Peter Samol
Dieser Artikel wurde ursprünglich in der Monatszeitung OXI – Wirtschaft anders denken 8/23 veröffentlicht.
In den Wirtschaftswissenschaften wird Bildung vor allem als „Bildung von Humankapital“ aufgefasst. Demnach wird mit ihren Inhalten ein Vermögen erworben, mit dem man sich anschließend mit großen Erfolgsaussichten auf den Arbeitsmarkt begeben kann.
Der 2014 verstorbene Ökonom und Wirtschaftsnobelpreisträger Gary S. Becker stellte Anfang der 1990er Jahre die Behauptung auf, dass Arbeitskräfte heute, anders als zur Zeit von Karl Marx, keine homogene Masse mehr darstellen. Demnach sind sie nicht mehr alle gleich und damit auch nicht mehr jederzeit gegeneinander austauschbar. Stattdessen verfügt jede Arbeitskraft über eigene spezielle Fähigkeiten, die Becker als Humankapital bezeichnet. In diesem Sinne verfügt jedes Individuum über einen eigenen, ganz speziellen Bestand an verwertbaren Fertigkeiten, die es auf dem Arbeitsmarkt zu Geld machen kann.
Becker gehörte der Chikagoer Schule an, jener Denkfabrik, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts maßgeblich an der Formulierung und Durchsetzung der Neoliberalen Wirtschaftslehre beteiligt war. Sein 1964 erschienenes Buch Human Capital galt dabei als Standardwerk. Seine Kernaussage beinhaltet, dass sich Humankapital wie jedes andere Kapital behandeln lässt, also genauso wie Fabrikgebäude, Maschinen, Rohmaterial und dergleichen. In diesem Sinne gilt der menschliche Nachwuchs als langlebige Produktionsgut. Der Begriff Humankapital wurde zwar im Jahr 2004 zum Unwort des Jahres gekürt mit der Begründung, dass es Menschen „zu nur noch ökonomisch interessanten Größen“ degradiert, das änderte aber nichts daran, dass Ökonomen ihn bis heute verwenden. Für sie gilt Bildung schlicht als Investition in die Leistungsfähigkeit junger Menschen. Allerdings nur, wenn ihre Inhalte wirtschaftlich verwertbar sind.
Tatsächlich gilt es in unserer Gesellschaft als normal, zunächst Bildung zu erwerben und auf ihrer Grundlage anschließend für den eigenen Lebensunterhalt zu sorgen. In der Regel wird zu diesem Zweck ein Studium angestrebt. Das wirft aber selbst noch kein Einkommen ab, sondern kostet vielmehr nicht gerade wenig Geld. Für den eigenen Lebensunterhalt, Lernmittel und nicht zuletzt für den Semesterbeitrag von bis zu 250 Euro pro Halbjahr fallen durchschnittlich zwischen 596 und 1250 Euro monatlich an. Dafür allein reicht das Kindergeld von rund 250 Euro, das bis zum vollendeten 25. Lebensjahr gezahlt wird, nicht aus.
Am unbeschwertesten und damit auch am erfolgversprechendsten ist es natürlich, wenn der eigene Bildungsgang frei von finanziellen Sorgen ist. Vermögende Eltern zu haben ist daher eine gute Startvoraussetzung. Und wenn das nicht der Fall ist? Dann wäre es wünschenswert, wenn der Staat einspringt. Tatsächlich wird ja ein großer Teil der allgemeinen Bildungskosten vom Staat gestellt, vor allem Schulen, Universitäten und Lehrkräfte. Das läuft aber schon lange nicht mehr problemlos ab. Verfallende Schulgebäude, ein grassierender Lehrkräftemangel sowie chronisch überfüllte Klassen und Vorlesungen sind Folge einer notorischen Mangelfinanzierung im Bildungssystem. Noch schlechter ist es um die individuellen Bildungskosten bestellt, die man üblicherweise selbst bestreiten muss. Wenn die Eltern nur ein geringes Einkommen haben und man selbst kein Vermögen, kann man immerhin Bafög beantragen. Das Kürzel steht für Geldleistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz. Zu Zeit schießt der Staat Studierenden maximal 934 Euro pro Monat hinzu, im Durchschnitt betragen die Zahlungen 579 Euro. Davon muss die Hälfte nach dem Studium in Raten zurückgezahlt werden, Zinsen fallen nicht an. Als das Bafög im Jahr 1971 eingeführt wurde, wurde es noch als Vollzuschuss gezahlt und die Hälfte aller Studierenden kam in den Genuss dieser Förderung. Schon bald wurde es chronisch vernachlässigt. Vor allem die notwendigen Anpassungen der Fördersätze und der Freibeträge an die steigenden Lebenshaltungskosten wurden regelmäßig verschleppt, teilweise bis zu sieben Jahren. Außerdem blieben die Steigerungen jedes Mal hinter der Inflationsrate zurück. Die Höhe der Förderbeträge entsprach dadurch immer weniger der Lebenswirklichkeit der Studenten. Das Gleiche ereignete sich hinsichtlich der Einkommensgrenzen der Eltern. Eine Förderung gibt es nämlich nur dann, wenn das Einkommen der Eltern einen bestimmten Betrag nicht übersteigt. Diese Obergrenzen stiegen in weit geringerem Maße als die Löhne. Die Folge sind viele Studierende, deren Eltern zwar zu wenig Geld verdienen, um ihre Kinder unterstützen zu können, aber zugleich zu viel, damit diese Bafög bekommen können. Die Folge ist, dass heute nur noch gut elf Prozent aller Studierenden Bafög beziehen. Viele junge Menschen scheuen daher ein Hochschulstudium entweder weil sie erst gar nicht erst unterstützt werden oder weil sie Angst haben, nach dem Studium mit einem Schuldenberg ins Erwerbsleben zu starten.
68 Prozent aller Studenten in Deutschland arbeiten neben dem Studium, weil sie das zusätzliche Geld benötigen. Die häufigsten Tätigkeiten sind Kellnern, Taxifahren, Verkauf und Büroarbeit. Nach Angaben des Deutschen Studierendenwerks könnte über die Hälfte der Studenten ihr Studium ohne eine solche Nebenerwerbstätigkeit nicht finanzieren. Das zeitraubende Geldverdienen hält allerdings vom Lernen fürs Studium ab. Ungefähr ein Drittel der Studierenden ist so sehr mit dem Erwerb des Lebensunterhalts beschäftigt, dass es nach eigenem Bekunden kaum ausreichende Zeit fürs Studium hat. Einige geben ihr Studium vor dem Abschluss auf, weil sie knapp bei Kasse sind, von den anderen studieren viele etliche Semester länger, weil sie kellnern oder Taxi fahren, statt zu lernen.
Eine andere Möglichkeit ist die Aufnahme eines Studentenkredits. Den bekommt man beispielsweise bei Privatbanken, die dafür allerdings hohe Zinsen von deutlich über fünf Prozent verlangen. Außerdem und machen sie die Vergabe davon abhängig, dass ein vielversprechendes Fach mit entsprechenden Verdienstmöglichkeiten gelernt wird. Sofern man nicht Betriebswirtschaft, Jura, Informatik oder ein ähnlich erfolgversprechendes Fach studiert, haben die entsprechenden Kreditgespräche häufig einen extrem inquisitorischen Charakter, bei denen die künftige Verwertbarkeit des eignen Ausbildungsganges bewiesen werden muss. Nicht selten scheitert eine Kreditaufnahme dann an einem zu weit fortgeschrittenen Alter oder an der Fächerwahl. Einfacher ist es bei der Staatlichen Kreditanstalt für Wiederaufbau (kurz KfW). Sie bietet Kredite von maximal 650 Euro pro Monat an, die nach dem Studium einkommensabhängig zurückgezahlt werden. Diese sind sehr viel einfacher zu bekommen. Es bedarf dazu keinerlei Sicherheiten und auch das Studienfach spielt keine Rolle. Allerdings liegt der Jahreszins hier sehr hoch. Aktuell beträgt er stolze 7,82 Prozent. Dafür sind die Tilgungsfristen extrem lang; so lange man gar keine Arbeit hat, muss man auch nichts zurückzahlen und die monatlichen Rückzahlungsraten dürfen zehn Prozent des verfügbaren Einkommens nicht übersteigen. Allerdings laufen die Zinsen immer weiter, was auch schon mal auf eine lebenslange Lohnpfändung hinauslaufen kann. Studienkredite sind daher mit höchster Vorsicht zu betrachten, wie auch der Studierendenwerks-Vorstand Matthias Anbuhl sagt. Sie sind als das letzte Mittel der Wahl zu betrachten, wenn Eltern, Bafög und Nebenjob nicht mehr greifen. In solchen Fällen hängt die Entscheidung für ein Studium bzw. dessen Fortsetzung maßgeblich von der Verschuldungsbereitschaft der Betroffenen ab. Nicht jede und nicht jeder möchte schließlich mit einem Schuldenberg im hohen fünfstelligen Bereich ins Berufsleben starten.
Auch an den Universitäten selbst hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten so einiges verändert. Früher konnte man dort Bildung auch nach Gesichtspunkten von Interessen, Begabungen und persönlicher Entwicklung verfolgen. Das ist seit der Änderung des Hochschulrahmengesetzes vom 15. August 2002 kaum noch möglich. Diese erfolgte im Zuge des so genannten Bologna-Prozesses, mit dem seinerzeit auch die Bachelor- und Master-Abschlüsse eingeführt wurden. Die Universitäten selbst wurden damals stark in Richtung Wirtschaftskonformität umgestaltet. Statt autonome Persönlichkeiten hervorzubringen, sollten sie fortan passend qualifiziertes Personal für Unternehmen liefern. Die Studiengänge wurden zusehends in Richtung einer weitgehend theorielosen und reflexionsarmen Praxisnähe umgestaltet. Universitäten sollten nun nicht mehr primär Erkenntnisse liefern, sondern vor allem verwertungsgerecht aufbereitetes Humankapital sowie Technologien und Verfahren, die sich gewinnbringend in der Wirtschaft einsetzen lassen.
Da Bildung von Seiten der Politik zunehmend nur noch aus Sicht der Kostenlogik und der Humankapitalbildung betrachtet wird, werden ihre Inhalte immer stärker auf das konzentriert, was gerade am Arbeitsmarkt nachgefragt wird. Auch die technokratischen Schul- und Hochschulreformen der letzten beiden Jahrzehnte – vor allem die gescheiterte und inzwischen weitgehend zurückgenommene verkürzte Gymnasialzeit sowie die Einführung der Bachelor- und Master-Abschlüsse – sind in erster Linie mit dieser Absicht vorgenommen worden. Die Jungen Menschen sollten ein kühl kalkulierendes Verhältnis zu ihrer eigenen Bildung entwickeln und diese vor allem als Investition in künftige Verdienstmöglichkeiten betrachten. In Zeiten knapper öffentlicher Kassen, die sich in der Kombination aus Dauerkrise und einer entschieden wirtschaftsfreundlichen Politik quasi automatisch ergeben, werden außerdem Kosten eingespart und viel zu große Schulklassen und zu wenig Lehrkräfte unterhalten. Eine besonders schlimme Folge der Mangelverwaltung im Bildungsbereich ist eine extrem hohe Schulabbrecherquote von jährlich fast 50.000 Schülern und 15.000 funktionalen Analphabeten. Ohne jede Chance auf eine Ausbildung, von einem Studium ganz zu schweigen, bleibt ihnen nur noch, sich auf ein Leben zwischen Gelegenheitsjobs und Hartz IV einzustellen.