehen, weil es unter den ideologischen Vorzeichen des „Sozialismus‟ und der Emanzipation geschah. Doch der sogenannte Realsozialismus war nie ein emanzipatorisches Projekt, sondern immer nur eine bestimmte Form nachholender kapitalistischer Modernisierung, in welcher der Staat eine zentrale Rolle als Entwicklungsagentur spielte. Auch viele Länder des globalen Südens gingen nach dem Zweiten Weltkrieg einen ähnlichen Weg und versuchten so unabhängiger von den kapitalistischen Zentren zu werden. Als diese Versuche dann in den 1970er und 80er Jahren fast überall scheiterten und kurz danach auch das Sowjetimperium zusammenbrach, traten zunehmend der Nationalismus und der religiöse Fundamentalismus in den Vordergrund. Sie füllten die ideologische Leerstelle aus, die der „Sozialismus‟ hinterlassen hatte und verbanden sich mit dem Antiimperialismus, der so etwas darstellte, wie den kleinsten gemeinsamen Nenner aller politischen Strömungen. Genau darauf kann sich die russische Kriegspropaganda bis heute stützen. Obwohl das Putin-Regime extrem autoritär und offen reaktionär ist, wird es immer noch als Bündnispartner gegen die „westlichen Mächte‟ gesehen.

Welche Rolle spielt dabei, dass Putin den „Westen‟ als dekadent und kulturell verkommen bezeichnet und sich demgegenüber auf traditionelle Werte der „russischen Kultur‟ und der christlichen Religion beruft? Wieso hat dieses Narrativ eine so große Ausstrahlung?

Das ist das Narrativ vom „Untergang des Abendlandes‟, das ungefähr so alt ist wie der moderne Kapitalismus. Heute steht es im Kontext einer Kulturalisierung der sozialen und politischen Konflikte, die nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus begonnen hat. Statt von einer Systemkonkurrenz – die immer nur die Konkurrenz zwischen zwei verschiedenen Varianten des Kapitalismus war – ist seitdem von einem Kampf der Kulturen die Rede. Entstanden ist dieses kulturalistische Narrativ aber schon im 19. Jahrhundert in Europa, vor allem in Deutschland, als Reaktion auf die allgemeine Verunsicherung, die die entfesselte kapitalistische Dynamik hervorrief und immer noch hervorruft. Statt diese Dynamik jedoch als solche und ihre negativen Wirkungen zu kritisieren, zum Beispiel die Zerstörung der Naturgrundlagen oder die massenhafte Verelendung, wurde sie zum Ausdruck „kulturellen Dekadenz‟ umdefiniert. Als Gegenbild konstruierte man Vorstellungen von vorgeblich uralten, tief in einer Gesellschaft verwurzelten Kulturen oder Religionen, die vor dem drohenden Zerfall geschützt oder die wiederbelebt werden sollten. Das ist der ideologische Boden aller nationalistischen, ethnizistischen und religiösen Fundamentalismen dieser Welt bis heute. Was die Fundamentalisten freilich übersehen, ist, dass ihre „antiwestlichen‟ Ideen selbst nur ein Import aus dem Westen sind. Es ist schon unfreiwillig ironisch, wenn beispielsweise die Hindu-Nationalisten in Indien oder die Mullahs im Iran auf ihrer ganz eigenen kulturellen und religiösen Identität beharren, tatsächlich aber die kulturalistischen Muster erfundener Traditionen kopieren, die in Europa entstanden sind. Auch wenn Putin sich heute auf das Erbe des „großrussischen Reichs‟ beruft , das er gegen die „westliche Dekadenz‟ verteidigen will, steht er damit in der Denktradition eines reaktionären Antimodernismus, der überhaupt erst mit dem Kapitalismus entstanden ist und sich zusammen mit diesem über die ganze Welt verbreitet hat. Es ist daher auch nur folgerichtig, dass das Putin-Regime die rechten und rechtsextremen Parteien und Strömungen vor allem in Europa und den USA massiv unterstützt.

Aber warum hat Putin die Ukraine angegriffen? Ist der russische Expansionsdrang nicht auch eine Reaktion auf die Verschiebung des globalen Kräftegleichgewichts zugunsten des Westens und insbesondere auf die NATO-Osterweiterung?

In erster Linie sehe ich den Angriff auf die Ukraine als Teil einer globalen Offensive des Autoritarismus und der politischen und religiösen Rechten. Das Putin-Regime ist ein Vorbild für so ziemlich alle autoritären Herrscher dieser Welt. Sie sehen sich derzeit im Aufwind, weil der Versuch der westlichen Mächte, eine neue Weltordnung unter den Vorzeichen von Marktwirtschaft und Demokratie zu schaffen, krachend gescheitert ist. Deshalb stimmt es auch nicht, dass der Krieg gegen die Ukraine eine Reaktion auf das offensive Vorgehen der NATO und der USA sein soll. Die NATO-Osterweiterung wurde im Jahr 2004 beendet. Seitdem sind keine neuen Mitglieder mehr aufgenommen worden und die Aufnahme der Ukraine und von Georgien ist nicht zuletzt durch ein Veto der Merkel-Regierung im Jahr 2008 verhindert worden. Wenn das Putin-Regime also heute behauptet, es habe sich quasi gegen einen Angriff der NATO verteidigen müssen, ist das pure Propaganda. Tatsächlich geht es um etwas ganz anderes. Putin betrachtet nach eigener Aussage den Zusammenbruch der Sowjetunion als die „größte Katastrophe des 20. Jahrhundert‟. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. In dem blutigsten und gewalttätigsten Jahrhundert der gesamten bisherigen Geschichte soll ausgerechnet das vergleichsweise friedliche Ende des sowjetischen Imperiums das Schlimmste gewesen sein, was passiert ist. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf das Denken von Putin und der ihn umgebenden Machtelite, die überwiegend aus dem Geheimdienst und Sicherheitsapparat stammt. Sie empfindet den Verlust der einstigen Weltmachtposition als eine extrem tiefe Kränkung und wird daher von dem unbändigen Drang getrieben, diese wenigstens ansatzweise wieder herzustellen. Das ist zwar praktisch nicht möglich, aber schon der Versuch erzeugt ungeheures Leid, wie jetzt in der Ukraine aber zuvor schon beispielsweise in Syrien.

Aber warum ist der Angriff auf die Ukraine ausgerechnet jetzt erfolgt? Diese Kränkung, von der du sprichst, besteht ja schon sehr lange.

Dass der Angriff auf die Ukraine jetzt erfolgt ist, hat meines Erachtens vor allem drei Gründe. Erstens sah Putin den Westen in einer geschwächten geopolitischen Position; der geradezu panische Rückzug aus Afghanistan im letzten Jahr schien das zu bestätigen. Er glaubte daher, der Moment sei günstig und wurde deshalb auch überrascht von der harten und entschiedenen Reaktion der westlichen Mächte. Zweitens sieht sich Putin ökonomisch in seiner Machtposition bedroht, denn diese beruht auf dem Export von Rohstoffen, vor allem von Öl und Gas, und wird daher durch die anstehende Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien grundsätzlich in Frage gestellt. Will er seine imperialen Ziele erreichen, muss er also handeln, solange diese ökonomische Grundlage noch besteht. Und drittens kommen noch Spannungen innerhalb Russlands hinzu, die nicht zuletzt der enormen sozialen Spaltung geschuldet sind. Unter diesen Umständen ist ein Eroberungskrieg, auch wenn dieser nicht so genannt werden darf, immer ein gutes Mittel, um die Bevölkerung wieder hinter sich zu scharen, weil dadurch eine nationalistische Welle ausgelöst und Stärke demonstriert wird. Im Jahr 2014 hat das bereits mit der Annektion der Krim gut geklappt. Warum sollte es nicht wieder funktionieren? Zwar zeigt sich nun, dass sich Putin militärisch und politisch verrechnet hat, aber jetzt hat er bereits eine Dynamik in Gang gebracht, die nicht mehr so ohne Weiteres gestoppt werden kann.

Also scheint Putin durchaus auch Angst vor dem Machtverlust zu haben. Aber muss er dann nicht auch eine militärische Niederlage fürchten?

Eine militärische Niederlage wäre natürlich eine Katastrophe für Putin, denn er würde sie politisch nicht überleben. Deshalb mobilisiert er jetzt auch alle verfügbaren Mittel, um das zu verhindern und konzentriert sich auf das Ziel, die gesamte Ostukraine zu annektieren und einen Landkorridor zur Krim zu schaffen. Dieses Ziel ist durchaus realistisch, wenn man bedenkt, wie groß die russische Militärmaschinerie ist. Allerdings bedeutet das auch, dass sich der Krieg weiter in die Länge ziehen wird und das Leid für die Bevölkerung immer schlimmer wird. Aber die Angst vor dem Machtverlust war ja, wie gesagt, schon ein wichtiges Motiv um diesen Krieg überhaupt zu beginnen. Das Putin-Regime fürchtet sich, wie jedes autoritäre Regime, ständig davor, dass die eigene Bevölkerung rebellieren könnte. Zwar hat es in den letzten Jahren alles dafür getan, die Opposition zu unterdrücken, einzuschüchtern oder außer Landes zu treibe, doch je hermetischer sich ein Regime abdichtet, desto stärker wird auch die Paranoia. Das ist ein generelles Merkmal aller autoritären Regimes; sie wittern überall Verschwörungen und führen immer neue „Säuberungswellen‟ durch, denen oft auch ehemalige Verbündete zum Opfer fallen.

Dazu kommt im Fall Russlands noch die Angst vor der „Ansteckung‟ durch Protestbewegungen in den Nachbarstaaten hinzu. Deshalb ist Putin dem weißrussischen Diktator Lukaschenko zur Hilfe geeilt, als dieser vor zwei Jahre in Bedrängnis geriet und deshalb hat er auch so schnell in Kasachstan interveniert, als dort Anfang dieses Jahres die Bevölkerung auf die Straße ging. Die relativ lebendige Zivilgesellschaft in der Ukraine empfindet er aber als eine ganz besondere Bedrohung, weil er diesem Land ja seine Selbstständigkeit abspricht und es als Teil von „Großrussland‟ betrachtet. Deshalb will er dort „Ordnung‟ in seinem Sinne schaffen, also alles Widerständige ausmerzen. Dass es beispielsweise in den ukrainischen Großstädten ziemlich lebendige queere Communities gibt, ist für Putin ein Skandal, weil das die binäre Geschlechterhierarchie infrage stellt, die er für natur- oder gottgegeben hält. Darin ist er sich mit allen autoritären und reaktionären Kräften der Welt einig, egal ob es sich dabei um Islamisten, christliche Fundamentalisten oder Faschisten handelt. Sie alle fühlen sich von den feministischen und queeren Bewegungen im Kern ihrer geschlechtlichen Identität bedroht und reagieren darauf mit einer Mischung aus Panik und Gewalt.

Du sprichst in diesem Zusammenhang von einer globalen Offensive des Autoritarismus. Hat die Demokratie ihre Attraktivität verloren?

Alle großen Protestbewegungen weltweit berufen sich immer noch auf die Werte von Demokratie und Freiheit. Nun hat zwar liberale Demokratie noch nie bedeutet, dass die Gesellschaft wirklich frei über sich verfügen kann, weil sie immer schon die kapitalistischen Zwänge vorausgesetzte; trotzdem ist sie natürlich dem Autoritarismus vorzuziehen. Allerdings kann sie ohne ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit nicht funktionieren. Da aber der moderne Kapitalismus aufgrund der hohen Produktivität immer weniger Arbeitskraft in der Produktion benötigt und gleichzeitig die Kapitalvermehrung hauptsächlich an den Finanzmärkten stattfindet, sind immer mehr Menschen „überflüssig‟ gemacht und sozial marginalisiert worden. Sie haben kaum Möglichkeiten, ihre Interessen geltend zu machen und werden nicht mehr politisch repräsentiert. Deshalb sind die autoritären Strömungen überall auf dem Vormarsch. Sie versprechen diesen Menschen ein Minimum an sozialer Absicherung und konstruieren kollektive Identitäten, indem sie die Welt in Freund und Feind aufteilen. Auf diese Weise können sie sich als Repräsentanten „des Volkes‟, also der großen Mehrheit aufspielen und somit ihre Herrschaftsansprüche demokratisch legitimieren. Die meisten Autokraten treten heute ja als Verteidiger der Demokratie auf, auch wenn sie die bürgerlichen Freiheiten und den Rechtsstaat permanent mit den Füßen treten und sich außerdem schamlos privat bereichern. Das große Drama ist, dass die zivilgesellschaftlichen Kräfte, die sich gegen den Autoritarismus stellen, dieser politischen Strategie nur wenig entgegenzusetzen haben. Denn sie kämpfen zwar für die bürgerlichen Freiheiten, haben aber in aller Regel keine Antworten auf die brennenden sozialen Fragen. Deshalb fällt es leicht, sie als Repräsentanten einer abgehobenen kleinen Elite zu diffamieren, denen die sogenannten normalen Menschen egal sind. Das stimmt subjektiv in vielen Fällen sicherlich nicht, aber objektiv ist die liberale Demokratie heute mehr denn je eine globale Minderheitenveranstaltung, weil sie in den meisten Ländern nicht mehr in der Lage ist, einen sozialen Ausgleich auch nur ansatzweise herzustellen. Denn weil die extreme soziale Polarisierung aus der objektivierten Dynamik des globalen Krisenkapitalismus resultiert, lässt sie sich mit den Mitteln liberaler Politik nicht konterkarieren.

Ist also die autoritäre oder bonapartistische Formierung des russischen Staates unter Putin ein zwangsläufiges Resultat der kapitalistischen Krisenentwicklung? Kann ein solcher Staat die Krise in den Griff bekommen?

Zwangsläufig war diese Entwicklung nicht. Es gibt andere Staaten, die einen anderen Weg genommen haben. Das hängt auch von den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen ab. In Russland gab es einen starken Sicherheitsapparat, der auf die wilde Privatisierung und die Krise der 1990er Jahre reagiert hat. Mit ihm schaffte es Putin, die Oligarchen in die Schranken zu weisen und in den Dienst des Staates zu stellen. Zwar hat er ihnen nicht das Geschäft verdorben; wer sich nicht gegen das Regime stellte, durfte weiterhin seine obszön hohen Gewinne scheffeln. Aber es kam zu einer gewissen Stabilisierung der Wirtschaft und der Infrastruktur, sodass die Löhne und die Renten nun wieder pünktlich ausgezahlt wurden und die große Mehrheit der Menschen in Russland einigermaßen überleben konnte. Das verschafft dem Putin-Regime bis heute eine breite Zustimmung in der Bevölkerung; auch wenn ihn nicht alle verehren, sind zumindest sehr viele der Ansicht, dass eine Alternative zu ihm nicht besser wäre. Man kann sicherlich sagen, dass das Putin-Regime in diesem Sinne einer vorübergehende Lösung für die Krise in Russland gefunden hat. Aber das ist auch im Kontext des kapitalistischen Booms vor allem in den Nullerjahren zu sehen, der sehr stark von der Finanzialisierung und der von ihr angetriebenen Baukonjunktur getragen wurde. Man sprach damals ja sogar davon, dass Russland zusammen mit China, Brasilien und Indien – die sogenannten BRIC-Staaten – auf dem Weg zur wirtschaftlichen Weltmacht sei. Tatsächlich aber beruhte der relative wirtschaftliche Erfolg im Wesentlichen darauf, dass Russland zum Rohstoff- und Energielieferanten der Welt umgebaut wurde. Das ist aber zugleich auch die Achillesferse des Regimes. Bricht die Nachfrage hier ein, gerät auch die russische Wirtschaft ins Wanken. Momentan kann Putin die Abhängigkeit Europas, und vor allem Deutschlands, noch als Waffe einsetzen, aber in ein paar Jahren könnte es damit vorbei sein. Denn auch wenn der Umbau der energetischen Basis sicherlich nicht so schnell vorankommen wird, wie es jetzt die westlichen Regierungen versprechen, suchen sich diese doch andere Bezugsquellen – oft in Länder, die nicht weniger autoritär regiert werden wie Russland. Vor allem aber könnte der Krieg zum Auslöser eine gewaltigen Weltwirtschaftskrise werden, in deren Folge dann auch die allgemeine Nachfrage nach Energie zurückgehen wird.

Aber was passiert dann, wenn die wirtschaftliche Grundlage des russischen Autoritarismus wegbricht? Kann es so etwas wie einen post-kapitalistischen, autoritären Staat geben, der die Gesellschaft gewaltsam zusammenhält?

Wie die genaue Entwicklung in Russland in einem solchen Fall verläuft, lässt sich schwer vorhersagen. Aber wenn der Rohstoffexport als ökonomische Basis entfällt oder prekär wird, bricht damit ja nicht der Kapitalismus in Russland zusammen, sondern er tritt in ein neues Krisenstadium ein. Möglicherweise werden dann wieder verstärkt Konflikte zwischen den verschiedenen Mafia-Fraktionen, die sich um die sogenannten Oligarchen gruppieren, auftreten, die sich dann erbittert um die noch vorhandenen gesellschaftlichen Reichtümer streiten. Momentan hält in Russland der Staat diese Mafia-Fraktionen noch im Schach – wobei sich das staatliche Personal natürlich auch selbst bereichert, wo immer und wie immer es kann. Vielleicht ist er stark genug, dass auch unter ökonomisch krisenhaften Bedingungen weiter zu gewährleisten. Aber das wird sehr viel schwieriger werden, wenn die Beute, die zwischen den Banden und dem Staat aufgeteilt werden kann, immer kleiner wird. Deshalb könnte es sehr wohl auch passieren, dass, wie schon in den 1990er Jahren, der Staat wieder zwischen die Fronten dieser Interessenkämpfe gerät.

Weltweit betrachtet ist das jedenfalls die Tendenz, überall dort, wo die ökonomische Grundlage erodiert. Wenn die Ökonomie immer instabiler wird, bleibt zwar zunächst nur der Staat als Instanz übrig, der eine gewisse Stabilität gewährleisten kann. Und das tut er, indem er offen gewaltsam in Interessenkonflikte interveniert und Proteste niederschlägt. Auf der anderen Seite ist der Staat ja keine außer-gesellschaftliche Instanz, die über all diesen Interessenkonflikten schwebt, sondern wird selbst in seinem Handeln wesentlich durch die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse beeinflusst. Deshalb kommt es letztlich immer auch zu einer inneren Zersetzung des Staatsapparates. Dieser wird dann selbst zur Beute einer der Banden oder mehrerer Banden, die sich aber zugleich auch wieder irgendwie untereinander arrangieren müssen. Wie der Verlauf dieses Arrangements dann im einzelnen aussieht, ist von Land zu Land durchaus unterschiedlich. In der Regel muss jede Bande auch irgendeine Klientel bedienen, um sich eine gewisse soziale Basis zu verschaffen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Libanon, wo der Staat unter den gesellschaftlichen verschiedenen Gruppierungen aufgeteilt wurde, die jede nur ihre eigenen Anhänger:innen versorgen, während sie gleichzeitig die Staatskasse plündern. Mit Postkapitalismus hat das natürlich nichts zu tun. Die kapitalistischen Formen sind alle noch vorhanden und der Zweck des Handelns bleibt es, Geld zu vermehren, wenn auch nun hauptsächlich auf kriminellem Weg. Man muss eher von einer krisenhaften Verfallsform des Kapitalismus sprechen.

Lässt sich diese Entwicklung noch aufhalten? Was können wir dem Autoritarismus und der Mafiotisierung des Staates entgegensetzen, wenn die liberale Demokratie, wie du oben gesagt hast, keine Perspektive mehr darstellt? Gibt es noch Alternativen?

Gegenüber dem Autoritarismus ist, wie ich schon sagte, die liberale Demokratie sicherlich immer noch die bessere Alternative. Doch hat sie in einem immer größeren Teil der Welt keine materielle Grundlage mehr. Denn die liberale Demokratie kann nur funktionieren, wo ein Großteil der Gesellschaftsmitglieder als Verkäufer:innen von Arbeitskraft für die Kapitalverwertung benötigt wird und sich politisch repräsentiert sieht. Im Grunde ist das die politische Form einer ganz bestimmten historischen Phase des Kapitalismus, als dieser nämlich noch auf der Massenarbeit in der Produktion beruhte. Diese Phase ist aber unwiderruflich vorbei und deshalb erodiert auch die Grundlage der liberale Demokratie selbst in den Ländern, wo sie derzeit noch einigermaßen funktioniert.

Der Kapitalismus von heute, ist, wie ich oben schon sagte, immer weniger auf die menschliche Arbeitskraft angewiesen und macht deshalb immer mehr Menschen überflüssig für seinen Zweck, also für den Zweck der Geldvermehrung. Gleichzeitig okkupiert er aber immer mehr Ressourcen und immer größere Teile der Erdoberfläche, um seinen Betrieb in Gang zu halten. Derzeit erleben wir einen neuen Schub der Kolonisierung des Planeten unter den Vorzeichen einer „ökologischen Transformation‟, die aber gar keine ist, sondern nur das Produktions- und Konsummodell einer globalen Minderheit noch einmal für ein paar Jahre absichern soll. Unter dieser Entwicklung haben natürlich vor allem die Menschen im globalen Süden zu leiden. Trotzdem handelt es sich um eine allgemeine Tendenz. Soziale Spaltung, ökologische Zerstörung und autoritäre Tendenzen gehen überall Hand in Hand. Deshalb braucht es auch eine globale Antwort darauf, die über den Kapitalismus hinausweist. Das Problem ist nur, dass die traditionellen Emanzipationskonzepte alle überholt sind, vor allem diejenigen, die immer noch im Staat den Retter in der Not sehen. Sie führen nämlich in die Sackgasse eines irgendwie sich als links verstehenden Autoritarismus, der auch nicht viel besser ist als sein rechter Bruder. Stattdessen brauchen wir eine neue Perspektive der Emanzipation jenseits von Markt und Staat.

Und wie könnte eine solche Perspektive aussehen?

Ich sympathisiere sehr mit der Idee des Commonismus. Die Grundlage einer solche Gesellschaft ist nicht das Privateigentum, sondern es sind die Commons, die Gemeingüter, die niemandem gehören, aber von allen auf kooperative Weise genutzt werden. Damit einher geht natürlich auch eine völlig andere Form der gesellschaftlichen Beziehung. Kern der kapitalistischen Beziehungsform ist das Privateigentum, das auf Abgrenzung und Ausgrenzung beruht. Was mir gehört, das gehört ausschließlich mir und ich kann damit tun, was mir beliebt. Das impliziert auch, dass ich gesellschaftlich nur anerkannt bin, wenn ich über Privateigentum verfüge, und sei es nur über meine Arbeitskraft. Aber die bringt mir nur etwas, wenn ich sie auch verkaufen kann. Mit anderen Worten: das Privateigentum ist die Grundlage einer Gesellschaft, in welcher der soziale Zusammenhang über den Warenverkehr hergestellt wird. Es herrscht allgemeine Konkurrenz, denn jede Person verfolgt ihr Privatinteresse gegen das der anderen. Ganz anderes sieht es aus in einer auf Commons beruhenden Gesellschaft. Hier ist die Kooperation die grundlegende gesellschaftliche Beziehungsform. Der gesellschaftliche Reichtum wird hier immer schon zusammen mit anderen hergestellt und geteilt – wobei gesellschaftlicher Reichtum hier sehr viel weiter zu fassen wäre als in der kapitalistischen Gesellschaft, wo als Reichtum nur zählt, was sich in Geld darstellen lässt.

Ist das nicht sehr utopisch gedacht?

Ich denke nicht. Denn in allen sozialen Bewegungen finden wir die verschiedensten Formen des Commoning, also der Herstellung von Commons. Oft wurde und wird das aber nur als Notbehelf gesehen oder jedenfalls als vorübergehende Beziehungsform, die wieder verschwindet, wenn eine Bewegung ihre Interessen durchgesetzt hat und in den Kategorien von Markt und Staat anerkannt wird. Das war zum Beispiel bei der klassischen Arbeiter:innenbewegung so. Wo aber diese Anerkennung immer schwerer zu erkämpfen ist, bekommt das Commoning eine ganz andere, zentralen Bedeutung. Es wird zur Grundlage für das gemeinsame Leben und Überleben. Wir sehen das an vielen sozialen Bewegungen weltweit. Das große Problem ist nur, dass sie in der Regel nicht über genügend Ressourcen und gesellschaftliche Spielräume verfügen, um das Commoning auf eine gute und tragfähige Grundlage zu stellen. Denn die Ressourcen, insbesondere auch Grund und Boden, sind ja größtenteils kapitalistisch okkupiert, also in Privateigentum verwandelt. Und das wird erbittert verteidigt, auch wenn die private Nutzung bedeutet, das der Planet noch weiter zerstört wird. Deshalb stellen die Kämpfe um Ressourcen für das Commoning heute potentiell die zentrale gesellschaftlichen Konfliktlinie dar, an welcher der ökologische Raubbau aufgehalten werden kann und an der zugleich die Ansätze einer neuen, befreiten Gesellschaft entwickelt werden können. Bisher sind diese Kämpfe allerdings global betrachtet noch minoritär oder finden in gesellschaftlichen Nischen statt. Deshalb kommt es darauf an, sie mit anderen Kämpfen zu verbinden, nicht zuletzt mit dem Kampf gegen den Autoritarismus und gegen alle Formen der sozialen Ausgrenzung. Dann könnte die Idee des Commonismus, um es in Anlehnung an Marx auszudrücken, zur materiellen Gewalt werden.

Istanbul/ Nürnberg 30.6.2022