Javier Milei hat seine Wähler vor allem mit seiner gegen das sogenannte Establishment gerichteten Rhetorik beeindruckt. Dabei ist fraglich, wie realistisch seine radikalen Wahlversprechen sind.
Von Javier Blank
Zuerst erschienen in der Jungle World 2023/50 vom 14.12.2023
Man könnte meinen, das Bild stamme aus einem Horrorfilm: Ein irrwitzig grinsender Mann hantiert bedrohlich mit einer Kettensäge. Die Aufnahme von Javier Mileis Wahlkampfauftritt aus dem November ging um die Welt. Am 10. Dezember wurde der Ökonom, der sich selbst als Anarchokapitalist bezeichnet, als Präsident Argentiniens vereidigt.
»Wenn das Publikum die Satire ernst nimmt, das heißt, wenn es bereit ist, die phantasievollste Fiktion als Realität zu akzeptieren, dann deshalb, weil die Realität krank geworden ist«, schreibt der angolanische Schriftsteller José Eduardo Agualusa in seiner Kolumne für die brasilianische Tageszeitung O Globo über die Wahl Javier Mileis. »Milei ist die Satire auf den Ultraliberalismus in seiner gröbsten und unsystematischsten Version.«
Auch der brasilianische Schriftsteller Julián Fuks verweist auf die Anziehung des Fiktionalen in Mileis Selbstinszenierung, um seinen doch einigermaßen überraschenden Wahlerfolg zu erklären. Er beschreibt ihn als »flache, extrem karikaturhafte Figur ohne psychologische Tiefe, die von einem breiten Publikum, das sich für eine einfache und flotte, wenn auch brutale Geschichte begeistert, leicht angenommen werden kann«.
2015 konstatierte die österreichische Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak in ihrem Buch »Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse«, der weltweite Aufstieg der extremen Rechten gehe mit der Fiktionalisierung der Politik einher. Sie meint damit »die Verwischung der Grenzen in der Politik zwischen dem Realen und dem Fiktionalen, dem Informativen und dem Unterhaltsamen, die für den Betrachter eine Realität schafft, die geordnet und überschaubar erscheint und damit eine täuschend einfache Illusion im Gegensatz zur sehr realen Komplexität und zum Pluralismus der heutigen Gesellschaften darstellt«.
Die desolate und verzweifelte Lage im Land ohne Aussicht auf Veränderung veranlasste die Mehrheit der Argentinier zu einem Pakt des Fiktionalen mit einem der Kandidaten, der gegenüber seinem Konkurrenten in der Stichwahl, dem ehemaligen Wirtschaftsminister Sergio Massa, den Vorteil hatte, nicht für die Lage des Landes verantwortlich gemacht werden zu können.
Umberto Eco schrieb einmal, an Samuel Taylor Coleridge anschließend, über den Pakt, den Leser und Autor in der Romanliteratur miteinander eingehen, als eine »Suspension der Ungläubigkeit«. Der Rezipient »muss wissen, dass es sich um eine erfundene Geschichte handelt, ohne zu denken, dass der Autor lügt«. »Der Autor tut so, als würde er eine wahre Aussage machen. Wir akzeptieren den fiktiven Pakt und tun so, als ob das, was er uns erzählt, wirklich passiert ist.«
Dies scheint zu erklären, dass, wie auch schon 2018 bei der Wahl Bolsonaros zum brasilianischen Präsidenten, für viele Wähler Mileis offenbar gar nicht entscheidend war, ob sie glauben, dass er das, was er vorschlägt auch umsetzen kann. Dessen Wahlkampfversprechen – die Abschaffung von Ministerien, die Dollarisierung der Wirtschaft, die Liberalisierung des Organverkaufs – dienten im Grunde genommen vor allem dazu, den Eindruck zu untermauern: Dieser spezielle Kandidat repräsentiert den tiefgreifenden Wandel, den das Land braucht.
In seinem Wahlkampf kündigte Milei ferner Einsparungen an, die Verkleinerung des Beamtenapparats, auch den »Abbau« der politischen »Kaste«. Seinen Willen zum abrupten Schnitt inszenierte er mit der Kettensäge. Den Wählern die Dringlichkeit eines Bruchs mit dem Bestehenden zu vermitteln, war wichtiger als die Frage, ob man am Ende selbst die Kettensäge schwingt oder aber von ihr zerlegt wird.
Da der Pakt des Fiktionalen jedoch ein freiwilliger und vorübergehender ist, drohen Inkohärenzen die Vereinbarung zu brechen. In Mileis Verhalten finden sich bereits solche Elemente: Er versprach, die Zentralbank zu schließen, ernannte aber erst kürzlich Santiago Bausili zu ihrem neuen Gouverneur, und er ernannte Patricia Bullrich, die Kandidatin der Konservativen, die er zuvor noch als »mörderische Bombenwerferin« bezeichnet hatte, zur Sicherheitsministerin seiner Regierung.
Milei befürwortet einerseits die Ehe für alle, andererseits ein striktes Abtreibungsverbot. Eines seiner Wahlversprechen war es, das Frauenministerium und das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI) abzuschaffen. Auch seine Hetze gegen den Sozialstaat wurde als Kampf gegen unfaire Privilegien aufgefasst und deshalb begrüßt. Eine Karikatur von Rudy und Paz, veröffentlicht in der argentinischen Tageszeitung Página/12, enthält einen Dialog, der diese Stimmung illustriert: »Warum wählst du die Neoliberalen? – Weil ich will, dass es mehr Gleichheit gibt. Ich habe weder ein weißes Gehalt (Gegensatz zu Schwarzgeld, Anm. d. Red.) noch Weihnachtsgeld noch bezahlten Urlaub. – Wenn die Neoliberalen gewinnen, wirst du das auch nicht haben. – Ich weiß, aber du auch nicht.«
In Argentinien gibt es nicht knapp 14,5 Millionen Anarchokapitalisten (so viele haben den Kandidaten Milei gewählt), die wie er an »Märkte frei von staatlicher Intervention« glauben. Auch dürften sie wahrscheinlich nicht ernsthaft denken, dass ein absoluter Bruch mit den bestehenden Institutionen möglich ist. Vielmehr nehmen sie die Fiktion an, dass Milei über seine konkreten Vorschläge hinaus für Wandel steht. Dieser Pakt wird, so war es bei Jair Bolsonaro in Brasilien zu beobachten, nicht sofort aufgelöst, selbst wenn die Wähler keine Verbesserung des Lebens unter den neuen Regierungen erfahren.
Vor allem die Annäherung von Milei an Mauricio Macri und Bullrich, seit jeher konservative Mitglieder der politischen Kaste, die er bis dahin heftig denunziert hatte, schien dem Pakt ein Ende zu setzen. Mileis deutlicher Wahlsieg bewies jedoch das Gegenteil. Der Wille zur Fiktion war stärker als die Indizien der politischen Realität. Nun kündigt Milei scharfe Anpassungen an, die nicht nur die vermeintlich Privilegierten, sondern die gesamte Bevölkerung treffen werden. Nach einem schmerzhaften Übergang verspricht er ein »Licht am Ende des Tunnels«. Neu ist, dass der Erzähler Milei ab Sonntag verpflichtet ist, den Präsidenten Milei in seine fiktive Welt einzubinden.