23.10.2022 

Qualitativer Bruch. Über die Aktualtität radikaler Arbeitskritik

von Norbert Trenkle

zuerste erschienen in Jungle World 2022/ 41 vom 13.10.2022

Versão em português

Der Zwang zur Arbeit ist der grund­legende Zwang der kapitalistischen Gesellschaft. Wer in ihr überleben will, muss entweder arbeiten, um in Eigenregie Waren zu produzieren, wie beispielsweise Handwerker oder kleine Selbstständige, oder eben die eigene Arbeitskraft verkaufen, also sich selbst zur Ware machen. Arbeit ist daher nicht einfach produktive Tätigkeit zur Herstellung von (nützlichen oder schädlichen) Dingen, wie es gemeinhin verstanden wird. Sie ist eine his­torisch-spezifische Form gesellschaftlicher Vermittlung. Über die Arbeit stellen die Menschen im Kapitalismus ihren gesellschaftlichen Zusammenhang her, der ihnen dann als versachlichte Gewalt gegenübertritt.

Daher wird auch in der Arbeit die versachlichte kapitalistische Herrschaft unmittelbar erfahrbar. Hier müssen sich die vereinzelten Einzelnen den Zwängen der Konkurrenz, der »Rationalität« und der »Leistung« direkt unterwerfen. Und hier müssen sie davon absehen, was sie produzieren und welchen Schaden sie damit möglicherweise anrichten. Denn es geht letztlich darum, das Produkt der eigenen Arbeitskraft oder die eigene Arbeitskraft blank und bloß erfolgreich zu verkaufen, weil wir ohne Geld in der Warengesellschaft nicht bestehen können. In der Arbeit sind wir alle direkt Teil der gesellschaftlichen Maschine, die dem Selbstzweck der Anhäufung von Kapital gehorcht, und müssen deren Gesetze befolgen.

Es ist daher auch kein Wunder, dass sich auf dem Feld der Arbeit seit den ersten Anfängen des Kapitalismus die heftigsten Konflikte entzündet haben. Anfangs ging es dabei noch um den Zwang zur Arbeit überhaupt. Die aus den traditionellen Produktions- und Lebensverhältnissen gewaltsam herausgerissenen Menschen verweigerten sich massenhaft diesem Zwang, weil sie es schlicht nicht aushielten, den ganzen Tag lang über sich verfügen zu lassen und fremdbestimmt zu schuften. Erst nach Jahrhunderten brutaler Disziplinierung durch Hunger, Peitsche und ideologische Zurichtung wurde die Arbeit zu jener Selbstverständlichkeit, als die sie heute immer noch erscheint. Und dennoch konnte der Drang, sich ihr irgendwie zu entziehen, nie ganz ausgelöscht werden.

Denn der Arbeitsdruck und das Leiden an ihm sind auch durch die rasant gestiegene Produktivität keineswegs verschwunden. Zwar hat sich das Kapital in den vergangenen 40 Jahren immer mehr von der unmittelbar verausgabten Arbeit entkoppelt, weil das Wissen zur maßgeblichen Produktivkraft geworden ist und die Akkumu­lation überwiegend an den Finanzmärkten stattfindet. Die Herrschaft der Arbeit über die Gesellschaft ist dadurch jedoch nicht etwa geschwächt, sondern paradoxerweise sogar noch verstärkt worden. Da die Grundlagen für nichtkapitalistische Produktions- und Lebensweisen fast restlos zerstört worden sind, sind praktisch alle Menschen auf der Welt dazu gezwungen, ihre Arbeitskraft oder andere Waren zu verkaufen, um zu überleben. Da aber gleichzeitig das Kapital immer weniger auf die Arbeit angewiesen ist, sind die Bedingungen für diesen Verkauf aufs Ganze gesehen immer schlechter geworden.

Die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse haben sich also zu Ungunsten der Arbeit verschoben, während sich gleichzeitig ein immer größerer Widerspruch auftut, zwischen dem Drang des Kapitals, die gesamte Welt zu verschlingen, und der stetig steigenden Zahl an Menschen, die für diesen destruktiven Zweck eigentlich nicht mehr gebraucht werden. In großen Teilen des Globalen Südens ist die Mehrheit in diesem Sinne längst für »überflüssig« erklärt worden. Sie kann nur noch durch eine Mischung von sehr prekärer Arbeit im informellen Sektor und nicht weniger prekärer Subsistenz, die überwiegend von Frauen getragen wird, überleben.

In den kapitalistischen Zentren waren zunächst vor allem die aus dem alten Fordismus überkommene Arbeiterschicht und das neue Dienstleistungsproletariat von der ökonomischen und moralischen Entwertung ihrer Arbeitskraft betroffen. Aber auch die relativen Gewinner in der postfordistischen Arbeitswelt, die sogenannten neuen Mittelschichten, mussten immer heftiger strampeln, um ihre soziale Stellung zu halten und nicht aus der ständig beschleunigten Arbeitsmaschinerie herauszufallen. In den vergangenen Jahren mussten die Unternehmen zwar einige Zugeständnisse bei Bezahlung und Arbeitszeiten machen, weil vor allem aus demographischen Gründen Arbeitskräfte fehlen. Aber das ist ein vorübergehendes Phänomen, das spätestens mit dem sich bereits abzeichnenden weltwirtschaftlichen Einbruch sein Ende finden dürfte.

Abgesehen davon geraten aber auch jetzt schon nicht nur die sozialen Verlierer, sondern auch große Teile der Mittelschicht unter Druck, weil das Wohnen unbezahlbar wird und die Lebenshaltungskosten in die Höhe schießen. Der Grund liegt wieder darin, dass das Kapital die gesamte Erdoberfläche für seine Zwecke okkupiert und die damit einhergehende Zerstörung der Lebensgrundlagen mittlerweile auch direkt auf die ökonomischen Prozesse zurückschlägt.

Wer angesichts dessen immer noch das Loblied der Arbeit singt und so tut, als ließe sich die Krise dadurch lösen, dass alle den Gürtel enger schnallen, die Heizung herunterdrehen und nochmal kräftig die Ärmel hochkrempeln, leidet unter einem geradezu grotesken Realitätsverlust. Er fordert nichts anderes, als die kapitalistische Maschinerie immer weiter in Gang zu halten, obwohl sie uns nichts zu bieten hat als noch mehr Zerstörung und immer schlechtere Arbeits- und Lebensbedingungen. Das genaue Gegenteil ist gefragt. Es kommt darauf an, dem Kapital die Lebenszeit und die Ressourcen streitig zu machen, die es uns permanent entzieht und in Mittel der Weltzerstörung verwandelt. Nur so kann es gelingen, die Räume zu öffnen für eine Produktions- und Lebensweise, die auf freier, selbstbestimmter Tätigkeit, Kooperation und Solidarität beruht.

Richtungsweisend in diesem Sinne sind Forderungen nach einer kosten­losen sozialen Infrastruktur und einer Vergesellschaftung des Energie- und des Wohnsektors. Denn sie zielen darauf, zentrale Bereiche der Existenzsicherung dem Markt zu entziehen und als commons, also im weiteren Sinne als Gemeingut, zu organisieren. Zugleich erweitern Schritte in diese Richtung die Spielräume für eine Zurückdrängung des Arbeitszwangs, vor allem durch eine breit angelegte Arbeitszeitverkürzung, und für ein Herunterfahren der destruktivsten Sektoren der kapitalistischen Produktion, etwa der Autoindustrie.

Mit »Verzicht«, wie er jetzt überall gepredigt wird, hätte das nichts zu tun. Im Gegenteil: Es wäre ein Gewinn an Lebensqualität und an disponibler Zeit, die nicht zuletzt auch für eine neue, geschlechtergerechte Aufteilung der Reproduktionstätigkeiten genutzt werden könnte, die bisher als eine Art verschwiegene Grundlage der Arbeit fungieren und als solche inferior gesetzt werden. Die Aufhebung der Arbeit ist daher auch viel mehr als bloß eine quantitative Reduktion der Lohn­arbeit, wie sie etwa in den gängigen technizistischen Utopien verhandelt wird; sie ist ein qualitativer Bruch mit der verdinglichten, gesellschaftlichen Tätigkeits- und Beziehungsform, die der kapitalistischen Herrschaft zugrunde liegt, und notwendige Voraussetzung für gesellschaftliche Emanzipation.