17.08.2024 

Probleme der Palästina-Solidarität

Anmerkungen zu einer Kritik an einem Vortrag auf dem System Change Camp

Julian Bierwirth

Am 6. August 2024 hielt ich den Vortrag Antisemitismuskritik im Kampf gegen die Klimakrise auf dem System Change Camp (SCC). Im Vortrag ging es um den Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Klimakrise auf der einen sowie Kapitalismus und Antisemitismus auf der anderen Seite. Nach dem Vortrag wurde auf dem SCC ein Flyer mit kritischen Kommentaren verteilt. Im Folgenden möchte ich auf diese Kritik reagieren.

Der Flyer (der hier eingesehen werden kann) beginnt mit einer falschen Beschreibung der Themenstellung: Es wird behauptet, es wäre ein Vortrag über den “Nah-Ost-Konflikt” (Zitat aus dem Flyer) gewesen. Das ist falsch. Es ging um die Rolle des Kapitalismus für das Verständnis der Klimakrise und des Antisemitismus.

In der Diskussion nach dem Vortrag hatte ein nicht unerheblicher Teil des Publikums wenig Interesse an einer Diskussion zur Kritik des Antisemitismus, Kapitalismus oder der Klimakrise, sondern wollte einen Weg finden, auch weiterhin “Israel kritisieren zu dürfen”. Mehrfach wurde dieser Wunsch geäußert und so eine Diskussion nicht zu Fragen der Bedeutung des Antisemitismus, sondern zum “Nah-Ost-Konflikt” eingefordert. 

In den letzten Monaten ist häufig der Reflex zu beobachten, dass auf die Thematisierung von Antisemitismus der Hinweis auf aktuelle politische Entwicklungen in Israel folgt. Es drängt sich der Eindruck auf, dass dies geschieht, um sich mit einer Kritik von Antisemitismus nicht mehr auseinandersetzen zu müssen. Es wäre eine eigene Reflexion wert, den damit zusammenhängenden sozialtheoretischen und sozialpsychologischen Mechanismen nachzugehen.

Ich werde im Folgenden zunächst etwas ausführlicher auf ein grundlegendes Manko vieler sog. “antiimperialistischer bzw. “antizionistischer” Analysen eingehen, die sich auch in dem Kritik-Papier widerspiegeln. Im Anschluss werde ich kurz die inhaltlichen Vorwürfe kommentieren. Mir ist bewusst, dass diese kurze Darstellung eine notwendige und umfassende Kritik dieser nicht nur verkürzten, sondern inhaltlich falschen Perspektiven linker Welterklärung nicht ersetzen kann.

Identitätspolitische Dimension

Im Zentrum der Kritik steht eine zweifache identitätspolitische Setzung. Nicht nur habe das Publikum im wesentlichen aus “nicht-Betroffenen und (relativ) privilegierten Menschen” bestanden, zudem sei der Vortrag von einem “nicht-Betroffenen” gehalten worden. Woran genau die Verfasser:innen des Kritik-Papiers das festmachen, bleibt unklar. Der Gedanke liegt nahe, dass sie von der äußeren Erscheinung der Teilnehmenden und des Referenten auf die Nichtbetroffenheit geschlossen haben.

Dieser Jargon unterstellt, dass die Frage der “Betroffenheit” ein zentrales Merkmal für die Legitimität von Kritik darstellt. Dabei wird bereits eine doppelte Reduktion vorgenommen. Einerseits wird der Konflikt als Gegeneinander von Gruppen verstanden, von denen die eine “Tätergruppe”, die andere “betroffen” ist. 

Die Zugehörigkeit zu diesen Gruppen wird dann nicht selten über ethnische Abstammungslinien definiert: Menschen mit familienbiografischen “Wurzeln” in der Region gelten so als “betroffen”, alle anderen nicht. Bereits auf diesem Weg kann die ethnische Herkunft zum zentralen Marker für die Einschätzung einer Person werden. Solche Zwangskollektivierungen sind jedoch mit einer emanzipatorischen, auf die universelle Befreiung von Menschen ausgerichteten Perspektive unvereinbar.

Damit soll selbstverständlich nicht abgestritten werden, dass es wichtig ist, Menschen zuzuhören und ihre Einschätzungen wahrzunehmen. Daraus sollte jedoch keinesfalls folgen, automatisch ihre Beschreibungen der Gründe für ihr Leiden zu übernehmen. Diese sind vielmehr sozialtheoretisch einzuholen – was leider oftmals nicht mehr passiert.

Völkische Konstrukte als Basis linker Befreiung?

Dieser Blick auf die Welt zeigt sich auch, wenn die Verfasser:innen des Papiers mir vorwerfen, ich hätte das palästinensische Volk “als Konstrukt” bezeichnet. Die Vorstellung, dass die Welt von natürlicherweise vorhandenen “Völkern” “bevölkert” sei, ist eine ideologische Vorstellung, die in dem Vortrag umfassend kritisiert wurde. Die Vorstellung von nationaler Identität und homogenen Völkern entsteht im Zuge der kapitalistischen Modernisierung, wie im Vortrag (sowohl logisch als auch historisch am Beispiel der deutschen Nation) dargestellt wurde. Selbstverständlich bilden das “palästinensische Volk” und das “jüdische Volk” keine Ausnahme.

In Palästina beginnt im 20. Jahrhundert ein Prozess, in dem politische und kulturelle Eliten die Vorstellung einer homogenen Volksgruppe im politischen Diskurs zu verankern suchen. Sie bemühen dabei das Bild eines fleißigen und mit dem heimischen Boden eng verbandelten Volkes, das im Gegensatz zur fremden, von außen in die Region einfallenden Gruppe der Jüdinnen:Juden konstruiert wird. Diesem zum Zwecke der nationalen Identitätsfindung konstruierten Gegenüber wird dann die Schuld für das reale Leiden der Menschen in der Region gegeben. In diesem Sinne ist der Antisemitismus konstitutiv für den palästinensischen Nationalismus.

Dass die palästinensische Nation konstruiert sein muss, wird übrigens bereits aus der politischen Geschichte der Region deutlich. Denn der geographische Raum, auf den sich der palästinensische Nationalismus bezieht (“from the river to the sea”), entsteht erst 1921 mit der Teilung des britischen “Mandatsgebiets Palästina” in das Emirat Transjordanien (heute: Jordanien) und ein kleines, etwa 22 Prozent des Mandatsgebietes umfassendes Rest-Territorium. Auf diese, durch britische Willkür geschaffene Region bezieht sich dann der zu dieser Zeit noch marginale palästinensische Nationalismus. Dass dabei Grenzziehungen einer dominanten imperialen Macht zum Ausgangspunkt für legitime Befreiungskämpfe genommen werden, scheint die Verfechter:innen dieser Form von “Befreiung” freilich nicht zu kümmern. Wie ernst meinen sie es also wirklich mit der “Dekolonisation”?

Sowohl die identitätspolitische Kategorisierung des Referenten als auch die völkische Konstruktion einer palästinensischen Nation machen ein zentrales Problem der aktuellen Debatte rund um den “Nah-Ost-Konflikt” deutlich. Statt auf eine Analyse der Geschichte des Konfliktes, vertrauen viele westliche Aktivist:innen lieber auf eine identitätspolitische Kategorisierung, die in zweierlei Hinsicht falsch ist. Einerseits, weil sie die kapitalistische Weltgesellschaft in zwei Seiten unterteilt: den (bösen) “globalen Norden” und (guten) “globalen Süden”. Und andererseits, weil sie die Zugehörigkeit zu den jeweiligen Kollektiven letztlich völkisch festzuschreiben versucht. Damit werden die problematischen und bisweilen offen reaktionären Praktiken der globalen Linken in den 1970er-Jahren wiederholt. Ein emanzipativer Ausweg aus der aktuellen autoritären Zuspitzung der Weltlage wird sich auf diese Weise sicherlich nicht finden lassen.

Kurze Stellungnahme zu der inhaltlichen Kritik

Ich möchte im Folgenden kurz auf die inhaltlichen Einwände zu sprechen kommen. Ich zitiere dabei zunächst die Kritikpunkte und gehe dann auf sie ein. Es sei jedoch noch einmal daran erinnert, dass sie mit Ausnahme des ersten Punktes nicht auf den Vortrag bezogen sind, sondern auf die anschließende Diskussion.

“Ziel bzw. Schlussfolgerung des Vortrags unklar: Antikolonialismus und Antikapitalismus = Antisemitismus?”

Dieser Vorwurf unterstellt, ich hätte antikapitalistische Positionen in die Nähe des Antisemitismus gerückt. Das ist nicht korrekt. Ich habe allerdings darauf hingewiesen, dass viele gesellschaftskritische Positionen, die sich für “antikapitalistisch” halten, dies faktisch nicht sind. Denn statt einer Kritik der kapitalistischen Verhältnisse werden die Verwerfungen der kapitalistischen Dynamik oftmals personalisiert und damit individualisiert. Das ist der Komplexität des globalen Kapitalverhältnisses unangemessen, versperrt den Weg für emanzipatorische Kämpfe und rückt die Argumentation der Betreffenden selbst in eine strukturelle Nähe zum Antisemitismus.

“das Westjordanland wollte niemand haben”

Im Kontext der nicht-vollzogenen palästinensischen Staatsgründung ist auffällig, dass die politischen Eliten in der Region viele Möglichkeiten ungenutzt verstreichen ließen, in denen es die Möglichkeit gegeben hätte, die Menschen in Gaza bzw. im Westjordanland in einen Staat unter palästinensischer bzw. arabischer Hegemonie zu integrieren. Das gilt sowohl für den ursprünglichen Verzicht auf die Gründung eines arabischen Nationalstaats 1947, für die Ablehnung der erneuten Integration des Westjordanlandes in das Staatsgebiet Jordaniens direkt nach dem 6-Tage-Krieg als auch für die vielfältigen Angebote zur Gründung eines eigenständigen palästinensischen Staates in den 1990er-Jahren (1|2|3). Alle diese Möglichkeiten wurden abgelehnt, weil es den politischen Eliten in der Region um ein für sie wichtigeres Ziel ging als die Errichtung eines palästinensischen Staates: die Zerstörung des Staates Israel. 

In diesem Sinne gibt es im politischen Establishment der Region tatsächlich kein gesteigertes Interesse an der Gründung eines palästinensischen Staates. Dass die Menschen, die dort vor Ort leben, unter dieser Politik leiden, steht dabei außer Frage.

“heute wird alles Genozid genannt”

Von der Frage des konkreten Wordings vor Ort abgesehen, gibt es m.E. in Teilen der antizionistischen “Linken” die Tendenz, bestimmte Begriffe in ihrer Bedeutung auzuweiten. So datieren Gruppen wie “Palästina spricht” den Beginn des Genozids an den Palästinenser:innen auf die Gründung des Staates Israel. Dabei wird (ebenso wie bei der in Teilen sogar berechtigten Kritik an einzelnen Praxen des israelischen Staates) nicht einfach vorhandenes Unrecht sachlich kritisiert, sondern bisweilen in einem kaum mehr umkehrbaren Überbietungswettbewerb moralisierend angeprangert. Damit schaden antirassistische und antikoloniale Aktivist:innen aber letztlich ihrem eigenen Anspruch.

“das palästinensische Volk ist ein Konstrukt”

Wie oben bereits ausgeführt, ist das selbstverständlich der Fall. Alle Völker sind “konstruiert”.

“palästinensische Bevölkerung ist unfähig eine funktionierende Regierung zu bilden”

Dieser Satz ist so nicht gefallen. Er wäre ja auch sachlich falsch, da es sowohl in Gaza als auch im Westjordanland Regierungsinstitutionen gibt. Falls innerhalb der Volkswirtschaften ein Mangel an wirtschaftlicher Entwicklung beklagt wird, wäre das wiederum mit globalen ökonomischen Verschiebungen in Verbindung zu setzen (und nicht auf die Unfähigkeit einer bestimmten Menschengruppe). Gerade das war der inhaltliche Schwerpunkt des ursprünglichen Vortrags.

“Palästinensisches Volk leidet nur wegen der Hamas”

Insbesondere in Gaza verfolgt die dortige Regierung nicht den Ansatz, die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen für die Bevölkerung zu verbessern. Stattdessen hat sie sich entschieden, das gesamte Territorium in eine Kaserne zu verwandeln und die eigene Zivilbevölkerung als Schutzschild für einen Angriffskrieg auf das Nachbarland zu missbrauchen. Darunter leiden die Menschen vor Ort in hohem Maße. Aus einer emanzipatorischen Perspektive sollte eine solche Regierungspraxis scharf kritisiert werden. Dass die Menschen vor Ort auch unter anderen Einflüssen leiden (z.B. der Politik der rechten Regierung in Israel oder globalen ökonomischen Entwicklungen), wird von dieser Feststellung nicht berührt.

“zionistische Bewegung ist immer linksliberal gewesen”

Abgesehen vom konkreten Wording vor Ort zeigt sich tatsächlich, dass die israelischen Regierungen bis Anfang der 1970er-Jahre politisch von einer sozialdemokratischen Mehrheit getragen wurden. Die zentralen historischen Strömungen des Zionismus stammen aus der liberalen Aufklärungstradition sowie aus der Arbeiter:innenbewegung. Der konservative und auch der revisionistische Zionismus waren innerhalb der Bewegung lange Zeit minoritär. Hier wäre zu fragen, wieso diese linke bzw. linksliberale Hegemonie verschwunden ist und welche Rolle dabei die konsequente Verweigerung eines Friedensschlusses von Seiten der palästinensischen Autoritäten spielt. (siehe dazu auch mein Working-Paper Religionistische Identitätspolitik)

“Hamas ist immer rechts gewesen”

Abgesehen vom konkreten Wording vor Ort ist offensichtlich, dass die Hamas eine Gründung der ägyptischen Muslimbruderschaft ist. Diese vertritt eine fundamentalistische Auslegung des Islam und ist Teil einer globalen reaktionären, autoritären identitätspolitischen Strömung. Das erklärte Ziel der Hamas ist nicht nur die Tötung aller Jüdinnen:Juden, sondern auch die Errichtung eines muslimischen Weltstaates (siehe Charta der Hamas sowie die einschlägigen Krisis-Beiträge (1|2)).

“während Palästinas Geschichte nur ab dem 7.10. aufgegriffen wurde”

Die Aussage ist sachlich falsch. Zur palästinensischen Geschichte ab dem 7.10. wurde vom Referenten (fast) gar nichts gesagt. Zu der Frage der Geschichte vorher (Stichwort: Konstruktion einer palästinensischen Nationalidentität durch politische und kulturelle Eliten vor Ort) hingegen wesentlich mehr.

“asymetritsche Machtdynamiken negiert”

Aufgrund der außenpolitischen Isolation Israels, der militärischen Bedrohung durch den Iran und der politischen Verwiesenheit des fossilen Kapitalismus auf Ressourcen im globalen Süden deutet tatsächlich einiges darauf hin, dass Israel in diesem Krieg nicht der mächtigere Part ist.

Insbesondere ein Blick auf die Finanzierungsstrukturen vieler arabischer Nationen macht deren enge Verquickung mit dem fossilen Kapitalismus deutlich. Das gilt dann indirekt auch für Gaza bzw. die dort hegemoniale Hamas (und ebenfalls für die finanziell deutlich besser ausgestattete Hisbollah). Diese finanziert sich im Wesentlichen über finanzielle Zuwendungen, die aus dem fossilen Kapitalismus stammen und über Mechanismen des Finanzmarktes (“Fiktives Kapital”) in die Finanzierung der militärischen Infrastruktur vor Ort fließen. Auch in diesem Sinne würde eine klimapolitische Intervention eine Kritik derartiger Abhängigkeiten bedeuten.