Von Ernst Lohoff
Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/34 vom 22.08.2024
Die Entwicklungspolitik der OECD-Länder war seit jeher von Kurzsichtigkeit geprägt. Der Trend, als Entwicklungshilfe deklarierte Zahlungen gleich im Geberland zu behalten, trägt nicht dazu bei, den Auswirkungen von Klimakrise und dem Griff autoritärer Großmächte nach politisch instabilen Ländern zu begegnen.
Auf Drängen der Grünen fand das Bekenntnis zu einer »feministischen« Außen- und Entwicklungspolitik Eingang in den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP. Man wolle »Rechte, Ressourcen und Repräsentanz von Frauen und Mädchen weltweit stärken und gesellschaftliche Diversität fördern«, heißt es dort unter anderem. Dieser Passus sollte 2021 nicht nur die Absicht der neuen Regierung signalisieren, für eine Verbesserung der Lebenssituation von Frauen weltweit einzutreten; das Stichwort signalisierte darüber hinaus veränderte Akzente in der Entwicklungspolitik. Seit ihren Anfängen in den sechziger Jahren war diese am Ziel nachholender Modernisierung ausgerichtet gewesen und damit an den Interessen lokaler Unternehmer sowie der Exportwirtschaft in den kapitalistischen Zentren; künftig, so legte es der Koalitionsvertrag nahe, sollten die elementaren Bedürfnisse der Gesamtbevölkerung der Empfängerstaaten bei der Mittelvergabe eine größere Rolle spielen.
Eine solche Veränderung in der Entwicklungspolitik der westlichen Länder insgesamt hatte sich bereits seit der Jahrtausendwende angekündigt. Auf dem UN-Gipfel im Jahr 2000 in New York City hatten sich die Staats- und Regierungsoberhäupter auf acht grundlegende Entwicklungsziele geeinigt, zu denen die Halbierung der Zahl der Hungernden, Grundschulbildung für alle Kinder und die Förderung ökologischer Nachhaltigkeit zählten. Diese Ziele wollte man bis 2015 erreichen.
Die tatsächlichen Verbesserungen blieben begrenzt. Immerhin fiel die Rate der in extremer Armut lebenden Menschen in den Entwicklungsländern gegenüber dem Stand von 1990 von 47 auf 14 Prozent. 1990 hatten in den Ländern südlich der Sahara nur 52 Prozent aller Kinder im Grundschulalter die Schule besucht. 25 Jahre später waren es 80 Prozent. Diese Erfolge wurden nur erreicht, weil die politisch Verantwortlichen ein Stück weit von der Urlüge aller Entwicklungspolitik abgerückt waren, bessere Lebensverhältnisse für die breiten Massen entstünden als Abfallprodukt erfolgreicher Wachstumspolitik.
Schon 1969 hatte eine Expertenkommission der Weltbank im sogenannten Pearson-Bericht das Scheitern des Konzepts Entwicklung durch Wachstum konstatiert. Die »Grundbedürfnisstrategie«, die der damalige Weltbankchef Robert McNamara daraufhin ausrief, blieb indes bloße Ankündigung. Breit angelegte Investitionen in Infrastrukturprojekte führten in dieser Zeit zu einer Auslandsverschuldung einiger Entwicklungsländer in bis dahin unbekanntem Ausmaß. Die darauffolgenden achtziger Jahre werden in der entwicklungspolitischen Debatte gemeinhin als das »verlorene Jahrzehnt« bezeichnet. Der Übergang von einer durch Kredite finanzierten Modernisierung der Produktivkräfte zu einem monetaristischen Modell, das die Entkopplung der Finanzmärkte von der realen Produktion förderte, wirkte sich in zweifacher Hinsicht verheerend aus. Zum einen trieb damals die Hochzinspolitik der Regierung Ronald Reagans das Zinsniveau weltweit auf Rekordhöhe und damit die Entwicklungsländer in die Schuldenfalle. Zum anderen zwangen die vom Westen dominierten internationalen Institutionen die Weltmarktperipherie auf den Weg der Privatisierung und Marktliberalisierung. Während die Länder Ostasiens in dieser Phase dank der Transnationalisierung der Produktion einen Aufschwung erlebten und als die neue Werkbank der Welt eine rasante wirtschaftliche Aufholjagd hinlegten, wurde die Stellung der Länder Lateinamerikas und Afrikas als subalterne Rohstofflieferanten zementiert. Für sie bestanden die Errungenschaften der neoliberalen Epoche in der Verschleuderung der vorhandenen Infrastruktur und einer ins Kraut schießenden Korruption.
Schon die desaströse Bilanz ihrer Entwicklungspolitik in den achtziger und neunziger Jahren zwang die westlichen Regierungen, sich an Nachjustierungen zu versuchen. Dies wurde umso mehr nötig, als sich zwei Entwicklungen in den Vordergrund schoben, die klassischen Wirtschaftsförderungsprogrammen die Grundlage sukzessive entziehen. Seit den neunziger Jahren wächst die Zahl der failed states stetig. Ob Somalia oder Myanmar, überall ähnliche Bilder: Gesellschaften, die in Chaos und Gewalt versinken, und Millionen Menschen auf der Flucht. Hinzu kommt die Klimakrise. Sie trifft den sogenannten Globalen Süden besonders hart und es lässt sich absehen, dass sie Abermillionen Menschen die Lebensgrundlage raubt und damit künftig zu einer Hauptfluchtursache wird.
Seit der Kapitalismus entstanden war, der sich daran machte, den Planeten für das sich formierende warenproduzierende Weltsystem zu erobern, handelt es sich beim Elend des Globalen Südens um induziertes Elend. Es entspringt letztlich jener Wirtschafts- und Lebensweise, deren Siegeszug zunächst die miteinander konkurrierenden europäischen Mächte und später die um die USA gruppierten westlichen Länder für ein paar Jahrhunderte zu den masters of the universe machte. Beim Klimadesaster liegt das mittlerweile offen zutage. Die CO2-Emissionen, die im Laufe der kommenden Jahrzehnte vermutlich Bangladesh im Meer versinken lassen und weite Landstriche Südamerikas unbewohnbar machen, wurden bislang nur zu einem geringen Teil im Globalen Süden in die Luft geblasen, auch wenn die Bilanz dabei ist, sich zu verschieben. Nach wie vor nimmt man jedoch Zuflucht in der Leugnung des menschengemachten Klimawandels, um die kapitalistischen Kernstaaten von jeder Verantwortung freizusprechen. Was den Vormarsch autoritärer Regime und den Zerfall vormaliger Staaten in sich bekriegende Milizen angeht, ist es dagegen in westlichen Staaten gang und gäbe, die Hände in Unschuld zu waschen. In ihrer Selbstgerechtigkeit erklärt die »westliche Wertegemeinschaft« die fatale Entwicklung am liebsten mit kulturellen Eigenheiten und dem Fehlen demokratischer Traditionen; der Zusammenhang mit der kapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise, die automatisch Gewinner- und Verliererregionen erzeugt, bleibt jedenfalls unerwähnt.
Wie schon der Umfang des finanziellen Engagements dokumentiert, war es mit dem Altruismus der westlichen Regierungen nie weit her. Bereits 1970 hatte die UN-Generalversammlungvereinbart, dass die Industrieländer im Laufe der darauffolgenden fünf Jahre ihre Budgets für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit auf 0,7 Prozent des jeweiligen Bruttonationaleinkommens (BNE) aufstocken sollten. Das Geberland Nummer eins, die USA, kamen 2020 auf 0,2 Prozent, der Durchschnitt der OECD-Staaten lag bei 0,33 Prozent. Nur ein größeres OECD-Land, nämlich Deutschland, schaffte 2020 erstmals den Richtwert.Das gelang mit einem Rechentrick. In dem 1970 geschlossenen Abkommen bezog sich der Posten humanitäre Hilfe allein auf in den Entwicklungsländern geleistete Hilfe. Inzwischen werden die Aufwendungen für die ins Geberland Geflüchteten mit einberechnet. In Deutschland machten diese Kosten im Jahr 2023 fast 20 Prozent der Ausgaben für humanitäre Hilfe aus. Deutschland ist somit der größte Einzelempfänger deutscher Entwicklungshilfe. Ließe man diese im Land verbleibenden Ausgaben außen vor, fiele Deutschland mit 0,64 Prozent Anteil der Ausgaben am BNE unter den Richtwert von 1970.
Mit dem Fortschreiten krisenhafter Entwicklungen steigt im Globalen Süden der Bedarf an Mitteln zu deren Bewältigung. Man denke nur daran, wie dramatisch im Gefolge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Lebensmittelpreise in Afrika in die Höhe schnellten. Das zeigt, dass nicht mehr nur unmittelbare Nothilfe unerlässlich ist. Vor allem wären wirksame Maßnahmen zur Reduzierung der Weltmarktabhängigkeit geboten, etwa durch eine gezielte Förderung der für den heimischen Markt produzierenden Landwirtschaft. Die oft beschworene »Zeitenwende« scheint in der Entwicklungspolitik das Gegenteil zu bringen. Angesichts der Konfrontation mit den autoritären Regimen in Moskau und Peking verfolgt man im Westen ein teures Hochrüstungsprogramm, zu dessen Gegenfinanzierung die Sozial- und Entwicklungsausgaben rigoros zusammengestrichen werden sollen. Der alte neoliberale Traum einer durch den entfesselten Markt in Wohlstand und Demokratie vereinten Welt ist lange begraben. Ein neuer, noch gefährlicherer, ist an seine Stelle getreten. Einige Entscheidungsträger im Westen meinen, der Westen könne einen Gutteil der Menschheit abschreiben, ohne dass ihm das alsbald auf die Füße fiele. Das ist nicht nur menschenverachtend, sondern auch wirklichkeitsfremd.