11.11.2024 

Die Wirtschaft von der Kette lassen. Der Bundeskanzler will das Lieferkettengesetz abschaffen

Von Peter Samol

Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/44 vom 31.10.2024

Die deutsche Industrie wünscht sich schon lange, dass das Lieferkettengesetz abgeschafft wird. Nun versprach Bundeskanzler Olaf Scholz beim Arbeitgeberverband: »Das kommt weg.«

Von Allenthalben ist es derzeit zu hören: Deutschlands Wirtschaft kriselt. Die großen Automobilfirmen haben Absatzprobleme und die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ist so hoch wie seit 2010 nicht mehr. Jetzt hat auch der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Prognose für die deutsche Wirtschaftsentwicklung für 2024 nach unten korrigiert: Er rechnet nur noch mit einer Stagnation, in dieser Hinsicht sei Deutschland Schlusslicht unter den G7-Industriestaaten.

Die Bundesregierung kündigte im Juli eine 49 Maßnahmen umfassende »Wachstumsinitiative« an, um die Wirtschaft zu stärken. Geplant sind Wohltaten für Unternehmen wie Steuersenkungen, Strompreisvergünstigungen und die »Vermeidung unverhältnismäßiger Belastungen« – also der Abbau von Vorschriften, die Unternehmen als lästig empfinden. An oberster Stelle stand dabei das sogenannte Lieferkettengesetz.

Mit dem erst seit Anfang 2023 geltenden Gesetz sollen große Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden können, wenn sie von illegalen Arbeitsbedingungen oder Umweltzerstörung im Ausland profitieren. Sie sollen dadurch gezwungen werden, Menschenrechts- und Umweltstandards in ihren weltweiten Lieferketten einzuhalten.

Auf dem deutschen Arbeitgebertag vergangene Woche in Berlin drängte der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Rainer Dulger, erneut auf Lockerungen. Ihm gehen vor allem die umfangreichen Berichtspflichten des Lieferkettengesetzes zu weit. »Wir haben mehrfach darum gebeten, dieses Gesetz entweder zu lockern oder außer Kraft zu setzen«, sagte Dulger. Das hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) auch schon angekündigt. Auf dem Arbeitgebertag erwiderte Scholz denn auch: Das Lieferkettengesetz, »das haben wir ja gesagt, das kommt weg. Dieses Jahr noch.«

Die Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Katharina Dröge, sagte als Reaktion auf Scholz’ Äußerungen, sie halte es für einen „großen Fehler“, das Gesetz komplett abzuschaffen, anstatt es nur abzuschwächen, wie es in der Koalition abgesprochen gewesen sei. Allerdings hatte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bereits Anfang Oktober gesagt, man sei bei dem Lieferkettengesetz „völlig falsch abgebogen“ und müsse jetzt „die Kettensäge anwerfen und das ganze Ding wegbolzen“.

Kritik kam vor allem von Gewerkschaften. Der Verdi-Vorsitzende Frank Werneke sagte, Habecks Äußerung sei „mehr als ein Skandal“. Menschenrechte dürften „nicht auf dem Altar politischer Gefälligkeiten geopfert werden, um gut Wetter bei den Wirtschaftsverbänden zu machen“.

Die Kettensägenpläne der Bundesregierung haben allerdings einen Haken. Die EU hat im April nach jahrelangen Verhandlungen ebenfalls eine entsprechende Richtlinie verabschiedet, die noch strenger ist als das deutsche Gesetz. Die Mitgliedstaaten haben nun zwei Jahre Zeit, sie in nationales Recht umzusetzen.

Im Gegensatz zum deutschen Gesetz enthält die EU-Regelung zum Beispiel eine zivilrechtliche Grundlage für Schadenersatzforderungen an EU-Unternehmen. Sie sieht außerdem höhere Bußgelder vor und verpflichtet Unternehmen, in Berichten darzulegen, wie ihr Geschäftsmodell mit dem Klimaziel vereinbar ist, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen.

Deutschland hatte sich auf Druck der FDP bei der Abstimmung im EU-Rat der Stimme enthalten, was dieselbe Wirkung hat wie eine Ablehnung (<I>Jungle World<I> 7/2024<a>https://jungle.world/artikel/2024/07/fdp-lieferkettengesetz-produktionsbedingungen-freiheit-fuer-die-lieferkette<a>). SPD und Grüne sagten damals zwar, sie seien anderer Meinung, fügten sich aber dem Koalitionspartner. Scholz hätte damals von seiner Richtlinienkompetenz als Bundeskanzler Gebrauch machen und ein deutsches „Ja” durchsetzen können, tat dies aber nicht.

Wieso verspricht die Bundesregierung aber der deutschen Industrie, das eigene Lieferkettengesetz zu schleifen, wenn sie ohnehin bald ein noch strengeres EU-Gesetz übernehmen muss? Dieses EU-Gesetz soll erst ab Sommer 2027 und nur auf Unternehmen mit mehr als 5 000 Beschäftigten und einem weltweiten Nettoumsatz von mehr als 1,5 Milliarden Euro angewandt werden. Erst ab 2029 sollen die Regeln – so wie derzeit das deutsche Gesetz – für Unternehmen ab 1 000 Angestellten gelten.

Das ist eine substantielle Atempause für die Industrie. Auch ist damit zu rechnen, dass die Adaption der EU-Richtlinie wenig ambitioniert ausfallen wird. Die Äußerungen der Bundesregierung sprechen eher dafür, dass die deutsche Variante des Gesetzes an jeder möglichen Stelle mit der Kettensäge bearbeitet sein wird.