Von Ernst Lohoff
(Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/15 vom 10.04.2024)
Seit Jahren steigt die Armutsquote, wegen der Inflation ist das Leben für Arme immer härter geworden. SPD und Grüne haben mit dem Thema Wahlkampf gemacht, an der Regierung aber kaum etwas getan. Nun könnte sogar die Kindergrundsicherung am Widerstand der FDP scheitern.
Regelmäßig veröffentlicht der Paritätische Wohlfahrtsverband seinen Armutsbericht. Der neueste erschien Ende März und konstatierte: »Die Armut in Deutschland verharrt auf hohem Niveau.« Seit 2006 ist die Zahl der Menschen, die über weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen und damit offiziell als arm gelten, kontinuierlich gewachsen. Die Covid-19-Pandemie löste einen regelrechten Verarmungsschub aus. Im zweiten Jahr der Pandemie, 2021, erreichte die Armutsquote ein Allzeithoch von 16,9 Prozent der Bevölkerung. 2022 sank sie zum ersten Mal seit 2006 minimal – auf 16,8 Prozent. Das sind die neuesten Daten, die derzeit vorliegen.
SPD und Grüne hatten sich 2021 im Bundestagswahlkampf die Armutsbekämpfung auf die Fahnen geschrieben. Zwei Gesetzesinitiativen aus der Frühphase der Ampelkoalition schienen tatsächlich eine Trendwende zu versprechen. Mit der im Koalitionsvertrag vereinbarten Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns auf zwölf Euro stieg dieser im Jahr 2022 um mehr als 22 Prozent. Und als 2023 das Arbeitslosengeld (ALG) II (»Hartz IV«) in Bürgergeld umbenannt wurde, ging das mit der ersten spürbaren Anhebung der Regelsätze seit vielen Jahren einher, um rund 50 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen. Anfang 2024 stiegen die Regelsätze erneut um zwölf Prozent.
Der Titel des neuen Armutsberichts, »Armut in der Inflation«, verrät, warum der Prozess der sozialen Polarisierung dennoch unvermindert weiterlief. Der durch die Pandemie und den russischen Angriffskrieg ausgelöste Teuerungsschub zehrte das zusätzliche Einkommen direkt wieder auf. Die offizielle Inflationsrate lag zwar 2022 »nur« bei 6,9 Prozent (2023 waren es noch 5,9 Prozent), für Menschen mit niedrigem Einkommen stellte sich die Lage jedoch weit dramatischer dar. Wer nur wenig Geld zur Verfügung hat, muss einen größeren Teil für Grundbedarfsgüter wie Energie und Nahrungsmittel ausgeben. Genau für diese Güter stiegen die Preise aber besonders stark. Hinzu kamen die stark gestiegenen Mieten, vor allem in großen Städten. Nach Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung musste eine Familie mit geringem Einkommen im September 2022 für ihren Warenkorb durchschnittlich 11,8 Prozent mehr berappen als ein Jahr zuvor.
»Armutspolitische Enthaltsamkeit«
Um die ökonomischen Probleme in Folge von Pandemie und Krieg abzufedern, hat der Staat Geld ausgegeben wie noch nie. Die Staatsverschuldung ist seit 2020 entsprechend in die Höhe geschnellt. Dieses Geld wurde allerdings höchst ungleich verteilt: In erster Linie floss es an Unternehmen. Außerdem gab es pauschale Entlastungen für alle Verbraucher, wie die zeitweilige Herabsetzung der Mehrwertsteuersätze in der Gastronomie und beim Benzin und die sogenannte Energiepreisbremse. Davon profitierten naturgemäß die Mittelschicht und Wohlhabende mehr als die Armen. Nicht zu Unrecht attestiert der Paritätische Wohlfahrtsverband der Entlastungspolitik der Bundesregierung deshalb »armutspolitische Enthaltsamkeit«.
Dass sich die Regierung angesichts der anhaltend hohen Armut für eine Umkehrung der Umverteilung – statt von unten nach oben in die Gegenrichtung – einsetzen könnte, ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil. Derzeit lässt sich das insbesondere am Schicksal der Kindergrundsicherung festmachen, die alle Sozialleistungen für Familien zusammenführen und den Zugang dazu erleichtern sollte. Sie war im Koalitionsvertrag noch als das zentrale armutspolitische Projekt angekündigt worden – aus guten Gründen. Wie der Armutsbericht hervorhebt, sind Kinder und Jugendliche nicht nur schon lange »deutlich überdurchschnittlich von Armut betroffen«, die Lage verschlimmert sich zusehends: »Mit 21,8 Prozent steigt ihre Armutsquote auf einen noch nie gemessenen traurigen Rekordwert.«
Nachdem die FDP – Koalitionsvertrag hin Koalitionsvertrag her –, die Verwirklichung des Beschlusses lange verschleppte und die ab 2025 dafür eingeplanten Finanzmittel auf 2,4 Milliarden Euro drücken konnte, scheinen Lindner und Konsorten jetzt entschlossen zu sein, das Vorhaben endgültig zu blockieren. Als Vorwand dienen 5.000 neu einzurichtende Stellen im öffentlichen Dienst, die Familienministerin Lisa Paus (Grüne) für die Reform veranschlagte. Sie sind Paus zufolge nötig, damit Familien in Zukunft die Leistungen nicht mehr beantragen müssen, sondern automatisch erhalten. Denn derzeit beantragen arme Familien oft nicht alle Leistungen, auf die sie ein Anrecht haben. Der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Fraktion, Johannes Vogel, nannte das eine »absurde Forderung«. Am Sonntag vergangener Woche teilte die Ricarda Lang, die Co-Vorsitzende der Grünen, mit, die 5.000 Stellen werde es nicht geben und damit gebe es »auch keinen Grund, dass die Debatte sich weiter an dieser Zahl aufhängt« – wohl ein Versuch, das Reformvorhaben noch zu retten.
Verhinderung zusätzlicher Leistungen für arme Kinder
Doch das Argument, dass es zu viel Bürokratie verursache, ist nur vorgeschoben. Finanzminister Lindner macht keinen Hehl daraus, worum es wirklich geht, nämlich um die Verhinderung zusätzlicher Leistungen für arme Kinder und Jugendliche. Weil Umfragen zufolge eine Mehrheit der Bevölkerung die Kindergrundsicherung unterstützt, schreckt Lindner auch nicht davor zurück, rassistische Ressentiments zu bedienen. Schon vergangenen Sommer hatte er verlauten lassen, es gäbe »einen ganz klaren statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut«. Kürzlich legte er nach und sieht die Ursache von Kinderarmut in der Arbeitslosigkeit ihrer migrantischen Eltern. Zusätzliches Geld sei deshalb nicht die richtige Lösung, entscheidend seien vielmehr »Sprachförderung und Integration der Eltern in den Arbeitsmarkt«, um »die Chancen der Kinder zu verbessern«.
Den Großteil der Armen stellen aber gar nicht Arbeitslose, sondern Rentner, Minderjährige und im Niedriglohnsektor Beschäftigte. Mehr als ein Viertel der Armen in Deutschland sind dem Paritätischen Wohlfahrtsverband zufolge berufstätig. Dem Armutsbericht ist außerdem zu entnehmen, dass in Deutschland 40 Prozent der Alleinerziehenden (mit Migrationshintergrund und ohne) und ihre Kinder in Armut leben. Keine andere soziale Gruppe weist eine derart hohe Armutsquote auf. Indem Lindner das Problem der Kinderarmut bei Migranten verortet, versucht er, von solchen Tatsachen abzulenken. Natürlich sind Menschen ohne deutschen Pass unter den Geringverdienern überrepräsentiert. In dieser Bevölkerungsgruppe liegt der Anteil der von Armut Betroffenen mit 35,3 Prozent fast dreimal so hoch wie bei Deutschen ohne Migrationshintergrund. Das macht Armut indes nicht zum Sonderproblem migrantischer Milieus. In absoluten Zahlen stellen Menschen, die in AfD-Kreisen als »biodeutsch« gelten, die Mehrheit der Armen.
Ölen der kapitalistischen Maschinerie
Die drohende Entsorgung des einstigen sozialpolitischen Vorzeigeprojekts Kindergrundsicherung zeigt, wie sehr sich die verteilungspolitischen Rahmenbedingungen verändert haben. Nachdem der Krisenmodus immer mehr zum neuen Normalzustand geworden ist, konzentrieren sich die Staatsausgaben auf das Ölen der kapitalistischen Maschinerie und vernachlässigen die Subventionierung von Konsum und Nachfrage. Mit dem im März verabschiedeten »Wachstumschancengesetz« erhalten Unternehmen noch einmal 3,2 Milliarden Euro an Steuererleichterungen. An anderen Stellen wurde im Bundeshaushalt 2023 stark gekürzt. Unter anderem wurde das »Klimageld«, das die sogenannte Energiewende sozial abfedern sollte, auf unbestimmte Zeit verschoben.
Grund für den Sparhaushalt war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten Schuldenbremse im November. Es hatte den haushaltspolitischen Spielraum der Bundesregierung stark eingeschränkt, indem es einen zuletzt eifrig genutzten Weg, die Schuldenbremse zu umgehen – die Einrichtung von Sonderfonds –, für illegal erklärte. Solange die FDP mitregiert, ist an eine Abschaffung oder Abmilderung der »Schuldenbremse« nicht zu denken. Damit zeichnet sich für die nächsten Jahre ein verschärfter Verteilungskampf ab. Es soll noch mehr gespart werden und eine breite Koalition weiß auch genau, wo. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) forderte im Februar ein »mehrjähriges Moratorium bei den Sozialausgaben«, um mehr Geld in Verteidigung investieren zu können.
Die Union droht bereits mit einer »Agenda 2030«. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann verkündete: »Wenn wir an der Regierung sind, werden wir als erstes großes Reformpaket das Bürgergeld in der jetzigen Form abschaffen.« Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sekundiert und fordert »eine Grundsanierung des Bürgergeldsystems«, womit er meint: mehr Repressalien und vor allem weniger Geld für Bedürftige.
Von den in den amtlichen Statistiken als arm geführten Menschen sind wie bereits erwähnt nach dem Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands nur 4,9 Prozent arbeitslos. Das hält die Vorkämpfer einer aggressiven Antiarmenpolitik aber nicht davon ab, ein wohlvertrautes Feindbild zu pflegen: die Kunstfigur des Arbeitsverweigerers.
Schon als das ALG II seinen neuen freundlicheren Namen erhalten hatte, lancierten Arbeitgeberverbände die Nachricht, ein bisschen weniger Repression und etwas mehr Geld habe prompt massenhaft Kündigungen und eine Flucht aus der Arbeit in den Sozialstaat ausgelöst. Das war frei erfunden, hat aber Methode: Man schlägt den Sack und meint den Esel. Die Stimmungsmache gegen »Sozialschmarotzer« dient letztlich dazu, jede nur vorstellbare Kürzung bei den Sozialleistungen zu rechtfertigen.