28.12.2023 

Der bedauerliche Dauerzustand: Das Wort des Jahres lautet »Krisenmodus«

Von Peter Samol

(Zuerst erschienen in der Jungle World 2023/51 vom 21.12.2023)

Das Wort des Jahres 2023 spiegelt die multiplen Krisen, die aus der kapitalistischen Ökonomie resultieren. Auf Platz zwei der Liste liegt Antisemitismus.

Das »Wort des Jahres« gibt es seit 1971. Seit 1977 wird es jährlich im Dezember ausgewählt, und zwar von der Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS), die aus Sprachwissenschaftlern und Medienexperten besteht. Sie kürt jedes Jahr den Begriff, der die öffentliche Diskussion ihrer Ansicht nach am stärksten und in besonderer Weise geprägt hat. Vorschläge kann übrigens jede:r einsenden.

Das Wort des Jahres 2023 lautet »Krisenmodus«. Fast könnte man sich darüber freuen, dass die Bedrohlichkeit der Lage endlich von einer breiteren Öffentlichkeit erkannt wird, wenn nur die Reaktionen darauf nicht so regressiv und beunruhigend wären. Der GfdS zufolge befindet sich die Welt erst seit 2020 im Krisenmodus. Doch trifft es eher zu, dass die Krise seitdem schlicht nicht mehr zu übersehen ist, ihr Beginn aber ließe sich sinnvoller auf die frühen siebziger Jahre datieren. Seitdem ist zuerst die Wirtschaft ins Stottern geraten, was sich unter anderem in zwei großen Krisen von 2001 (Dotcom-Crash) und 2008 (Immobilienkrise und in ihrer Folge die Finanz- und Wirtschaftskrise) zeigte. Ohnehin konnten ganze Weltregionen – insbesondere im sogenannten Globalen Süden – und wachsende Bevölkerungsschichten am weltweiten Wohlstand kaum Anteil haben.

Die heutige multiple Krise ist eine direkte Folge dieser Entwicklung. Die Not löst bei vielen Menschen irrationale Reflexe aus, die populistische Politik nur allzu gern bedient. Auch die eskalierende Klimaerwärmung und die durch Sars-CoV-2 ausgelöste Krise sind Folgen des Wirtschaftssystems, das der Natur immer enger auf den Leib rückt. Weitere einschlägige Krisenerscheinungen sind Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine, die Inflation, der Überfall der Hamas auf Israel, die Bildungsmisere, das mit einer unsinnigen »Schuldenbremse« hausgemachte Finanzierungschaos der deutschen Bundesregierung und last but not least die weltweite Erfolgsserie des Rechtspopulismus. Täglich kommen neue Probleme hinzu, während die alten nicht nur nicht gelöst, sondern Lösungsversuche immer mehr torpediert werden.

Bei der Wahl des Worts des Jahres landete »Antisemitismus« auf Platz zwei. Der ist nun wirklich ein alles andere als neues Problem und noch dazu eines, das überall in der Gesellschaft zu finden ist: rechts, links, in der Mitte; bei Einheimischen, bei Migranten und auf der ganzen Welt. Es ist besonders erschütternd, wie viele Menschen nach dem Angriff vom 7. Oktober nicht in der Lage sind, Mitgefühl mit den gequälten, getöteten und gekidnappten israelischen Frauen, Männern und Kindern jedes Alters aufzubringen. Sicher, die israelische Regierung betreibt seit Jahrzehnten eine extrem kurzsichtige Politik gegen die Palästinenser und führt ihre gegenwärtige Militäraktion ohne allzu große Rücksicht auf Zivilpersonen durch, aber das eine Leid macht das andere nicht harmloser oder gar erträglicher. Man kann mit den Opfern beider Seiten mitfühlen und sich außerdem bewusst machen, dass es einen Unterschied zwischen dem von Hamas-Terroristen verübten Töten und Foltern und der Inkaufnahme von zivilen Opfern in einem Verteidigungskrieg gibt.

Beim israelisch-palästinensischen Konflikt agiert sich zudem ein weltweiter und tiefer Groll gegen den Westen aus. Auch Russland zeigt sich plötzlich israelfeindlich, obwohl es bis vor kurzem noch als einer der zuverlässigsten Partner Israels galt. Sogar die chinesische Regierung entdeckt auf einmal ihren Antisemitismus. Er dient schlicht als Anlass und Mittel, um gegen den Westen zu agieren. Israel ist von allen westlich orientierten Ländern in der schwierigsten geographischen Lage und daher am leichtesten anzugreifen. Bernd Ulrich diagnostizierte in der Zeit vom 7. Dezember in diesem Zusammenhang eine gewaltige gegen den Westen gerichtete Energie, die sich gerade vorzugsweise an Israel und darüber hinaus an den Juden in der Welt ausagiert.

Der Westen geht seiner Übermacht verlustig und die Welt tritt Ulrich zufolge in eine »Payback-Phase« ein, die von der Wut und den Rachegelüsten der ehemals Gebeutelten genährt wird. Die jahrhundertelange kolonialistische Ausbeutung und ihre Fortsetzung im Postkolonialismus – zum Beispiel durch erzwungene Importe von Billigwaren der Industrieländer im Austausch gegen günstige Rohstoffe – sind nicht vergessen. Ganz zu schweigen von den westlichen Militärinterventionen. Afghanen, Iraker und viele andere haben bitter erfahren müssen, dass der Westen alles andere als Segen über die Welt gebracht hat. Und wer kann es den Menschen in Mali, Niger, Gabun und Burkina Faso verdenken, dass sie das postkoloniale Regime Frankreichs abschütteln? Es fragt sich allerdings, ob es ihnen mit ihren russischen »Helfern« besser ergehen wird. Der Westen verliert seine dominante Position. Aber sind Wladimir Putin, Xi Jinping und Co. bessere Nachfolger?

Die von Ulrich so bezeichnete Payback-Energie geht mit Erlösungsversprechen einher, die keine Lösungen bringen: eine erfolgreiche Hamas hätte den Palästinensern alles andere als Freiheit zu offerieren. Die ist auch nicht von den neuen Militärregimen in der Sahelzone zu erwarten und ganz gewiss nicht von Putin.

Der Westen verliert seine Dominanz. Dabei ist insbesondere in den USA eine starke Tendenz zum Isolationismus auszumachen. Die Republikanische Partei fordert nach dem Motto »America First!«, internationales Engagement weitgehend zu unterlassen, andererseits sind die USA aber auf Rohstoffe, Lieferanten und Abnehmer angewiesen, was diese Absicht konterkariert.

Ob freiwillig oder erzwungen, mit dem Rückzug des Westens ist noch lange nichts für Freiheit, Würde oder ein gutes Leben gewonnen. Von lokalen Warlords über ausländische Söldnertruppen bis hin zu Staaten wie Russland oder China drängen andere offen oder verdeckt in die Lücken, welche die USA hinterlassen, und errichten vor allem Gewaltregime. Überhaupt wird Gewalt mehr und mehr zum Mittel der Wahl, wo immer sie Erfolg verspricht. Die Welt taumelt in den Abgrund der allgemeinen Regellosigkeit. Eingespielte Gepflogenheiten, Abmachungen, Abkommen werden außer Kraft gesetzt oder übergangen, wo dieses Vorgehen Erfolg verspricht. Das ist eine neue Qualität der Krise. An Regeln hält man sich nur, solange man mit ihnen einigermaßen leben kann; je schlechter das Leben wird, umso näher liegt der Verstoß. Auf ihn folgt meist die Unterdrückung.

Denn dann werden die mehr oder weniger zivilisatorischen und regelhaften Momente beiseite geschoben, die sich bis dahin etabliert hatten, und es herrscht die Gewalt, allenfalls bemäntelt und scheinbar gerechtfertigt durch Ideologien, die beliebig abgerufen und bei Bedarf auch selbst erzeugt werden. So bezeichnet Russland ein Land, das es gerade willkürlich angreift, kontrafaktisch als von einem Nazi-Regime beherrscht. Es ist aber nicht Russland allein, das der Welt gerade vormacht, wie das geht.

So dringt die Gewalt in das Vakuum, das insbesondere die USA durch ihren Rückzug aus Afghanistan und anderen Ländern hinterlassen haben. In dieser Lage wäre es dringend geboten, mit politischer Klugheit und Umsicht zu reagieren. Stattdessen aber schießen überall Ideologien und Irrationalismen ins Kraut. Nicht zuletzt die westlichen Länder erleben gerade mit den Erfolgen rechtspopulistischer Parteien sowie dem Grassieren von Verschwörungstheorien eine Raserei des Irrationalen, bei der es vor allem darum geht, alles Fremde weit von sich zu weisen und Feinde zu finden, die man bekämpfen kann. In den USA wird eine Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus wahrscheinlicher, der immer offener über diktatorische Maßnahmen nach seiner Machtergreifung phantasiert und damit auch noch Jubel bei seinen Anhängern hervorruft.

In Deutschland bedient die Regierung unter Beteiligung der sich sonst so weltoffen gebenden Grünen die Migrantenfeindlichkeit. Als könne man mit dem rigideren Entfernen von Fremden auch nur ein einziges Problem lösen.

Die rechten Rezepte führen nirgendwo hin, aber auch von links ist nichts zu erwarten. Die hiesige Linkspartei zerfällt gerade in eine neue Querfrontpartei einerseits und eine schwer einzuschätzende Restpartei andererseits, von der man unter anderem nicht weiß, wie putinfreundlich sie eigentlich ist. Und dann gibt es noch die sogenannten Antiimperialisten, die praktisch im Schulterschluss mit der AfD die russische Propagandalüge von den ukrainischen Nazis nachplappern.

Ökonomisch gesehen hat sich die deutsche Regierung mit der »Schuldenbremse« um die eigene Handlungsfähigkeit gebracht, was sie gerade mächtig ins Schleudern bringt. Genüsslich ausgenutzt und voller Schadenfreude zelebriert wird diese Situation vom Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU), der gegen die gesetzlich vorgeschriebene Erhöhung des Bürgergelds ab dem 1. Januar 2024 plädiert, faktisch also dafür, das Geld den Ärmsten und Schwächsten zu nehmen; das trifft bei der kleinsten Regierungspartei, der FDP, auf Resonanz.

Es ist geradezu ein Euphemismus, die Gesamtlage lediglich als düster zu bezeichnen. Und dabei war von der fundamentalen Krise im Verhältnis von Mensch und Natur noch kaum die Rede. Gibt es für ein besseres Leben im Zeitalter der ökologischen Katastrophen überhaupt Spielraum? Droht nicht vielmehr ein Dauernotstand? Mit einer Menschheit, die sich selbst dann noch in kleinkarierten Differenzen verliert und immer fragwürdigeren Ideologien folgt? Die mageren und unverbindlichen Beschlüsse der jüngsten Klimakonferenz in Dubai lassen jedenfalls wenig Hoffnung aufkommen. Das Ganze ist im Grunde kein Krisenmodus mehr, es ist vielmehr der Blick in den Abgrund.