01.05.2022 

Die autoritäre Offensive. Warum der Kampf gegen das Putin-Regime transnational sein muss, …

.. aber sich nicht auf die „westlichen Werte‟ berufen sollte

von Norbert Trenkle

Überarbeitete und erheblich erweiterte Fassung des Diskussionsbeitrags “Falsche Frontstellung”
aus Jungle World 14/ 2022 vom 7.4.2022

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Weltbild der politischen Linken einmal mehr kräftig durcheinander gewirbelt. Das Narrativ, wonach Putin bloß auf die vorgebliche Einkreisung durch die Nato und die USA reagiere und im Übrigen „legitime Interessen‟ verfolge, wird zwar angesichts der schrecklichen Lage nur noch selten offen vertreten. Doch revidiert worden ist es keineswegs. Vielmehr versteckt es sich nun hinter rituellen Formulierungen, in denen zunächst formelhaft der Krieg verurteilt wird, um dann in den folgenden Sätzen die russische Aggression zu relativieren und dem Westen die Schuld daran zuzuschieben.1 Aber auch Teile der Linken, die nicht dem traditionalistischen und antiimperialistischen Lager zugerechnet werden können, haben die Orientierung verloren, weil sich die gegenwärtige Weltlage nicht mehr nach den gewohnten Mustern ordnen lässt. Viele ziehen sich daher auf ein Standpunkt unverbindlicher Äquidistanz zurück, wonach ja alle Seiten irgendwie Dreck am Stecken hätten und man daher in diesem Konflikt auch keine Position beziehen könne.

Doch dieses Lavieren wird der Dramatik der historischen Situation nicht gerecht. Der Überfall auf die Ukraine ist Teil einer großangelegten Offensive eines extrem autoritären Regimes, das von der bedrohlichen Vorstellung getrieben wird, Russland wieder zu einer relevanten Großmacht zu machen und die Weltordnung in seinem Sinne zu verändern. Diese Offensive richtet sich nicht nur gegen ein bestimmtes Land, sondern ganz explizit gegen alles, was in den Augen Putins und seiner Gefolgschaft für die „Verkommenheit des Westens‟ steht. Dazu zählt insbesondere die „sexuelle Dekadenz‟, sprich Homosexualität und „Genderwahn‟, sowie die Zersetzung „traditioneller kultureller Werte‟. Dahinter steht eine offen faschistische Ideologie, wie etwa Jason Stanley (2022) nachgezeichnet hat.2 Nicht umsonst ist Putin lange schon der gefeierte Star in der rechten ebenso wie in der links-autoritären Szene, die am liebsten in die Welt des Fordismus oder des Realsozialismus zurück möchte, in der die „ehrliche Arbeit‟ noch zählte, das Geschlechterverhältnis noch eindeutig binär war und überhaupt noch „Ordnung‟ herrschte. Dass es ein Zurück in diese Welt nicht geben kann, hält die regressiven Kräfte nicht davon ab, es dennoch mit allen Mitteln zu versuchen, und sei es um den Preis, alles in Schutt und Asche zu legen.

Für emanzipative Kräfte sollte es daher selbstverständlich sein, sich ohne Wenn und Aber gegen das Putin-Regime und den von ihm entfesselten Krieg zu stellen. Wer gegen Rassismus, Antifeminismus, Antisemitismus und Nationalismus kämpft, sollte nicht die Augen vor dieser geopolitischen Offensive des Autoritarismus verschließen. Putin hat längst begriffen, dass es in dem von ihm mit betriebenen „Kulturkampf‟ keine nationalen Grenzen gibt. Die gezielten Propaganda- und Desinformationskampagnen in den Sozialen Medien und die Unterstützung von rechten und links-autoritären Parteien in aller Welt folgen genau diesem Muster. Und spätestens seit dem russischen Eingreifen in Syrien zugunsten des Massenmörders Assad ist klar, dass Putin seine Vorstellungen einer repressiven Weltordnung auch militärisch durchzusetzen bereit ist.

Freilich wird die klare Frontstellung gegen das Putin-Regime dadurch erschwert, dass diese im überwiegenden Teil der westlichen Öffentlichkeit unter die Überschrift einer Verteidigung der „universellen Werte‟ von Demokratie, Freiheit und Menschenrechten gestellt wird. Nicht nur reihen sich in diese Einheitsfront allerlei Kräfte ein, die dem Autoritarismus ideologisch und politisch durchaus nahestehen und die sich Putin jetzt nur aus opportunistischen oder nationalistischen Gründen entgegenstellen (man denke nur an die polnische Regierung); es ist daher auch bloß eine Frage der Zeit, bis die Konflikte unter den Verteidigern der „westlichen Werte‟ wieder aufbrechen. Hinzu kommt jedoch noch etwas Grundsätzliches: Unter dem Eindruck des entsetzlichen Krieges wird gerne verdrängt, dass sich jener viel beschworene Universalismus längst an der Wirklichkeit blamiert hat, was einer der wesentlichen Gründe für die globale Offensive des Autoritarismus ist.

Universell sind die freiheitlich-demokratischen Werte nur ihrem abstrakten Anspruch nach. Ihre materielle Grundlage, die warenproduzierende Gesellschaft, beruht jedoch auf systematischen Ausschlüssen und der gesellschaftlichen Spaltung in Gewinner und Verlierer. Sie dementiert diesen abstrakten Anspruch daher permanent. Zwar ist die warenproduzierende Gesellschaft insofern universell, als sie sich in einer ungeheuren Dynamik auf dem gesamten Planeten durchgesetzt hat. Doch gleichzeitig zeigt sich, dass sie eine Minderheitenveranstaltung ist: Nur ein relativ kleiner Teil der Weltbevölkerung kann ein einigermaßen auskömmliches und sicheres Leben führen und findet ansatzweise Zugang zu dem, was die Charta der Menschenrechte verspricht. Gleichzeitig beruht diese minoritäre Lebensweise auf der rücksichtslosen weltweiten Plünderung des Naturerbes (Trenkle 2020).

Dieser strukturelle Ausschluss- und Spaltungsmechanismus hat in den letzten Jahrzehnten zusätzlichen Schwung dadurch erhalten, dass die kapitalistische Maschine in ihrem rastlosen Funktionieren immer weniger auf lebendige Arbeitskraft angewiesen ist. Denn einerseits wurde die Produktion immer weiter automatisiert und digitalisiert (Produktivkraft Wissen) und andererseits hat sich in Reaktion darauf die Dynamik der Kapitalakkumulation immer stärker in die Sphäre des fiktiven Kapitals verschoben (Finanzialisierung). Beides zusammen führte dazu, dass immer mehr Menschen für den bornierten Selbstzweck des Kapitals überflüssig gemacht wurden und dazu gezwungen sind, sich unter immer schlimmeren Bedingungen zu verkaufen und um ihr Überleben zu kämpfen, während gleichzeitig die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen in rasantem Tempo voranschreitet, weil der exzessive Ressourcenverbrauch unvermindert weitergeht (Lohoff/Trenkle 2012; Trenkle 2018).

Es war daher auch vorgezeichnet, dass der nach der historischen Zäsur von 1989 unternommene Versuch, eine „Neue Weltordnung‟ im Zeichen von Demokratie und Marktwirtschaft zu etablieren, ins Desaster führen musste. Nachdem schon die Projekte nachholender staatskapitalistischer Modernisierung unter den ideologischen Vorzeichen des „Sozialismus‟ gescheitert waren (Stahlmann 1990; Kurz 1991), hinterließ die neoliberale Offensive der 1990er Jahre eine noch größere Spur der Verwüstung in großen Teilen der Welt. In den Ruinen erblühten haufenweise kleptokratische und autoritäre Regimes sowie fundamentalistische Bewegungen verschiedenster Ausprägung, die das ihre zur Desintegration des sozialen Zusammenhangs beitrugen. Und der Versuch, diese Tendenzen militärisch unter Kontrolle zu kriegen, wo sie dem „Westen‟ zu gefährlich wurden, verschlimmerte die Lage nur noch. Insbesondere der Irakkrieg von 2003 war in seinen Folgen desaströs, weil er nicht nur das ohnehin geschundene Land noch weiter zerstörte, sondern die gesamte Region weiter destabilisierte und in einen anhaltenden Kriegszustand stürzte.3

Auch das Putin-Regime ist ja bekanntlich in Reaktion auf die katastrophalen Folgen der marktradikalen Transformation Russlands entstanden, allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, dass es ihm gelang, Russland wieder zu stabilisieren. Als das staatskapitalistische System der Sowjetunion zusammenbrach, weil es im Produktivitätswettlauf mit dem marktwirtschaftlich organisierten Kapitalismus der westlichen Länder nicht mithalten konnte4, bedeutete das nicht nur die weitgehende Zerstörung der industriellen und wirtschaftlichen Strukturen, sondern löste auch einen Schub allgemeiner Verarmung und Verunsicherung aus. Neben dem Fehlen jeglicher sozialer Sicherheit war für die Menschen der Verlust ihrer gewohnten Lebensweise mindestens genauso einschneidend. Der Realsozialismus war zwar kein emanzipatorische Projekt, sondern ein autoritäres Staatsregime, aber er hatte es doch geschafft, ein peripheres Land zu industrialisieren und der Bevölkerung eine sichere Lebensperspektive zu geben. All das entfiel seinerzeit mit einem Schlag. Die Bevölkerung musste zusehen, wie sich im Zuge der wilden Privatisierung einige wenige Gruppen auf obszöne Weise bereicherten und der einst so allmächtige Staatsapparat dem ganzen Treiben nichts entgegensetzte, sondern zum Spielball und willigen Instrument der „Oligarchen‟ gemacht wurde.

So gesehen ist sehr gut nachvollziehbar, dass die 1990er Jahre als traumatisch empfunden wurden und dass Putin, der sich auf bedeutende Kräfte im Sicherheits- und Militärapparat stützen konnte, bis heute sehr populär ist, weil es ihm gelang, diesen Zustand zu beenden. Zwar wollte (und konnte) er den sogenannten Sozialismus keineswegs zurückbringen. Ganz im Gegenteil: das Putin-Regime verfolgt bis heute ökonomisch einem extrem neoliberalen Kurs, der allerdings durch einen autoritären Staat abgesichert ist (Yudin 2022). Aber immerhin unterwarf es die Oligarchen dem Staatsapparat und stellte sie in dessen Dienste; ihre guten Geschäfte durften sie weiterhin machen, doch mussten sie nun einen (vergleichsweise kleinen) Teil ihrer Gewinne zum Zwecke der Legitimationsproduktion abtreten und zugleich Prestigeprojekte des Regimes (etwa die Winter-Olympiade in Sotschi) zu finanzieren. Immerhin wurden nun die Löhne im weiterhin großen staatlichen Sektor ebenso wie die Renten pünktlich ausbezahlt, gewisse soziale Transferleistungen flossen und die Infrastruktur wurde zumindest in den Zentren wieder hergerichtet und modernisiert. Begünstigend wirkten sich natürlich auch die hohen Preise für Öl und Gas sowie für andere Rohstoffe aus, über die das riesige Land reichlich verfügt. Auf diese Weise konnte sich das Putin-Regime eine ziemlich breite Legitimation in der Bevölkerung erkaufen, die freilich zunehmend durch eine Unterdrückung der Opposition und aller nicht-konformer zivilgesellschaftlicher Akteur:innen einherging.

Zusätzlich abgesichert wurde das Ganze von einer nationalistischen Identitätspolitik, die im Kern darauf zielt, Russland wieder zur Großmacht zu machen und eine „eurasische Union‟ herzustellen, welche mindestens die Gebiete der ehemaligen Sowjetunion umfasst. Wenn Donald Trumps Erfolg bei den US-Präsidentschafts-Wahlen von 2016 von der Parole getragen wurde „Make America great again‟, so hatte Putin dieses Ziel für Russland schon lange vorher in den Mittelpunkt seines politischen Handelns gestellt. Bei großen Teilen der Bevölkerung kam das gut an, denn gerade in Zeiten von Krise und Verunsicherung stellt die Identifikation mit einem nationalen Kollektiv eine Rückversicherung dar, die entscheidend zur Stabilisierung des Selbstgefühls beitragen kann.

Aus allem was bekannt ist darf man unterstellen, dass Putin diese nationalistischen Größenphantasien nicht nur aus instrumentellen Gründen inszeniert, sondern ihnen wirklich verfallen ist (Kappeler 2021). Er selbst empfindet den Untergang des Sowjetimperiums als tiefe Schmach und wird von dem unbändigen Drang getrieben, diese zu tilgen.5 Dieses Handlungsmotiv trat im Laufe seiner Herrschaft immer mehr in den Vordergrund, in dem Maße, wie er diese durch innere Opposition, und durch nachlassenden ökonomischen Erfolg im Zuge zeitweilig sinkender Rohstoffpreise bedroht sah (Yudin 2022; Exner 2022). Hinzu kamen noch Demokratiebewegungen in den umliegenden Ländern, insbesondere der Ukraine, von denen aus Sicht der russischen Autokratie eine Ansteckungsgefahr ausging und die außerdem deren hegemonialen Anspruch im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion infrage stellten. Deshalb ist es auch verkehrt, wenn behauptet wird, Putins Krieg gegen die Ukraine sei nur eine Reaktion auf irgendwelche angeblichen Provokationen der NATO oder der USA. Zwar hat der „Westen‟ durch sein Auftrumpfen und seine Politik seit den frühen 1990er Jahren wohl mit dazu beigetragen, das Gefühl der Demütigung noch zu verstärken, doch für den imperialen Nationalismus, mit dem vor allem große Teile des russischen Staats- und Sicherheitsapparats und der politischen den Zusammenbruch Sowjetunion ideologisch verarbeitet haben, kann er nicht direkt verantwortlich gemacht werden.6

Außerdem erfolgte der Angriff auf die Ukraine ja keineswegs zu einem Zeitpunkt, in dem die NATO und die USA vor weltpolitischer Stärke strotzen, sondern ganz im Gegenteil deutliche Schwäche zeigten. Spätestens der erzwungene Abzug aus Afghanistan hat das Scheitern der „Neuen Weltordnung‟ endgültig vor Augen geführt. Ausdrücklich und öffentlich sprachen die Kreml-Strategen von einem Fiasko in Afghanistan, das die Schwäche der NATO und der USA deutlich gemacht habe (Manutscharjan 2022). Die Offensive des Putin-Regimes ist insofern keine Reaktion auf eine Bedrohung durch den Westen, sondern purer Revanchismus in einer Situation, in der es seine Chance sieht, die geopolitischen Machtverhältnisse wieder zu seinen Gunsten zu verschieben. Zwar scheint Putin sich dabei verrechnet zu haben, doch das macht die Sache nicht besser; denn das Leid und die Zerstörung, die er mit dem Krieg schon bisher angerichtet hat, sind furchtbar und es zeigt sich, dass das russische Militär immer rücksichtsloser vorgeht, je weniger es seinen Zielen näher kommt.7

Die Gefährlichkeit des Putin-Regimes resultiert gerade daraus, dass seine imperialen Ambitionen eine ideologische und politische Antwort auf den Verlust einer einstigen geopolitischen Machtposition darstellen. Es sind oft die Verlierer in der kapitalistischen Konkurrenz (oder diejenigen, die sich als Verlierer betrachten), die die schlimmsten regressiven Energien mobilisieren und alles daran setzen, entweder ihre alte Position wieder zu erkämpfen oder sich wenigstens an den Gewinnern (oder an stellvertretenden Gruppen) zu rächen, und sei es um den Preis wechselseitiger Zerstörung. Dieses Ressentiment ist auch die subjektive Triebkraft der großangelegten Aktionen, mit denen das russische Regime schon seit langem versucht, das politische Gefüge in den westlichen Staaten zu untergraben und mit dem es auf seinem Territorium alles verfolgt, was als Ausdruck „westlicher Scheinfreiheit‟8 identifiziert wird (unabhängige zivilgesellschaftliche Akteur:innen, queere Communities, freie Kulturszene etc.).

Das ist auch der tiefere Grund dafür, weshalb Putin gerade bei den Rechten und Rechtsextremen auf der ganzen Welt so beliebt ist. Denn deren Ressentiment speist sich aus ähnlichen Quellen: Es entspringt einer identitären Kränkung durch den tatsächlichen oder vermeintlichen Verlust einer gesellschaftlichen Machtposition und artikuliert sich im dem ebenso regressiven wie unrealisierbaren Wunsch nach der Rückkehr in eine Welt, in der diese Position noch gesichert war. In diesem Zusammenhang ist auch der ausgeprägte Maskulinismus zu verorten, den Putin auf besondere Weise repräsentiert und der für alle autoritären und regressiven Strömungen auf der Welt (angefangen bei der AFD und den Trump-Republikanern über die Islamisten bis hin zu den Hindu-Nationalisten) charakteristisch ist.

Denn der Machtverlust berührt den identitären Kern des männlichen Subjektstatus in der bürgerlichen Gesellschaft, der sich primär über die Selbstbehauptung in der allseitigen Konkurrenz definiert und durch die Konstruktion einer untergeordneten Weiblichkeit abgesichert wird, die das genaue Gegenbild dieser Form der Subjektivierung repräsentieren soll. Auf die Erschütterung dieser binären und hierarchischen Geschlechterordnung durch die feministischen Bewegungen und den ökonomischen Strukturwandel in den letzten Jahrzehnten reagieren Männer auf der ganzen Welt mit höchster Aggressivität (Posster 2020; Trenkle 2007). Es geht hier um die Verteidigung des innersten Kern ihres Selbstgefühls, der bisher auch dann noch Halt geben konnte, wenn der soziale Abstieg drohte, weil beispielsweise der Arbeitsplatz verloren ging. Umso erbitterter und rücksichtsloser wird daher diese letzte Bastion verteidigt, wie sich überdeutlich an der exzessiven Zunahme sexualisierter Gewalt auf der ganzen Welt ablesen lässt.

Auch in diesem Sinne ist Putin die ideale Identifikationsfigur. Er repräsentiert einen Typus männlicher Verlierer, der sich gegen die Auflösung der bürgerlichen Geschlechterhierarchie zur Wehr setzt und der politisch und militärisch mächtig genug ist, um diesen Kampf erfolgreich zu führen. Dazu passt die ideologische Unterfütterung mit dem antimodernistischen Weltbild, wonach die Geschichte bestimmt wird von der Konfrontation verschiedener, „organischer‟ Kulturen, die um die Vorherrschaft kämpfen, aber sich auch immer gegen die „Dekadenz‟ und dem „Verfall der Werte‟ im Inneren zur Wehr setzen müssen. Dass diese Zersetzung zugleich mit „jüdischen Intrigen‟ und anderen hinterhältigen Verschwörungen in Verbindung gebracht wird, gehört zur wahnhaften Logik dieses Weltbildes dazu (Stanley 2022).9

Diese regressive Weltsicht, in der sich Autoritarismus, Maskulinismus, aggressiver Kulturalismus und Antisemitismus verbinden, steht allerdings den vielbeschworenen Werten von Demokratie und Freiheit nicht äußerlich gegenüber, sondern bildet gleichsam deren dunkle Rückseite. Sie entspringt dem gleichen gesellschaftlichen Bezugssystem wie die Aufklärung und verweist in ihrem Irrationalismus auf die blinden Flecken der bürgerlichen Rationalität, auf ihre instrumentelle Beschränktheit und auf die systematischen Ausschlüsse, die sie permanent produziert. Daran muss gerade angesichts der aktuellen Konfrontation dringend erinnert werden (Lohoff 2003a; Lewed 2008). Wenn diese nämlich in der westlichen Öffentlichkeit als „Kampf zweier Wertesysteme‟ interpretiert wird, erscheint der Autoritarismus als etwas Fremdes, das von außen in die Welt der liberalen Demokratien hereinbricht. Damit wird aber nicht nur verdrängt, dass diese Welt längst selbst von innen heraus bedroht wird und in nicht wenigen Ländern die Rechtsextremen bereits in der Regierung sitzen, saßen oder bald sitzen werden (demnächst vielleicht sogar in Frankreich). Verleugnet wird auch, dass diese Bedrohung durch die marktradikale Zurichtung der Gesellschaft und die sich verschärfenden sozialen Exklusions- und Spaltungstendenzen überhaupt erst ein solches Ausmaß angenommen hat.

Diese Veräußerlichung des Autoritarismus befördert mehrere bedenkliche Tendenzen. Erstens die Tendenz zur impliziten oder expliziten Kulturalisierung der Auseinandersetzung und damit zu einer Angleichung an den Gegner. Wie das funktioniert, konnten wir schon in der Frontstellung gegen den Islamismus beobachten, wo dessen antimodernistisches Weltbild auf „den Islam‟ zurückgeführt wurde, der mit den „westlichen Werten‟ angeblich nicht kompatibel sei und im Anschluss daran absonderliche Koalitionen zwischen rechten, linken und liberalen Islamfeinden entstanden. Die schon jetzt wahrnehmbare anti-russische Stimmung könnte ein Vorbote einer ähnlichen Tendenz unter neuen Vorzeichen sein (Trenkle 2008). Zweitens kann der Veräußerlichungsdiskurs eine noch stärkere Abschottung des „Westens‟ legitimieren und zu einer noch rigideren Bewachung der nationalen und EU-Grenzen führen sowie die innere Segregation nach dem Muster von gated communities vorantreiben. Diese Verstärkung der ohnehin schon existenten Festungsmentalität käme dem offenen Eingeständnis gleich, dass es nur noch darum geht, die eigenen Privilegien auf Kosten der übrigen Welt zu verteidigen. Die dritte gefährliche Tendenz schließlich ist die Militarisierung der Gesellschaft (durch eigene Aufrüstung) sowie eine damit einhergehende Remaskulinisierung, wie sie sich jetzt schon in der Heroisierung des ukrainischen Widerstands äußert.

Die Auseinandersetzung mit dem Autoritarismus lässt sich auf diese Weise nicht gewinnen. Vielmehr kommt es so zu einer zunehmenden Angleichung der „westlichen Gesellschaften‟ an den scheinbar äußerlichen Feind. Damit soll nicht gesagt werden es sei gleichgültig, auf welche Seite man sich angesichts der autoritären Bedrohung schlägt. Immerhin verweist der universalistische Anspruch der liberal-demokratischen Werte und der Menschenrechte noch auf den Gedanken einer allgemeinen menschlichen Emanzipation, auch wenn dieser permanent von der kapitalistischen Wirklichkeit dementiert wird. Es fällt nicht schwer, dem demokratischen und Menschenrechtsdiskurs seine Doppelbödigkeit und Selbstgerechtigkeit vorzuwerfen; doch das mündet nicht selten in einer expliziten oder impliziten Rechtfertigung des Autoritarismus, wie sich insbesondere am Beispiel von Sarah Wagenknecht studieren lässt. Demgegenüber ist unmissverständlich festzuhalten, dass die relativen Freiheiten in den (noch) demokratisch organisierten Ländern der Welt dezidiert gegen die autoritäre Bedrohung verteidigt werden müssen. Und zwar zur Not auch mit Gewalt. Der militärische Angriff eines autoritären Regimes lässt sich nicht durch „zivilen Widerstand“ aufhalten, wie es große Teile der deutschen Friedensbewegung in echter oder gespielter Naivität propagieren.10 Die Ukraine hat definitiv das Recht, sich mit Waffengewalt zu verteidigen, und es ist richtig, dass die europäischen Länder und die USA sie dabei unterstützen und ihr das dafür nötige Material liefern. Daran ändert rein gar nichts, dass die Ukraine sicherlich nicht als Musterland einer repräsentativen Demokratie gelten kann, sondern auch hier starke nationalistische und autoritäre Tendenzen existieren. Dennoch gibt es eben auch bürgerliche Freiheiten wie in keiner anderen ehemaligen Sowjetrepublik (die baltischen Staaten ausgenommen) und es steht außer Zweifel, dass diese im Fall eines russischen Sieges als erstes abgeschafft würden. Denn sie gelten als Ausdruck „westliche Dekadenz“, deren Bekämpfung eine der zentralen Begründungen für die „Spezialoperation“ ist, auch wenn das völlig im Widerspruch zum Narrativ einer nazistischen Herrschaft in der Ukraine steht.11

Allerdings ist zu befürchten, dass die bürgerlichen Freiheiten in Ukraine auch dann massiv eingeschränkt werden, wenn es dem Putin-Regime gelingt, einen permanenten Kriegszustand aufrechtzuerhalten, etwa indem es die Ostukraine besetzt hält. Schon jetzt hat der Krieg, wie fast immer und überall, die nationalistischen, autoritären und maskulinistischen Tendenzen im Land gestärkt und etwa dazu geführt, dass junge Männer nicht mehr ausreisen dürfen und zwangsweise zum Wehrdienst eingezogen werden.12 Zwar ist es billig, wenn die traditionelle Linke das benutzt, um ihren Standpunkt oberflächlicher Äquidistanz zu rechtfertigen („Seht her: Beide Seiten sind gleich schlimm!“), der auf eine Rechtfertigung des russischen Angriffs hinausläuft. Dennoch muss die klare Frontstellung gegen den Autoritarismus einhergehen mit einer gleichzeitigen Ablehnung des ukrainischen Nationalismus, genauso wie die liberal-demokratische Selbstgerechtigkeit zurückzuweisen ist. Die Offensive des Autoritarismus trägt transnationalen Charakter, auch wenn sie sich im aktuellen Fall gegen ein bestimmtes Land richtet. Deshalb muss auch die Gegenwehr konsequent die Grenzen nationaler Beschränktheit sprengen. Das schließt nicht aus, ein angegriffenes Land mit allen notwendigen Mitteln zu unterstützen, aber es muss auch klar sein, dass der Autoritarismus letztlich nur besiegt werden kann, wenn ihm der Boden entzogen wird, auf dem er entsteht.

Daher sollte der Krieg ein weiterer Anlass sein, die Kämpfe auf dem Feld der sozialen und ökologischen Transformation zu verstärken und mit einer emanzipatorischen Perspektive zu verbinden, die auf den Bruch mit den herrschaftlichen Zwängen von Warenproduktion und Staat zielt. Eines ist in den letzten Wochen überdeutlich geworden: Soziale und ökologische Fragen sind keine „Sonderthemen“ mit nachgeordnetem Charakter, sondern untrennbar und elementar mit dem Krieg und der autoritären Offensive verbunden. Die Abhängigkeit von den fossilen Energien wird ganz gezielt als Waffe eingesetzt und die Preissteigerungen bei Öl und Gas sowie insbesondere auch bei den Nahrungsmitteln verschärfen die soziale Spaltung in den kapitalistischen Zentren und rufen Hungersnöte im Globalen Süden hervor. Das ist für sich genommen schon schlimm genug, hinzu kommt aber noch, dass es die Solidarität mit den geflüchteten Menschen aus der Ukraine und anderswo untergräbt und Wasser auf die Mühlen der rechten Kräfte ist, wie sich gerade bei den Wahlen in Frankreich wieder gezeigt hat.

Deshalb ist ein rascher Wechsel der energetischen Basis ebenso wichtig wie der ökologische Umbau der Landwirtschaft und die Sicherung der allgemeinen Versorgung mit guten Nahrungsmitteln. Doch das erfordert einen Abschied von den marktwirtschaftlichen Dogmen ebenso wie von den falschen Vorstellungen eines „grünen Kapitalismus‟, die gleichermaßen ein solches Vorhaben unterlaufen. Gefordert ist einerseits ein konsequentes staatliches Eingreifen, um die von den Märkten verursachten Verwerfungen abzufangen13; andererseits müssen aber vor allem und in erster Linie die Rahmenbedingungen für den Ausbau selbstorganisierter und kooperativer Strukturen auf allen gesellschaftlichen Feldern geschaffen und erweitert werden. Eine solche Strategie ist nicht an nationale Grenzen gebunden und wäre daher in der Lage, alle Kräfte zusammenzuführen, die sich weltweit gegen den Autoritarismus zur Wehr setzen und zugleich mit der marktwirtschaftlichen Zerstörung der Lebensbedingungen Schluss machen wollen, die diesem den Boden bereiten. Sie wäre universalistisch im emphatischen Sinne des Wortes, weil sie auf die gesellschaftliche Emanzipation im globalen Maßstab jenseits der kapitalistischen Produktions- und Lebensweise zielt.

Literatur:

AG Links-Netz (2012): Sozialpolitik als Bereitstellung einer sozialen Infrastruktur, http://wp.links-netz.de/?p=23

Andreas Exner (2020): „Immer wieder Kalter Krieg“ – Anachronismen und Illusionen der Linken angesichts von Ukraine-Krieg und sozial-ökologischer Transformation, https://cityofcollaboration.org/2022/03/20/immer-wieder-kalter-krieg-anachronismen-und-illusionen-der-linken-angesichts-von-ukraine-krieg-und-sozial-oekologischer-transformation/

Andreas Kappeler (2021): Revisionismus und Drohungen. Vladimir Putins Text zur Einheit von Russen und Ukrainern, in: OSTEUROPA, 71. Jg., 7/2021, S. 67–76

Robert Kurz (1991): Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernen-Sozialismus zur Krise der Weltökonomie, Frankfurt 1991

Karl-Heinz Lewed: Finale des Universalismus. Der Islamismus als Fundamentalismus der modernen Form, in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 32 (2008), S. 104 – 139.

Ernst Lohoff (2002): Feindschaft verbindet, www.krisis.org/2002/feindschaft-verbindet/

Ernst Lohoff (2003a): Gewaltordnung und Vernichtungslogik, in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 27 (2003), S. 17 – 63, www.krisis.org/2003/gewaltordnung-und-vernichtungslogik/

Ernst Lohoff (2003b) Die Furie der Zerstörung. Gewalt und Krieg in der neuen Weltunordnung, in: Jungle World 23/ 2003 (Kurzfassung); Langfassung: www.krisis.org/2003/die-furie-der-zerstoerung/

Ernst Lohoff (2020): Warum das Wohnen unbezahlbar wird und was dagegen zu tun ist; Krisis – Kritik der Warengesellschaft 1/2020), www.krisis.org/2020/warum-das-wohnen-unbezahlbar-wird-und-was-dagegen-zu-tun-ist-krisis-12020/

Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle (2012): Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. Münster: Unrast Verlag

Aschot Manutscharjan »Das wird kein Blitzkrieg« in: Das Parlament Nr. 12, 21.3.2022.

Kim Posster (2020): Staats-Männer: (Anti-)Faschismus und Männerphantasien, in: Unrast Antifa-Kalender 2020, https://kimposster.blackblogs.org/wp-content/uploads/sites/1210/2020/04/Unrast_Staats-Ma%CC%88nner.pdf

Redaktion Kontext (2022): Wie AnarchistInnen den Krieg erleben, in: Kontext-Wochenzeitung 573 vom 23.3.2022. https://www.kontextwochenzeitung.de/debatte/573/wie-anarchistinnen-den-krieg-erleben-8091.html

Norbert Trenkle (2007): Aufstieg und Fall des Arbeitsmanns. In: Exner, Andreas/ Rätz, Werner/ Zenker, Birgit (Hrsg.): Grundeinkommen. Soziale Sicherheit ohne Arbeit. Wien: Deuticke. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2008/aufstieg-und-fall-des-arbeitsmanns/

Norbert Trenkle (2008): Kulturkampf der Aufklärung. Wie die „westlichen Werte“ zu einer aggressiven Stammesreligion mutieren, in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 32 (2008), S. 11 – 29.

Norbert Trenkle (2018): Workout. Die Krise der Arbeit und die Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft (Vortrag auf der internationalen Konferenz „Rethinking the Future of Work“), www.krisis.org/2018/workout-die-krise-der-arbeit-und-die-grenzen-der-kapitalistischen-gesellschaft/

Norbert Trenkle (2020): Verdrängte Kosten, in: Ernst Lohoff/ Norbert Trenkle (Hg.): Shutdown. Klima, Corona und der notwendige Ausstieg aus dem Kapitalismus, Münter 2020, S. 55 – 96.

Johanna W. Stahlmann (1990): Die Quadratur des Kreises. Funktionsmechanismus und Zusammenbruch der sowjetischen Planökonomie, in: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 8/9, www.krisis.org/1990/die-quadratur-des-kreises/

Jason Stanley (2022): Der Antisemitismus hinter Putins Forderung nach „Entnazifizierung“ der Ukraine, https://geschichtedergegenwart.ch/der-antisemitismus-hinter-putins-forderung-nach-entnazifizierung-der-ukraine/

Johanes Voswinkel (2014): Putin will Revanche für 1989, in: Die Zeit 18.3.2014

Greg Yudin (2022): „In Russland droht ein faschistisches Regime‟, in: ak 681, www.akweb.de/politik/greg-yudin-in-russland-droht-ein-faschistisches-regime/

Endnoten:

1  Ein besonders skandalöses Beispiel ist der Aufruf zum Ostermarsch 2022 in Berlin (https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2022/aufrufe/berlin). Er verzichtet ehrlicherweise gleich ganz auf eine Distanzierung von der russischen Kriegspolitik und fordert stattdessen „Verhandlungen Verhandlungen mit Kompromissbereitschaft von beiden Seiten … die vernünftigerweise eine neutrale Ukraine zur Folge haben müssten‟. Im Anschluss daran heißt es: „Warum unternehmen die Regierungen der westlichen Länder, deren Sprachrohre uns täglich mit unüberprüfbaren Kriegsbildern befeuern, nicht alles in ihrer Macht stehende, diesen Horror zu beenden? Sie müssten sich doch nur mit Vernunft und Diplomatie einbringen statt mit Waffenlieferungen, Sanktionen und Aufheizen der Emotionen. Sie müssten mit der weiteren NATO-Osterweiterung aufhören und keine provozierenden NATO-Manöver an der russischen Grenze abhalten‟. Besser hätte man die russische Kriegspropaganda kaum wiedergeben können. Schuld am Krieg sind die westlichen Staaten und die Bilder vom Krieg sind mehr oder weniger erfunden. Da fehlt nur noch die Forderung nach dem Friedensnobelpreis für Herrn Putin. Es soll aber auch gesagt werden, dass in anderen Städten die Aufrufe nicht so offen Stellung beziehen, sondern sich um eine oberflächliche Äquidistanz bemühen, die jedoch auch die eindeutige Verantwortung des russischen Regimes für den Angriffsrkrieg relativiert (vgl. etwa den Aufruf der Nürnberger Initiative: https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2022/aufrufe/n%C3%Bcrnberg).

2  Der Moskauer Soziologe Greg Yudin (2022) spricht vom Putin Regime als einer präfaschistischen Ordnung.

3  Darauf haben wir in der Krisis schon ausdrücklich anlässlich des Irakkrieges von 2003 hingewiesen (vgl. etwa Lohoff 2003b)

4  Im Rahmen der nachholenden Modernisierung konnte ein staatlich organisierten Kapitalismus zwar Basisindustrien aus dem Boden stampfen, eine gesellschaftliche Infrastruktur aufbauen und mehr schlecht als recht eine standardisierte Massenproduktion dirigieren, doch der Übergang zu einer flexiblen, auf Produktivkraft Wissen beruhenden Warenproduktion konnte nicht gelingen, weil sich diese Komplexität einer staatlichen Planung entzieht (vgl. Stahlmann 1990; Kurz 1991). Deshalb ist auch die Diskussionen um einer Erneuerung des Staatssozialismus, wie sie in Teilen der Linken derzeit geführt werden, haltlos.

5 Das zeichnete sich schon sehr deutlich in 2014 bei der Annektion der Krim ab (vgl. etwa Voswinkel 2014)

6 Die Politik der NATO und der USA gegenüber Russland war sehr widersprüchlich. Es gab Phasen der Annäherung und sogar der engen Zusammenarbeit insbesondere gegenüber dem als gemeinsame Gefahr empfundenen Islamismus (Lohoff 2002). Auch verfolgten die NATO-Ländern durchaus konträre Interessen im Hinblick auf Russland; einige, insbesondere Deutschland und Frankreich, strebten sogar eine relativ enge (vor allem wirtschaftliche) Zusammenarbeit an. Vgl. dazu im einzelnen Exner 2022

7 Mittlerweile ist das groteske Narrativ von einer „Entnazifizierung der Ukraine‟ ergänzt worden durch die Forderung nach einer „Entukrainisierung‟, also der offenen Androhung eines Völkermordes. In diesem Sinne hat sich der ehemalige Präsident und Gefolgsmann Putins, Dimitri Medwedew, geäußert, der das außerdem mit der größenwahnsinnigen Phantasie eines „offenen Eurasien von Lissabon bis Wladiwostok“ verbindet (Die WELT, 6.4.2022) https://www.welt.de/politik/ausland/article238010209/Medwedew-will-offenes-Eurasien-von-Lissabon-bis-Wladiwostok.html

8 So das Oberhaupt der Russisch Orthodoxen Kirche, Patriarch Kirill, der in seiner Sonntagspredigt vom 6.3.2022 sagte, der Angriff sei erfolgt, „weil es speziell im Donbass ‚eine grundsätzliche Ablehnung der sogenannten Werte‘ gebe, ‚die heute von denen angeboten werden, die die Weltmacht‘ beanspruchten. […] Es sei eine Zumutung, von Menschen zu verlangen, ‚Schwulenparaden‘ zu ertragen, so der Patriarch; dies sei der wichtigste Punkt bei der ‚sehr einfachen und entsetzlichen Loyalitätsprüfung‘ zwischen West und Ost. Vergebung bestehe darin, auf der ‚Seite Gottes‘ zu stehen‟ https://www.br.de/nachrichten/kultur/russischer-patriarch-schwulen-paraden-grund-fuer-ukraine-krieg,SzOShXa

9 Es ist daher auch kein Zufall, dass sich das Putin-Regime im Milieu der sogenannten Querdenker und von Verschwörungsideologen jeder Art besonderer Beliebtheit erfreut. https://www.tagesschau.de/investigativ/reaktionen-auf-putin-von-querdenkern-und-verschwoerungsideologen-101.html

10 So etwa in dem Aufruf „Die Waffen nieder!‟ (Anzeige in der TAZ vom 2.3.2022), wo es heißt: „Eine Beendigung des militärischen Widerstands seitens der Ukraine, verbunden mit der Ankündigung zivilen Widerstandes gemäß des Konzeptes Sozialer Verteidigung, könnte weitere unzählige Tote, Verletzte und Verwüstungen in einem andauernden Krieg vermeiden helfen‟. Es ist nicht nur vollkommen blauäugig, zu meinen, das russische Militär ließe sich auf diese Weise aufhalten, sondern auch noch höchst anmaßend gegenüber der ukrainischen Bevölkerung, die sich mit allem Recht gegen den Angriff zur Wehr setzt. Zur Kritik an diesem falschen Pazifismus vgl, ausführlich Exner 2022.

11 Selbst ukrainische Anarchist:innen haben dazu aufgerufen, sich gegen den russischen Angriff auch mit Waffengewalt zu verteidigen, weil sich dieser nicht zuletzt gegen die relativen Freiheiten richtet, die es in der Ukraine trotz aller sonstigen Tendenzen noch gibt (Kontext-Redaktion 2022).

12 Schon die Annektion der Krim und die faktische Abtrennung von Teilen der Ostukraine haben zu einer Verstärkung autoritärer und nationalistische Tendenzen in der Ukraine geführt. Auch das berüchtigte rechtsradikale Azov-Regiment entstand in Reaktion auf diesen russischen Angriff. Es ist daher zynisch, wenn dessen Existenz nun als Begründung für den jetzigen Krieg genannt wird. Abgesehen ist der Zuspruch für die Rechtsradikalen in der ukrainischen Bevölkerung bei weitem nicht so groß, wie oft behauptet wird. Das sogenannte Nationalcorps erreichte bei den Parlamentswahlen von 2019 gerade einmal zwei Prozent der Stimmen (Exner 2022).

13 In diesen Kontext gehören etwa Forderungen nach einer scharfen Regulierung des Wohnungsmarktes oder einer Kommunalisierung von Grund und Boden (Lohoff 2020); aber auf die Idee einer kostenlosen sozialen Infrastruktur, wie sie Joachim Hirsch schon vor Jahren ins Gespräch gebracht hat, sollte aufgegriffen werden (AG Links-Netz 2012).