09.11.2024 

Jenseits des Homo faber oder die Rückgewinnung der Lebenszeit (krisis 4/ 2024)

Ernst Lohoff

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Zusammenfassung

Die Ware, die die Lohnarbeiterin zu Markte trägt, ist keine Ware wie jede andere. Wie schon Marx betonte, ist die Arbeitskraft die einzige Ware im Warenuniversum, die sich von ihrer Eigentümerin der Lohnarbeiterin, nicht ablösen lässt. Wer die eigene Arbeitskraft veräußert, veräußert Lebenszeit. Der Arbeitskraftverkäufer tritt für die Arbeitszeit an die Käuferin das Recht ab, darüber zu verfügen, was er zu tun und zu lassen hat. Das verleiht dem Interessengegensatz zwischen den Käuferinnen und Verkäufern der Ware Arbeitskraft eine von anderen Warentransaktionen unbekannte Zusatzdimension. Die Interessen gehen nicht nur bei der Lohnhöhe auseinander, sondern auch bei der Frage, wie groß der Anteil der Arbeitszeit an der Lebenszeit der Beschäftigten sein soll.

Das Interesse der Arbeitskraftbesitzerinnen in den Lohnkämpfen unterscheidet sich nicht weiter von den Interessen anderer Typen von Warenbesitzern. Ob Immobilie, Aktie oder Schokolade, der Verkäufer strebt nach einem möglichst hohen und die Käuferin nach einem möglichsten niedrigen Preis. Die Frage, wie viel Zeit die Einzelnen mit fremdbestimmter Tätigkeit zubringen müssen, betrifft unmittelbar die Lebensgestaltung, und das verleiht Kämpfen für die Reduktion der Arbeitszeit eine über das bloße Geldinteresse hinausweisende bedürfnispolitische Dimension.

Seit der Chartisten-Bewegung der 1830er-Jahre spielten Arbeitszeitkämpfe in der Geschichte der Arbeiterbewegung immer wieder eine Schlüsselrolle. Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert etwa hatte keine andere Forderung über alle Branchen und Ländergrenzen hinweg eine derartige Ausstrahlungskraft wie die nach dem Achtstundentag. Das hielt zumindest die Arbeiterbewegung sozialdemokratischer und kommunistischer Provenienz freilich nie davon ab, in das Hohelied der Arbeit und des Produzierens einzustimmen und den Werkzeuge schwingenden Homo faber als Inbegriff des Menschen zu feiern. Für eine Bewegung, deren historische Mission in der Durchsetzung der Lohnarbeiterinteressen bestand, war es funktional, sich sowohl die mit dem Kapital entstandene Religion des Produktivismus zu eigen zu machen als auch das aus dem Aufklärungsdenken stammende Menschenbild des tool making animal (Benjamin Franklin) zu übernehmen. Die Abhängigkeit des Kapitals von der Ware Arbeitskraft war nun einmal das einzige Pfund, mit dem die Arbeiterbewegung wuchern konnte. Was lag da näher, als den Kampf um Anerkennung des Arbeiters als gleichberechtigten Warensubjekt mit der Überhöhung der eigenen Ware zu legitimieren?

Die Arbeiterbewegung ist schon lange Geschichte, und in Sachen Arbeitszeitreduktion herrschte jahrzehntelang Schweigen. Angesicht der chronischen Übernutzung der Ressource Mensch und der sukzessiven Verwandlung der Arbeitsgesellschaft in eine Art Burn-out-Gesellschaft drängt die Arbeitszeitfrage indes wieder auf die Tagesordnung. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung wünschen sich hierzulande immerhin 81 Prozent der Beschäftigten eine Viertage-Woche. Damit sich noch einmal ein emanzipatives Lager formieren kann, wäre es freilich dringend geboten, das individuelle Bedürfnis nach mehr Lebenszeit mit einer umfassenderen emanzipativen Perspektive zu verbinden. Das hieße allerdings, den Rahmen bloßer Interessenpolitik hinter sich lassen und zum Thema machen, warum sich drängende gesamtgesellschaftliche Probleme nur lösen lassen, wenn die Gesellschaft aufhört, um die Sonne der Arbeit zu kreisen.

Die Lebenszeitfrage und die ökologische Frage sind miteinander verschwistert. Wer wie die Anhänger eines Green New Deal die Klimakatastrophe zu verhindern verspricht und gleichzeitig das Ziel exponentiellen Wirtschaftswachstums fortschreibt, versucht sich an einer Quadratur des Kreises. Entweder die Weltgesellschaft befreit sich vom Zwang, immer höhere Warenberge aufzutürmen, oder sie zerstört angesichts des erreichten Produktivitätsniveaus über kurz oder lang die Naturgrundlagen des menschlichen Lebens. Die Gesellschaft kann aber nicht aus dem Produktivismus aussteigen, ohne die Lebenszeit, die Menschen mit der Herstellung und dem Vertrieb toter Dinge zubringen, radikal zu reduzieren.

Aber nicht nur, weil sie der Sache nach zusammengehören, gilt es die Lebenszeitfrage als Schnittstellenforderung zu formulieren. Darüber hinaus eröffnet dies im Zeitalter des Interessenkampfes unbekannte Möglichkeiten der Solidarisierung und Mobilisierung. Im vorliegenden Text wird das insbesondere an der Frage der in Lohnarbeit verwandelten Care-Tätigkeiten thematisiert. Noch nie hat sich ein Werkstück das Anliegen der um Arbeitszeitverkürzung kämpfenden Industriebelegschaft zu eigen gemacht. Im Care-Sektor sind aber die Arbeitsbedingungen der einen die Lebensbedingungen der anderen – und das eröffnet ganz andere Solidarisierungspotenziale. Diese Wende von bloßer Interessenpolitik zur Bedürfnispolitik ist freilich an eine Neubestimmung des gesellschaftlichen Reichtums gebunden. Was wollen wir: Warenreichtum und Selbstzerstörung oder Bedürfnis- und Beziehungsreichtum? Das ist aus einer emanzipativen Perspektive die Grundfrage, die es zu stellen gilt.