von Marcos Barreira
zuerst erschienen in Jungle World 2024/48
Die Demokraten führten ihren Wahlkampf mit sozialpolitischen und Wirtschaftsthemen. In diesem Bereich wähnten sie die Bilanz der Regie- rung Biden gut genug, um starke Argumente zu ihren Gunsten zu liefern. Dass Donald Trump die Wahl trotzdem gewonnen hat, hat weniger mit den Folgen von Identitätspolitik zu tun, als manche glauben mögen.
Die Wirtschaft war dabei, sich von der Covid-19-Pandemie und der Inflation zu erholen, die Arbeitslosigkeit war auf relativ niedrigem Niveau, die Inflation sank ebenso wie die Zinssätze, zugleich stiegen die Börsenindizes. Eigentlich eine gute Grundlage für die US-Vizepräsidentin Kamala Harris, um im Wahlkampf über Donald Trump zu triumphieren, sollte man meinen. Zwei Wochen vor der Wahl wurde sogar ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts um 2,8 Prozent im dritten Quartal verglichen mit dem des Vorjahres gemeldet.
Doch es kam anders. Die Gründe für den relativ klaren Sieg der Republikaner bei den US-Wahlen müssen also jenseits der Ökonomie liegen, so die allgemeine Diagnose.
Die Diskrepanz zwischen der »guten« Wirtschaftsleistung und der Niederlage der Präsidentenpartei wurde damit erklärt, dass die Wähler sich nicht auf der Grundlage der Wirtschaftslage, sondern aufgrund ihrer Ansichten auf dem Gebiet von Identitätspolitik und Kulturkampf entschieden, wie auch Jan Tölva an dieser Stelle argumentierte. Trump hat allerdings gezeigt, dass forcierte Identitätspolitik und die Einschätzung der wirtschaftlichen Lage einander nicht unbedingt widersprechen müssen.
Die Weltwirtschaftskrise von 2008 signalisierte die dauerhafte Universalisierung jener Krise, die bis dahin auf die aufstrebenden Märkte in Lateinamerika, der asiatischen »Tigerstaaten« und Russlands beschränkt war. US-Präsident Barack Obama reagierte damals mit der Ausweitung der staatlichen Sozialversicherung, die ihren Namen allerdings nach westeuropäischen Maßstäben kaum verdient, und einer zaghaften Reform des Gesundheitssystems, um die sozialen Schäden zu verkleinern, die mit einer Zunahme der wirtschaftlich überflüssigen Bevölkerung einhergingen.
Acht Jahre später hatte sich die Situation nicht entspannt, sondern verschlimmert. Im Zuge der Covid-19-Pandemie vergrößerte die Regierung Trump die 2008 aufgepumpte Liquiditätsblase weiter: Im März 2020 verabschiedete sie ein zwei Billionen US-Dollar schweres Hilfspaket; am Ende desselben Jahres wurde ein zweites Paket in Höhe von 900 Milliarden Dollar genehmigt. Der Fraktionsführer der Republikaner im Senat, Mitch McConnell, verglich die Maßnahmen zur Wirtschaftsförderung mit »Investitionen auf Kriegsniveau«. 120 Milliarden Dollar wurden allein für direkte Hilfen für Arbeitslose bereitgestellt. Unter Präsident Trump betrug das Haushaltsdefizit 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und die Staatsverschuldung stieg erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg über 100 Prozent des BIP. Die schwache Konjunktur war ein entscheidender Faktor für Trumps Niederlage vor vier Jahren.
Joe Bidens Konjunkturplan
Im Januar 2021 legte Joe Biden einen Konjunkturplan vor, der denen der Vorgängerregierungen ähnelte und diesmal 1,9 Billionen Dollar umfasste. Bis zum Ende des Jahres war das BIP der USA um 5,7 Prozent gewachsen. Das war in erster Linie auf den extrem niedrigen Ausgangswert des Vorjahres zurückzuführen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate unter Biden entsprach mit 2,2 Prozent jedoch der unter der Vorgängerregierung. Somit blieb der Aufschwung unter der Regierung der Demokraten lange zu schwach, als dass er für die Wählerschaft wirklich wahrnehmbar geworden wäre. Die Inflation flachte zu langsam ab, ebenso die Zinssätze. Biden war sehr bemüht, die historisch niedrige Arbeitslosigkeit positiv hervorzuheben. Aber auch das verfing bei den Wählern nicht.
Um das zu verstehen, muss man sich die Beschäftigungszahlen genauer ansehen. Offiziell beträgt die Arbeitslosenquote in den USA etwa vier Prozent. Diese Angabe bezieht sich auf die »offene Arbeitslosigkeit«, das heißt auf die Zahl der auf dem Arbeitsmarkt aktiven Personen, die in den vergangenen 30 Tagen eine Stelle gesucht haben. Es handelt sich also um die kurzfristige Arbeitslosigkeit in den Bereichen der Erwerbsbevölkerung, die in den Markt integriert sind. Nach Angaben des U.S. Bureau of Labor Statistics, einer Regierungsbehörde, steigt die Quote auf 7,7 Prozent, wenn man Personen miteinbezieht, die in den vergangenen zwölf Monaten nach einer Stelle gesucht haben.
Doch selbst das bietet keine realistische Einschätzung dessen, wie es tatsächlich um die Arbeitslosigkeit bestellt ist. Seit 2004 beobachtet Walter John Williams in seinem Newsletter Shadowstats die Langzeitarbeitslosenquote, die auch jene berücksichtigt, die seit mehr als einem Jahr arbeitslos sind und nach offiziellen Kriterien aus der Statistik verschwunden sind. Auf der Grundlage offizieller Daten kam Williams zu dem Schluss, dass die tatsächliche Arbeitslosenquote bei mindestens 15 Prozent der Bevölkerung im aktiven erwerbsfähigen Alter liegen müsse.
Abkopplung von der Realität
In den vergangenen zwei Jahrzehnten, so Williams, »hat sich die Qualität der staatlichen statistischen Angaben erheblich verschlechtert. Zu den Problemen bei der Offenlegung gehören methodische Änderungen bei den wirtschaftlichen Angaben, die dazu geführt haben, dass wichtige Wirtschafts- und Inflationsergebnisse sich von der realen Welt oder der allgemeinen Erfahrung entfernt haben.«
In einem Artikel für Bloomberg griffen Jeanna Smialek und Patricia Laya das Problem der strukturellen Arbeitslosigkeit in den USA auf, die in den offiziellen Statistiken nicht vorkommt. Ihr Ergebnis lautete,,selbst wenn nach derzeitigen Erfassungsmethoden Vollbeschäftigung herrschte, könnten ungefähr 20 Millionen US-Amerikaner im erwerbsfähigen Alter nicht am Arbeitsmarkt teilnehmen.
Die Abkopplung von der Realität ist so gesehen längst nicht mehr das Alleinstellungsmerkmal fanatischer Verschwörungstheoretiker. Robert Kurz zeigte vor 30 Jahren auf, wie »ganze Völker, die von zahlenmäßigem Wohlstand und hohen Durchschnittseinkommen profitieren, in Wirklichkeit in miserablen Verhältnissen leben«. Vor allem die Beschäftigungsstatistiken wurden so lange verändert, bis ihre Ergebnisse im neuen »Fassadenkapitalismus« vertretbar erschienen.
Realität der Krise
Dieser Umstand ist nun in den USA offenbar geworden: Während der Wahlkampf der Demokraten auf dieser falschen Auffassung der gesellschaftlichen Umstände beruhte, stachelte der Demagoge Trump die soziale Wut und den Groll an, die die Realität der Krise hervorruft. Während seiner Amtszeit behauptete er zum Beispiel, dass in den USA »96 Millionen Menschen auf der Suche nach Arbeit« seien. Trotz der willkürlichen Zahl korrespondierten seine Worte mit der Wahrnehmung vieler Bürger in einem Land, das sozial stark polarisiert ist. Sie korrespondierten besonders stark mit der Wahrnehmung in den ruinierten ehemaligen Industrie- oder Bergbauregionen, wo ein großer Teil der Bevölkerung von staatlicher Hilfe abhängig ist. Trump hat gelogen, als er sagte, dass er die »großartigste Wirtschaft in der Geschichte unseres Landes« geschaffen habe und dass die Regierung Biden alles ruiniert habe. Doch in der Wahrnehmung vieler Trump-Anhänger wurden sowohl die derzeitige Krise als auch die Immobilienkrise im Jahr 2008 künstlich erzeugt, um republikanische Regierungen zu stürzen.
Die größte Mobilisierungskraft Trumps geht jedoch nicht von einem falschen positiven Bild seiner Amtszeit aus, sondern von einer Feindbildkonstruktion. Trump inszeniert China als äußeren Feind und die »Invasion der Einwanderer« als inneren. In beiden Fällen ist ein grundlegender Wandel im konservativen Argumentationsmuster festzustellen. In den Achtzigern und Neunzigern wurde die Verarmung noch individualisiert. Es gab demnach keine strukturellen Probleme, nur einen Mangel an Motivation oder Qualifikation. Die US-amerikanische Soziologin Arlie Russell Hochschild hat in ihrem Buch »Fremde im eigenen Land – Eine Reise ins Herz der amerikanischen Rechten«, das 2017 auf Deutsch erschien, gezeigt, wie diese Vorstellung sich verändert: Aus dem individuellen Problem wird ein Gruppenproblem, das die Demokraten geschaffen haben sollen. Ausgehend von der Vorstellung, dass Minderheiten bevorzugt werden, die »die Schlange überspringen« und so den ehemaligen Arbeiter (häufig weißer Hautfarbe) Zugang zum »Amerikanischen Traum« versperren.
An diesem Punkt werden die Vorstellungen von Wirtschaftskrise und die von Identität zu einander befeuernden Faktoren. Trumps Rede ersetzt die individuelle Scham über das Scheitern durch die Rettung des Stolzes des Arbeiters, der Amerika wiederaufbauen will. Die Konflikte, die sich im Krisenkapitalismus auftun, nähren den Identitätswahn und Trump hat es geschafft, der wirtschaftlich abgehängten Mehrheit eine Identität anzubieten. Inzwischen identifizieren sich selbst Einwanderer, insbesondere Latinos, immer mehr mit den konservativen Werten des »Great America«. Ihre wirtschaftliche Motivation ist weitgehend an die Idealisierung von Marktfreiheit, Flexibilität am Arbeitsplatz und dem neuen religiösen Fundamentalismus der Evangelikalen geknüpft.
In diesem Sinne geht auch die linke These, dass der Identitätsappell kontraproduktiv sei, an der Sache vorbei. Trump und die Konservativen sind erfolgreich, weil sie diese Unterscheidung nicht machen. Der ideologisch fanatisierte Rechtspopulismus gewinnt in der wirtschaftlichen Debatte und in der Identitätspolitik.