Von Peter Samol
Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/32 vom 08.08.2024
Die Wohnungsknappheit verschlimmert sich, die Neubauziele der Regierung werden verfehlt, die Zahl der Baugenehmigungen bricht ein. Nun schlug Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) eine originelle Lösung vor: Wer keine Wohnung findet, könne doch aufs Land ziehen.
Das Angebot an Mietwohnungen ist zuletzt deutlich geschrumpft. Das geht aus einer jüngst veröffentlichten Studie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW Köln) hervor. Im Frühjahrsquartal dieses Jahres wurden demnach in den sieben größten deutschen Städten 27 Prozent weniger Mietwohnungen angeboten als zwei Jahre zuvor, in Leipzig hat sich das Angebot sogar halbiert. Im selben Zeitraum ist in den sieben Städten die Zahl der zum Verkauf inserierten Eigentumswohnungen um zwei Drittel gestiegen.
Wegen der sich stetig verschärfenden Wohnungsknappheit kommen immer fragwürdigere Ideen auf. So überlegte Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) kürzlich in einem Interview mit der »Osnabrücker Zeitung«, dass Menschen aus den Ballungszentren ins Umland oder gleich in kleinere Städte ziehen könnten, um den Wohnungsmarkt in den großen Städten zu entlasten. Auf dem Land stünden etwa zwei Millionen Wohnungen leer und »Homeoffice und Digitalisierung« böten »inzwischen ganz neue Möglichkeiten«. Der Staat müsse deshalb nachhelfen, um Menschen zum Umzug aufs Land zu motivieren. Bis November, so kündigte Geywitz an, soll eine entsprechende »Strategie gegen den Leerstand« vorliegen.
Der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, André Berghegger, räumt in der zur Funke-Mediengruppe gehörenden Zeitung zwar ein, dass der ländliche Raum die Ballungszentren mit über 1,3 Millionen zur Verfügung stehenden Wohnungen entlasten könne. Allerdings fehle es in den ländlichen Regionen »häufig an Breitband, Nahverkehrsangeboten, Ärzten, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten sowie Sport- und Freizeitangeboten«. Es gebe nicht mal genug »Finanzmittel, um die Infrastrukturen auch nur zu erhalten«, vielmehr drohten »weitere Einschränkungen bei der Versorgung mit Bussen und Bahnen«.
Oma soll umziehen
Mit einem anderen Vorschlag wartete Anfang des Jahres die »Süddeutsche Zeitung« auf. Sie berichtete seinerzeit von einem Papier des IW Köln, demzufolge sechs Prozent aller Haushalte in Wohnungen lebten, die eigentlich zu klein sind, was heißt, dass es in ihnen weniger Zimmer als Personen gibt – Kinder müssen sich dann Zimmer teilen oder Erwachsene im Wohnzimmer schlafen. Besonders betroffen seien Familien mit Kindern in Großstädten, 2020 habe ein Drittel dieser Familien zu kleine Wohnungen gehabt.
Auf der anderen Seite wohnten alleinlebende Menschen über 65 im Schnitt auf 83 Quadratmetern, meistens weil sie nach dem Auszug der Kinder und dem Tod des Partners in ihren Wohnungen verbleiben. Dies sei, so die »Süddeutsche Zeitung«, »aus gesamtgesellschaftlicher Sicht nicht effizient und wirft auch ethisch-moralische Fragen auf: Darf eine Bevölkerungsgruppe so leben, auch wenn sie damit andere beeinträchtigt?« Besser sei es, wenn alte Menschen umziehen, damit junge Familien eine größere Wohnung bekommen.
Dieser Plan droht allerdings bereits an der Tatsache zu scheitern, dass Neuvermietungen oft mit saftigen Preissteigerungen einhergehen. Weil sie oftmals seit Jahrzehnten dort wohnen, zahlen Rentner und Rentnerinnen für ihre Wohnungen im Vergleich zu den heutigen Angebotsmieten oft eine geringe Miete. Für sie gilt dieselbe Maxime wie für alle, die in Großstädten einen alten, relativ günstigen Mietvertrag haben: bloß nicht umziehen! Denn es kann eigentlich nur schlechter werden, oft deutlich schlechter.
Doch die »Süddeutsche Zeitung« ist nicht um konstruktive Vorschläge verlegen: Der Staat müsse den Senioren einfach die teurere Miete in der neuen Wohnung bezuschussen. De facto wäre das in Subventionsprogramm für Vermieter. Außerdem schlug die Zeitung eine Alleinwohnsteuer für Eigentumswohnungen vor, deren Größe über einen bestimmten Wert hinausgeht. Dadurch soll alten Menschen ihre große Wohnung madig gemacht werden.
Ein Wechsel in eine altersgerechte Wohnung kann unter Umständen richtig und manchmal auch notwendig sein. Doch dies staatlich zu erzwingen, erinnert an autoritäre Notstandsverwaltung. Wohnungen beherbergen oft sehr persönliche Erinnerungen. Ein Umzug im hohen Alter kann belastend sein und Menschen aus ihrem sozialen Umfeld herausreißen. Während die Freiheit der Vermieter streng gehütet wird, sollen alte Menschen nach Belieben vom Staat herumgeschoben werden. Dass ein staatliches Wohnungsbauprogramm der Wohnungsnot abhelfen könnte, scheint unterdessen kaum noch jemandem in den Sinn zu kommen.
Ursprünglich hatte die Regierungskoalition noch angekündigt, jährlich 400 000 neue Wohnungen zu bauen. Dem IW Köln zufolge gab es vom Jahr 2021 bis 2025 in Deutschland einen jährlichen Neubedarf von 372 000 Wohnungen, in den Jahren danach (bis 2031) werde er bei etwa 300 000 Wohnungen jährlich liegen. Das Ziel der Bundesregierung wurde jedoch regelmäßig verfehlt. 2023 wurden nur 294 400 Wohnungen fertiggestellt – und auch diese Zahl verdeutlicht nicht, wie ernst die Lage eigentlich ist. Denn sie erfasst Wohnungen, deren Planung zum Teil schon vor Jahren begann. 2023 sei jedoch die Zahl der Baugenehmigungen um 24 Prozent zurückgegangen, berichtete das Institut für Wirtschaftsforschung (Ifo-Institut). Außerdem stornierten viele Wohnungsunternehmen bereits genehmigte Bauprojekte. Deshalb werde die Zahl der fertiggestellten Wohnungen von nun an stetig fallen. 2026 könnten nur noch 175 000 neue Wohnungen entstehen, schätzt das Ifo-Institut.
Das liegt vor allem an den in den vergangenen Jahren stark gestiegenen Baukosten. Hinzu kamen zwischenzeitlich hohe Zinsen, die Baukredite verteuerten, und die extrem hohen Preise für Bauland in den Großstädten.
Immer weniger Sozialwohnungen
Hinzu kommt, dass immer mehr Wohnungen aus der Sozialbindung fallen. Im Jahr 2023 ist die Zahl der Sozialwohnungen in Deutschland um mehr als 15 000 zurückgegangen. Der entscheidende Strukturfehler des staatlich geförderten privaten Sozialwohnungsbaus liegt darin, dass die Sozialbindung nach 20 bis 30 Jahren ausläuft. Danach gelten die Wohnungen als normaler Wohnraum, dessen Miete quasi über Nacht auf den ortsüblichen Durchschnitt angehoben werden kann. Seit den neunziger Jahren fallen regelmäßig mehr Sozialwohnungen aus dieser Bindung heraus als neue entstehen, ihre Zahl nimmt also stetig ab.
Diese Entwicklung setzt sich fort. Der Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wird bis Ende 2025 fast die Hälfte seiner derzeit existierenden Sozialwohnungen verlieren. Das geht aus einer Antwort der Berliner Senatsverwaltung auf eine parlamentarische Anfrage der Linken hervor. Demnach werden von den 8 700 mietpreisgebundenen Wohnungen, die es dort Anfang 2023 noch gab, in den folgenden zwei Jahren 4 200 aus der Sozialbindung gefallen sein.
Die dann drohenden Mietsteigerungen können in vielen Fällen zu einer Verdopplung der bisherigen Mieten führen. Für manche Mieter könnte es noch schlimmer kommen, denn viele Wohnungen wurden zwischenzeitlich in Eigentumswohnungen umgewandelt und zum Teil verkauft. Mit Ablauf der Sozialbindung können die Käufer Eigenbedarfskündigungen aussprechen und die Menschen aus ihren Wohnungen klagen.
Die Berliner Regierungskoalition hat das Ziel vorgegeben, dass in der Bundeshauptstadt jährlich 5000 neue Sozialwohnungen entstehen sollen. Erreicht wurde das bislang nicht. Im Jahr 2023 sind Förderungen für 3400 Sozialwohnungen bewilligt worden, im Vorjahr nur für 1935. Insgesamt sind von den rund 150 000 Sozialwohnungen, die es 2012 in Berlin gab, heutzutage weniger als 90 000 übrig.
Besonders kurios ist der Fall eines Neubauprojekts in der sogenannten Europacity in Berlin-Mitte. Dort sollten eigentlich 215 neue Sozialwohnungen entstehen, stattdessen bietet der Bauträger dort nun teure möblierte Appartements für Monatsmieten bis zu 1 500 Euro an. Werden Wohnungen möbliert angeboten, gilt die sogenannte Mietpreisbremse nicht. Das betrifft in den fünf größten Städten Deutschlands im Schnitt inzwischen jede dritte angebotene Mietwohnung – zu dem Ergebnis kam im März eine Untersuchung von Immoscout24.
Im Fall der Europacity existiert zwar ein städtebaulicher Vertrag mit dem Senat, der ausdrücklich den Bau und die Vermietung von geförderten Sozialwohnungen beinhaltet, aber nach einer bemerkenswert langen Reihe von Eigentümerwechseln sieht sich der aktuelle Eigner daran nicht gebunden. Beim Bau der Wohnungen habe er keine Fördermittel in Anspruch genommen, weshalb er nicht zur Sozialbindung verpflichtet sei, so seine Argumentation.