15.04.2023 

Präventive Konterrevolution. China strebt eine illiberale Weltordnung an

von Ernst Lohoff

zuerst erschienen als Disko-Beitrag in Jungle World 2023/ 14

Der einschlägige innerlinke Streit über China liefert über weite Strecken mehr Aufschluss über den Zustand der hiesigen Linken als über die Entwicklung der chinesischen Gesellschaft und ihre Position im warenproduzierenden Weltsystem. Schon in den siebziger Jahren, als der in China umgefallene Sack Reis dem Volksmund noch als Metapher für irrelevante Vorgänge diente und in Politik und Wirtschaft kein Hahn nach der Volksrepublik krähte, galt das Verhältnis zu diesem Land als eine Art Gesinnungstest unter Linken. Der Teil der Neuen Linken, der damals auf autoritäre Abwege geriet, identifizierte sich entweder mit der Sowjetunion oder bekannte sich zum Maoismus und feierte wie der Vorsitzende der KPD/ML, Ernst Aust, das »sozialistische China« als »den Leuchtturm der Weltrevolution«. Die Linken, die auf Selbstorganisierung und Graswurzelrevolution bauten und von Kaderparteien nichts hielten, wahrten dagegen Distanz zum »chinesischen Modell«.

Sowohl die chinesische Gesellschaft als auch das warenproduzierende Weltsystem haben sich seit diesen Tagen entscheidend verändert. Damals zerfiel Letzteres noch in zwei weitgehend getrennt voneinander operierende Abteilungen: In die westliche Variante des Kapitalismus und in den Staatskapitalismus östlicher Prägung. Unter Mao verfolgte die chinesische Führung ein Programm strikt autozentrierter Entwicklung. Kaum ein Land war derart weitgehend vom Weltmarkt abgekoppelt wie die Volksrepublik. Mittlerweile gehören Regionen wie Shenzhen und Shanghai zu den Zentren des Weltkapitals und haben in wichtigen Fertigungssektoren den europäischen und US-amerikanischen Standorten den Rang abgelaufen.

Maos Entwicklungsdiktatur versuchte, die gesamte chinesische Gesellschaft für den langen Modernisierungsmarsch zu mobilisieren, und wollte insbesondere die besitzlosen Bauern mitnehmen. Heutzutage ist kaum eine andere Gesellschaft sozial derart polarisiert wie die chinesische. Nicht nur, dass in den Megastädten eine breite, gut ausgebildete Mittelschicht entstanden ist, auch von den 2 668 Dollar-Milliardären weltweit lebten 2022 allein 946 in China. Gleichzeitig sind die von alten Industrien geprägten Regionen und vor allem die ländlichen Gegenden verarmt. Deren Beitrag zu Chinas Aufschwung beschränkte sich auf die Versorgung der boomenden Metropolen mit billiger und entrechteter Arbeitskraft.

Bei seinem Machtantritt erbte Xi Jinping von seinen Vorgängern gleich zwei grundlegende Probleme. Zum einen leben 300 Millionen Wanderarbeiter aus den ländlichen Gebieten unter derart prekären Bedingungen, dass ihre Verzweiflung sich immer wieder in wilden Streiks und lokalen Protestbewegungen entlädt. Für das Jahr 2022 zählte die Arbeitsrechtsorganisation China Labour Bulletin mehr als 800 »Arbeitskampfmaßnahmen«, deren Höhepunkt sicherlich der Massenausbruch chinesischer Wanderarbeiter aus der Fabrik des Apple-Zulieferers Foxconn in Zhengzhou im Osten Chinas war. Zuvor war die Belegschaft auf dem von Metallzäunen umschlossenen Werksgelände festgesetzt worden, da sich Arbeiter mit Covid-19 infiziert hatten. Auch in diesem Jahr, an Neujahr, kam es bei vier Coronatest-Herstellern zu Protesten und Ausschreitungen von Arbeitern, die auf ihre Löhne warteten.

Der Machterhalt der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) hängt zum anderen auch davon ab, ob es ihr gelingt, die neu entstandenen gut ausgebildeten Mittelschichten in einem Zustand politischer Passivität zu halten. Solange mit Chinas Aufschwung deren Wohlstand enorm wuchs, überließen die Angehörigen dieser Schlüsselschicht das Feld der Politik bereitwillig den KPCh-Sprechpuppen. Aufgrund des Wirtschaftseinbruchs durch die Covid-19-Pandemie und der verschleppten Immobilienkrise funktioniert dieses stille Agreement nicht mehr. Der Weltspiegel berichtete, dass Jugendarbeitslosigkeit in den urbanen Zentren 2022 19 Prozent erreichte. Für viele Hochschulabsolventen ist der Übergang ins Berufsleben blockiert. In Kombination mit den hohen Lebenshaltungskosten – vor allem Wohnraum ist in den großen Städten fast unbezahlbar – hat sich die soziale Frage damit bereits auf Teile der Mittelschichten ausgeweitet.

Die Politik der chinesischen Führung wird nach innen immer repressiver und nach außen immer aggressiver. Wie eng beide Aspekte miteinander verschränkt sind, wurde schon bei der Liquidierung des Sonderstatus von Hongkong und der brutalen Unterdrückung der sogenannten Regenschirmproteste deutlich. 2014 waren in Hongkong über Monate Tausende Menschen auf die Straßen gegangen, um gegen die Einflussnahme der chinesischen Regierung auf die Selbstverwaltung der ehemaligen britischen Kronkolonie zu demonstrieren. Das Regime Xi Jinpings wollte sich nicht darauf verlassen, dass eine liberale Insel im Meer des Autoritarismus, auf der Freiheitsrechte gelten, auch in einer zugespitzten Situation eine Insel bleibt. Die chinesischen Machthaber hatten Angst vor geistiger Ansteckung.

Die Eskalation des Taiwan-Konflikts durch Peking folgt ebenfalls der Logik präventiver Konterrevolution. Solange Taiwan eine Diktatur war, konnte die KPCh mit der Existenz zweier chinesischer Staaten leben. Eine funktionierende chinesische Demokratie in direkter Nachbarschaft delegitimiert durch ihre schiere Existenz die Herrschaft der KPCh und das darf nicht sein. In der Außenpolitik insgesamt scheint die Flucht vor den inneren Widersprüchen sich zusehends in eine Konfrontation mit äußeren Mächten, namentlich den USA, zu übersetzen. Die KPCh macht ideologisch gegen den US-Imperialismus mobil, in der Hoffnung, mit Großmachtgebaren und antiimperialistische Rhetorik die tiefen Risse in der chinesischen Gesellschaft überdecken zu können.

Linke in Europa sind es gewohnt, die Wurzel aller Übel der Welt in den USA und Europa zu suchen. Das war insofern lange Zeit berechtigt, als viele Hundert Jahre die Durchsetzung kapitalistischer Herrschaft eine einseitige Angelegenheit war. Sie ging vom übermächtigen Westen aus und der Rest der Welt war von Opfern und Helfershelfern westlicher imperialer Politik bevölkert. Die Wirklichkeit ist über das altvertraute Schema aber gleich in zweierlei Hinsicht hinweggegangen. Zum einen spielt China im kapitalistischen Weltsystem eine genauso zentrale Rolle wie die USA und Europa. Zum anderen ist die aggressive Vorgehensweise Chinas nicht der »Wettlauf um Afrika« der europäischen Mächte im 19. Jahrhundert oder die Pax Americana im 20. Jahrhundert.

Teile der Linken halten lieber an identitätsstiftenden, überkommenen Denkschemata fest, als sich mit Veränderungen in der realen Weltkonstellation auseinanderzusetzen. Sie übernehmen entweder gleich eins zu eins die Pekinger und Moskauer Propaganda, derzufolge allein der westliche Imperialismus für die internationalen Konflikte verantwortlich sei; oder man hält Äquidistanz und betrachtet China als neue imperiale Macht, die in Konkurrenz zur etablierten imperialen Vormacht tritt. Das Projekt einer Neuen Seidenstraße, das Xi Jinping 2013 propagierte, ließ sich sicherlich noch so deuten. Es hatte Züge einer imperialen Strategie, die darauf ausgelegt war, die Stellung Chinas im Weltkapitalismus zu stärken. Die konfrontative Außenpolitik, die das chinesische Regime inzwischen betreibt, hat aber eine andere Qualität. Es geht nicht einfach darum, die alte Vormacht USA abzulösen, sondern die Spielregeln der Weltpolitik an das Bedürfnis der chinesischen Machthaber und ihrer Kollegen in Russland und im Iran anzupassen, ihr jeweiliges Regime zu erhalten.

Die Machtspiele des Westens waren in doppelter Hinsicht immer Spiele mit gezinkten Karten; zum einen standen Gewinner und Verlierer des »friedlichen Wettbewerbs«, wie ihn die Pax Americana propagierte, von vornherein fest, nämlich die kapitalistischen Zentren; zum anderen war die Vormacht stets bereit, zur Verteidigung der eigenen ökonomischen Interessen Demokratie und Menschenrecht im Globalen Süden aktiv zu beurlauben. Der von der CIA angeleitete Militärputsch in Chile 1973 war nur ein Beispiel dafür. Die chinesische Führung verfolgt ein viel weiter gehendes Programm. Als Hort der präventiven Konterrevolution will die chinesische Führung das Recht erkämpfen, überall auf der Welt bestehende Freiheitsrechte gewaltsam zu liquidieren und den Friedhofsfrieden, den sie im eigenen Land durchgesetzt hat, im Zweifelsfall überall durchzusetzen.