von Stefan Meretz
zuerst erschienen in Streifzüge 2023-88
Seit einigen Jahren wird erfreulicherweise wieder vermehrt über gesellschaftliche Planung diskutiert. In einer losen Folge will ich mich einzelnen Vorschlägen widmen. Los geht’s mit der Demokratischen Arbeitszeitrechnung (DAZ). Das Konzept geht zurück auf den Text Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung der rätekommunistischen Gruppe Internationaler Kommunisten (GIK) von 1930. Zunächst eine kurze Darstellung.
In der DAZ sind alle Produktionsmittel gesellschaftliches Eigentum. Arbeitszertifikate stellen die in einem Produkt enthaltene gesellschaftlich-durchschnittliche Arbeitszeit dar. Sie ersetzen das Geld, wobei jede Arbeitsstunde gleich zählt. Die Betriebe erstellen einen Plan und messen die Arbeitszeit, die sie zur Arbeitszeit der Vorprodukte und Produktionsmittelabnutzung hinzurechnen. Dieser Plan muss von einer „Öffentlichen Buchhaltung“ genehmigt werden. Diese zentrale Verwaltungsbehörde stimmt die Pläne aller Betriebe aufeinander ab. Die gesellschaftlichen Produktionsziele, nach denen sich die Behörde zu richten hat, werden von einer Räteversammlung aller Betriebe festgelegt. Der individuelle Konsum bemisst sich an der individuell geleisteten Arbeitszeit, wobei ein gewisser Anteil vorab in einen Fond fließt, aus dem gesellschaftlich allgemeine Güter finanziert werden. Niemand eignet sich den Mehrwert individuell an, alles wird verteilt.
Nun zur Kritik.
(1) Die Arbeitszertifikate schaffen eine Doppellogik. Einerseits gibt es die konkret-nützliche Arbeit, die sich auf Bedürfnisse bezieht. Andererseits wird die abstrakte Arbeit gemessen und als Wertmaßstab genommen, um den Austausch zwischen den Betrieben und die Verteilung zu organisieren. Damit wird der von Marx kritisierte „Doppelcharakter der Ware“ und die Dominanz der Wertlogik („Wertgesetz“) reproduziert, wobei sich der Wert hier nicht im Geld, sondern in den notierten Arbeitszeiten zeigt. Bedürfnisorientierte Ziele sollen politisch durchgesetzt werden, was ökonomisch zu Verwerfungen führt.
(2) Ein Beispiel ist die Egalität der Arbeitsstunde als Wertmaßstab. Da sich der Konsum an der nominalen Arbeitszeit bemisst, gibt es in der Normalproduktion keinen monetären „Anreiz“, eine höhere Qualifikation oder Arbeitsproduktivität zu erreichen; stattdessen ist es attraktiver, diese in Schattenproduktionen und -märkte einzubringen, denn sie soll sich ja als größerer Anteil am gesellschaftlichen Produkt „lohnen“. Das war bereits im Realsozialismus zu beobachten.
(3) Ein weiteres Problem ist der Betriebsegoismus. Um selber Flexibilität zu gewinnen und Arbeitszertifikate für Nebenzwecke aufzusparen (etwa um besonders produktive Arbeit extra zu belohnen), liegt es nahe, die zur Genehmigung vorgelegten Pläne zu schönen. Dies wissend sieht sich die „Buchhaltung“ dazu aufgefordert, den vorgelegten Plänen zu misstrauen und die Genehmigung zu verweigern, worauf wieder die Betriebe reagieren etc. – ebenfalls ein Effekt, der im Realsozialismus auftrat.
(4) Die „Buchhaltung“ muss die verschiedenen Pläne der Betriebe so koordinieren, dass sich ein gesamtgesellschaftlich kohärenter arbeitsteiliger Produktionszusammenhang ergibt. Sie hat damit die Funktion einer zentralen Planbehörde. Zwar kommen die Pläne von unten aus den Betrieben, doch die „Buchhaltung“ ist bei Strafe des ökonomischen Scheiterns gezwungen, diese Pläne so anzupassen, dass eine gesellschaftlich sinnvolle Gesamtproduktion entsteht. Und diese geänderten Pläne müssen dann – über den Hebel des Genehmigungszwangs – auch durchgesetzt werden.
(5) Die Durchsetzungsnotwendigkeit braucht eine entsprechende Durchsetzungsmacht. Planänderungen müssen notfalls erzwungen, ihre Einhaltung kontrolliert, Planschönungen aufgedeckt und Verstöße sanktioniert werden. Die „Öffentliche Buchhaltung“ repräsentiert die Interessen der Allgemeinheit, die den Betriebsegoismen entgegensteht. Sie benötigt Zwangsmittel und entwickelt aufgrund der von den produktiven Prozessen getrennten und zum Teil entgegengesetzten Interessenlagen eine Eigendynamik. Sie wird zum Schattenstaat. Das zu Überwindende kommt durch die Hintertür wieder herein.
(6) Eigentum und Rechtsform bestehen fort – zwar nicht mehr privat, doch auch als gesellschaftliches Eigentum braucht es einen institutionellen Träger, und es liegt nahe, dass der Schattenstaat diese Trägerschaft übernimmt. Mit dem Eigentum bleibt die Sachherrschaft (Eva von Redecker), also die absolute Verfügung über die zu Objekten gemachte Natur und Menschen bestehen. Ausbeutung ist mehr als nur die Aneignung von Mehrwert, es ist die auf Eigentum und Wertgesetz basierende Exklusionslogik der Warenproduktion, die die Lebensgrundlagen zerstört.
(7) Die gesellschaftliche Spaltung in eine bezahlte und eine unbezahlte Sphäre und die vorherrschende Zuweisung von reproduktiven Tätigkeiten an Frauen wird nicht aufgehoben. Damit bleibt ein wesentlicher Pfeiler des Patriarchats bestehen. Auch der in der Sachherrschaft angelegte patriarchale Phantombesitz (von Redecker) – ein Herrschaftsanspruch ohne materielle Grundlage – wird fortgeschrieben.
(8) Ebenso bleibt das Ausplünderungsverhältnis gegenüber der äußeren Natur bestehen. Die Orientierung an Arbeitszertifikaten (vulgo: Wert) verhindert ein sinnlich-bedürfnisgeleitetes Verhältnis zu der uns umgebenden Mitwelt. Die Natur „da draußen“ ist nur Material für eine Produktion, die Arbeitszertifikate erbringt, mit denen dann Waren gekauft werden, um Bedürfnisse zu befriedigen. Wertform und Sachherrschaft erzeugen eine Subjekt-Objekt-Dichotomie, die verhindert, dass ich mich im Anderen erkennen kann.
(9) Die Kopplung von Geben und Nehmen und damit das zentrale Sachherrschaftsverhältnis des Kapitalismus wird ebenfalls fortgeschrieben. Die eigene Existenz wird an den Zwang zur Arbeit geknüpft. Der christliche wie sozialistische Imperativ „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (Verfassung der UdSSR von 1936) gilt weiter. Dies mag abgefedert werden durch einen erheblichen Anteil frei zugänglicher schattenstaatlicher Vorsorge, doch auch dieser Teil wird von erzwungenen Arbeitsstunden getragen. Der Impuls, „arbeitsloses Einkommen“ zu verhindern und sicherzustellen, dass alle gesellschaftlich notwendigen Tätigkeiten erbracht werden, ist nachvollziehbar. Warum jedoch der sachliche Zwang das Mittel der Wahl sein soll, bleibt unklar. Leider steht der Ansatz damit nicht allein.