Die Großindustrie klagt über zu hohe Stromkosten. Deshalb will Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) den Industriestrompreis noch mehr subventionieren, als es bisher schon geschieht.
Von Ernst Lohoff
Zuerst erschienen in der Jungle World 2023/32 vom 10. August 2023.
Was unterscheidet Strom und Industriestrom? Der Preis. Während private Haushalte in diesem Jahr bisher im Durchschnitt etwa 46 Cent für die Kilowattstunde berappen müssen, zahlen Großverbraucher nur 26,5 Cent; die energieintensive Großindustrie zahlt sogar noch weniger. Dennoch üben sich der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und vor allem die Vertreter energieintensiver Unternehmen derzeit in Heulen und Zähneklappern. Vergleichsmaßstab ist für sie nämlich nicht die Stromrechnung von Hinz und Kunz, sondern die der internationalen Konkurrenz. Als der deutsche Strompreis in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahres einen Höhepunkt erreichte, kostete Industriestrom in Deutschland etwa 40 Prozent mehr als in Frankreich und dreieinhalbmal so viel wie in den USA.
Strom ist in Deutschland schon lange teurer als in anderen Ländern, doch in den vergangenen zwei Jahren hat sich der Abstand vergrößert. Das hängt zunächst einmal damit zusammen, dass die stark gestiegenen Gaspreise die Stromerzeugungskosten in Deutschland deutlich stärker in die Höhe getrieben haben als in anderen Ländern. Mit Erdgas werden hierzulande etwa 15 Prozent des Stroms produziert. Mehr als die Hälfte dieses Erdgases kam vor dem Ukraine-Krieg per Pipeline aus Russland – oft günstig auf Grundlage langfristiger Lieferverträge. In Frankreich waren das nur 17 Prozent. Entsprechend größer war der Ersatzbedarf der deutschen Stromproduzenten – und der musste an den Terminbörsen und Spotmärkten beschafft werden, an denen die Gaspreise in die Höhe schnellten.
Ein anderer Faktor sind die Folgelasten der Privatisierung. Dazu gehören die Extraprofite, die die Liberalisierung des Strommarkts den privaten Erzeugern beschert. Strom lässt sich nicht in ausreichendem Maß speichern, sondern muss dann erzeugt werden, wenn er benötigt wird. Der Verbrauch schwankt aber erheblich je nach Tages- und Jahreszeit, das Gleiche gilt für die Produktion durch Wind- und Sonnenenergie. Deshalb müssen in den Spitzenlastzeiten zusätzliche Kraftwerkskapazitäten ans Netz, auch wenn deren Produktionskosten höher liegen als bei den in Dauerbetrieb befindlichen.
Weil sie sich problemlos an- und abschalten lassen, haben bisher vor allem Gaskraftwerke diese Aufgabe übernommen. Als noch staatsnahe Monopolunternehmen für die Stromversorgung zuständig waren, stellte das ein rein technisches Problem dar. Der Strompreis bildete einfach die Durchschnittskosten ab. Seit der Liberalisierung des Strommarkts muss sich Stromerzeugung für jedes gerade benötigte Kraftwerk jedes Anbieters rentieren. Der Erzeugerpreis wechselt deshalb heute im 15-Minuten-Takt und wird von der teuersten gerade zur Anwendung kommenden Stromerzeugungsform bestimmt. Das kann bei in die Höhe schießenden Gaspreisen wie ein Strompreiskatapult wirken.
Frankreich ist in Sachen Privatisierung Nachzügler. Der erst 2004 in eine Aktiengesellschaft verwandelte Staatskonzern Électricité de France (EDF) gehört zu 84 Prozent dem Staat und bedient einen Großteil des französischen Strommarkts. Aus diesem Grund konnte die Regierung die Preissteigerungen für alle Endverbraucher im laufenden Jahr auf 15 Prozent begrenzen, ohne die Staatsfinanzen zu ruinieren. In der Hoffnung, dass die Energiepreise in absehbarer Zeit von alleine wieder sinken, wurde EDF als mit Abstand wichtigster Stromproduzent des Landes dazu verpflichtet, auf das Gros der Extragewinne zu verzichten. EDF schrieb unter anderem deswegen – jedoch vor allem wegen technischer Probleme bei vielen Atomkraftwerken – Milliardenverluste und soll nun komplett verstaatlicht werden.
Die Privatisierung in Deutschland ist so weit fortgeschritten, dass eine Verstaatlichung kompliziert und langwierig wäre. Doch angesichts der derzeitigen Wehklagen der energieintensiven Industrien und ihrer Drohung, dem Standort den Rücken zu kehren, ist man sich in der politischen Klasse einig: Es herrscht Handlungsbedarf. Dabei hat die Bundesregierung mit der sogenannten Energiepreisbremse bereits seit Jahresanfang den Strompreis der Großindustrie vorübergehend auf 13 Cent je Kilowattstunde für 80 Prozent des Vorjahresverbrauchs gedeckelt. Doch damit ist der BDI nicht zufrieden: Die Auflagen, um den gedeckelten Strompreis in Anspruch nehmen zu können, seien zu hoch.
Eigentlich legen steigende Strompreise klare Maßnahmen nahe. Zum einen wäre eine konsequente Energiesparpolitik angesagt und zum anderen könnte man den Energiesektor den Privatunternehmen aus der Hand nehmen und neue Formen der Vergesellschaftung entwickeln.
Dies ist für die politische Klasse aber natürlich keine Alternative. Stattdessen tobt ein ebenso heftiger wie absurder Streit darüber, wie der Staat der Industrie in Sachen Energiekosten unter die Arme greifen kann. Geht es nach Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), soll dieser Preis künftig auf sechs Cent je Kilowattstunde heruntersubventioniert werden.
Die FDP ist dagegen, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zeigt sich skeptisch. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz forderte am Wochenende ein »Sofortprogramm« für die deutsche Wirtschaft, inklusive einer Senkung der Stromsteuer und der Netzentgelte. Ob der Staat auf Einnahmen verzichtet oder einen großen Teil der Industriestromrechnung auf seinen Deckel übernimmt – es läuft auf weitere Umverteilung hinaus. Die Wirtschaft finanziert nicht mehr wie einst den Staat, sondern der Staat die Wirtschaft.