10.10.2024 

Der Begriff der Arbeitskraft (krisis 3/ 2024)

Karl-Heinz Lewed

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Zusammenfassung

Die Arbeitskraft scheint auf den ersten Blick eine einfache Kategorie zu sein. Ihr wesentliches Vermögen soll darin bestehen, Naturgegenstände zu bearbeiten und Stoffe umzuformen, um daraus Gebrauchswerte herzustellen. Darüber hinaus wird dem Arbeitsvermögen auch eine zentrale Bedeutung im sozialen Gefüge zugesprochen. Für den traditionellen Marxismus z.B., der die Arbeit und auch die Arbeitskraft regelrecht verherrlicht, wird diese im Kapitalismus systematisch ausgebeutet und damit unterdrückt. Die Befreiung der Arbeit und damit auch der Arbeitskraft von der Herrschaft des Kapitals gilt dem Arbeiterbewegungsmarxismus als Kern gesellschaftlicher Emanzipation.

Die folgende Analyse kommt zum gegenteiligen Ergebnis. Fernab davon, einen emanzipativen Charakter zu haben, stellt die Arbeitskraft selbst nur ein Moment der verobjektivierten Praxis der Warenproduktion dar. Sie ist durch den Prozess der Mehrwertproduktion hindurch integraler Teil des Verwertungsprozesses, der sich als Wert bzw. Mehrwert in den produzierten Waren vergegenständlicht.

In den folgenden Ausführungen werde ich die Arbeitskraft in Bezug auf die gesellschaftliche Verobjektivierung in zweifacher Hinsicht untersuchen. Zum einen im Hinblick auf ihre konkrete und stoffliche Dimension, gewissermaßen als Wirken einer Naturkraft. Zum anderen unter dem Aspekt der Wertverwertung. Denn indem sie lebendige Arbeit in tote Arbeit vergegenständlicht, ist die Arbeitskraft die einzige Quelle des abstrakten gesellschaftlichen Reichtums. Im Grunde geht es bei diesen zwei Seiten um das, was Marx im Begriff des Doppelcharakters von Ware und Arbeit zusammengefasst hat, der zugleich den »Springpunkt« (MEW 23, 56) für das Verständnis der politischen Ökonomie darstellt, also um das Ineinander von stofflicher und abstrakt-gesellschaftlicher Dimension.

Die wohl populärste und einflussreichste Bestimmung der Arbeitskraft im Horizont des traditionellen Marxismus trifft Marx selbst im ersten Band des Kapitals. Dort verknüpft er den Produktionsprozess, also die Arbeit, mit der Verausgabung von bestimmten Stoffen, wie »Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« (MEW 23, 58). Die Arbeitskraft wird hier als stoffliches System aufgefasst, deren einzelnen Momente im Arbeitsprozess verausgabt werden. Der menschliche Organismus bzw. der Körper der Arbeitskraft besteht nach dieser Sichtweise also aus einer bloßen Anhäufung von Stoffen.

In den folgenden Ausführungen will ich dagegen zeigen, dass der Stoffbegriff, den Marx der Arbeitskraft unterlegt, höchst voraussetzungsvoll ist und keineswegs die Natur an sich beschreibt. Vielmehr geht Marx von einem verdinglichten Naturbegriff aus, der im 19. Jahrhundert hegemonial war und dem er sich selbst offensichtlich nicht entziehen konnte. Die These, die ich hier vertreten will, besagt, dass dieser Naturbegriff keineswegs objektiv ›die Natur‹ beschreibt, noch dass dies überhaupt möglich wäre. Vielmehr ist die Bestimmung der Natur als bloßer Stoffzusammenhang selbst gesellschaftlich konstituiert. Deswegen gilt es in einer Analyse der Arbeit und der Arbeitskraft, das vorausgesetzte Verständnis von stofflichen Vorgängen und Stoffumformung der Natur spezifisch gesellschaftlich zu fassen und damit zugleich zu historisieren.

Das grundsätzliche Problem in der Marxschen Bestimmung der abstrakten Arbeit und somit auch des Arbeitsvermögens in der oben zitierten Stelle im Kapital ist, dass er diese nicht auf der Ebene der gesellschaftlichen Vermittlung formuliert, sondern als natürliche, physiologische Allgemeinheit. Damit verkehrt sich aber die zugrundeliegende gesellschaftliche Form zum scheinbar natürlichen stofflichen Charakter. Die Arbeit erscheint dann nicht in ihrem historischen Charakter als gesellschaftlich vermittelnde Beziehung, sondern als übergeschichtlich. Analog gilt dies auch für den Begriff der Arbeitskraft. Denn diese Arbeitskraft wird als ein von Natur aus gegebener, physiologischer Körper angesehen, der Stoffliches in »Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.« verbraucht und daraus wiederum die Kraft gewinnt, Stoffe umzuformen.

Ganz allgemein gilt, dass die Arbeitskraft in ihrer rein stofflichen Dimension die gegenständliche Erscheinungsform des Verwertungsprozesses ist. Mit Hilfe des Begriffs der Wertgegenständlichkeit (Marx) lässt sich dabei eine Brücke zwischen der gesellschaftlichen Formebene und der Ebene von Stofflichkeit schlagen. Indem der Wert sich notwendig in einem Arbeitsgegenstand als Wertgegenständlichkeit darstellen muss, wird dieser zum stofflichen Ding, zur »Materiatur« der Arbeit, wie Marx auch sagt. Der Gebrauchswert als Materielles und auch die stoffliche Dimension der Arbeitskraft sind letztlich die Materialisierung der prozessierenden Substanz des Werts. Die Naturdinge stellen nurmehr das Material dar, in denen sich der Wert ausdrückt und verwirklicht, und dies gilt auch und gerade für die Arbeitskraft. Ebenso wie jede andere Ware hat das Arbeitsvermögen einen »Wertkörper«. Diese Bestimmungen machen insgesamt klar, dass sich die menschlichen Beziehungen im Kapitalismus in einen Zusammenhang von Sachen und Stoffen transformiert, die ein verselbständigtes Eigenleben führen.

Mit dieser stofflichen Dimension von Ware und Arbeitskraft ist indes nur die eine Seite des verselbständigten Wertverhältnisses thematisiert. Denn der tatsächliche Zweck des Gesamtprozesses ist bekanntermaßen nicht die Vergegenständlichung von Arbeit in einer Ware, sondern wesentlich die Verwertung des Werts. Im System dieser Verwertung stellt das Arbeitsvermögen das zentrale Moment zur Reproduktion und Anhäufung von Wert dar. Die Arbeitskraft bildet, indem sie einerseits konsumiert wird und andererseits damit Wert setzt, den substantiellen Kern des Prozesses der Wertverwertung. D.h. das Ziel des Kapitalprozesses (die Vermehrung des Werts) kann sich nur über die Anwendung des Arbeitsvermögens vollziehen, da dieses die alleinige Quelle des Werts bildet. Die Logik der Kapitalverwertung hat demnach in der Wertsetzung durch die Arbeitskraft ihren konstitutiven Grund. Dies drückt sich indes auch darin aus, dass die Arbeitskraft einen spezifischen Gebrauchswert darstellt: Dieser Gebrauchswert ist als Wertsetzungsvermögen von der konkret-stofflichen Dimension der Stoffbearbeitung und Stoffumwandlung zu unterscheiden. Der Gebrauchswert der Arbeitskraft besteht in der Schaffung von Wert. Insgesamt haben wir es mit einem Prozess der Vergegenständlichung zu tun, der zugleich als Konsum des spezifischen Gebrauchswerts der Arbeitskraft seitens des Kapitals zu begreifen ist.

Dieser Prozess der Vergegenständlichung äußert sich indes nicht nur an den Warendingen als konkrete Erscheinungsform des Werts, sondern auch an der Ware Arbeitskraft selbst. An ihr ist in vermittelter Form Wert bzw. Wertquantum »vergegenständlicht«, wie Marx es ausdrückt (MEGA II/3.1, 78). Erst dieses Sein als vergegenständlichte Arbeitszeit macht es möglich, von einem Konsum der Arbeitskraft zu sprechen. Konsumiert wird seitens des Kapitals ein gewisses Zeitquantum, in dem die Arbeitskraft auf dem gültigen Produktivitätsstandard arbeitet und Stoffe umformt. Der Kapitalist hat so und so viel Stunden verausgabbares Arbeitsvermögen gekauft. Nach getaner Arbeit ist dieses Quantum verbraucht. Das bedeutet aber, dass in der Arbeitskraft ein bestimmter Wert bzw. ein bestimmtes Wertquantum vergegenständlicht ist, d.h. dass diese ein bestimmtes Quantum abstrakter Zeit repräsentiert. Freilich nicht direkt in dem Sinne, dass die Ware Arbeitskraft unmittelbar als Produkt von Privatarbeit entstanden wäre. Das Arbeitsvermögen ist keine Ware wie ein Salatkopf oder ein Schießgewehr. Sondern vielmehr in einem vermittelten Sinne. Indem die Arbeitskraft einen bestimmten Anteil an der Verwertungsbewegung erhält und sich damit Produkte von Privatarbeit aneignen und konsumieren kann, ist in ihr ein bestimmter Wert dargestellt (MEW 23, 184f.).

Damit kann die Arbeitskraft als ein »spezifischer Gegenstand« (MEGA II/3.1, 77) begriffen werden. Sie ist selbst Ausdruck und Darstellungsform des Verwertungsprozesses. Im Gegensatz zu anderen Waren ist sie aber soweit autonom, dass sie sich selbst und ihr Arbeitsvermögen zu Markte tragen und ihren Gebrauchswert, das Wertsetzen, an das Kapital verkaufen kann.

Lebendige Arbeit zu verausgaben führt zu dem paradoxen Resultat, dass die Arbeitskraft nicht nur Wert setzt, sondern selbst als Wert gesetzt wird, d.h. ein Wertobjekt wird, in dem sich der Wert verwirklicht. Somit bringt das Arbeitsvermögen seinen objektiven Charakter als Ware, d.h. sich selbst als Wertding, selbst hervor. Als ein spezifisches Subjekt also, dessen gesellschaftliches Paradox es ist, selbst Wert zu setzen und zugleich als Wert gesetzt zu werden.