Online-Vortrag und Diskussion mit Ernst Lohoff
Mittwoch 20. November, 19:00 Uhr via Zoom
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Meeting-ID: 816 4285 6706 – Kenncode: 283451
Der Vortrag bezieht sich auf den gleichnamigen krisis-Beitrag 4 /2024 (erscheint am 13.11.)
In der Geschichte der Arbeiterbewegung spielten seit deren Anfängen Arbeitszeitkämpfe eine Schlüsselrolle. Im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert etwa hatte keine andere Forderung über alle Branchen und Ländergrenzen hinweg eine derartige Ausstrahlungskraft wie die nach dem Achtstundentag. Seit den IG-Metall-Streiks von 1984 hat sich in Sachen Arbeitszeitreduktion nicht mehr viel getan – nur der Arbeitsdruck ist enorm gewachsen. Angesichts der chronischen Übernutzung der „Ressource Mensch“ und der sukzessiven Verwandlung der Arbeitsgesellschaft in eine Art Burn-out-Gesellschaft drängt die Arbeitszeitfrage aber wieder auf die Tagesordnung. Nach einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung wünschen sich hierzulande immerhin 81 Prozent der Beschäftigten eine Viertage-Woche.
Das individuelle Bedürfnis nach mehr Lebenszeit ist das eine; aber wie lässt sich dieses angesichts von Phänomen wie der Klimakrise und Pflegenotstand mit einer umfassenderen emanzipativen Perspektive verbinden? Die Arbeitszeitkämpfe der Vergangenheit hatten noch den Charakter klassischer Interessenkämpfe. Sie stellten weder die Arbeitsreligion und den Produktivismus infrage noch die für die kapitalistische Gesellschaft charakteristische Hierarchisierung weiblich und männlich konnotierter Tätigkeitsfelder. Es gilt diesen Rahmen zu sprengen und an die Stelle bloßer Interessenpolitik so etwas wie Bedürfnispolitik zu setzen. In diesem neuen Kontext wird der Kampf für mehr Lebenszeit zu einer Schnittstellenforderung, in der individuelle Bedürfnisse und gesamtgesellschaftlich Anliegen zusammenlaufen.
Allein schon um die Zerstörung der Naturgrundlagen unserer Existenz zu stoppen ist es heute unumgänglich, die mit der Herstellung von toten Dingen verbrachte Lebenszeit radikal abzusenken. Darüber hinaus eröffnet eine bedürfnispolitische Orientierung ganz neue Möglichkeiten der Solidarisierung und Mobilisierung als unter den Bedingungen des reinen Interessenkampfes. Noch nie hat sich ein Werkstück das Anliegen der um Arbeitszeitverkürzung kämpfenden Industriebelegschaft zu eigen gemacht. Im Care-Sektor sind aber die katastrophalen Arbeitsbedingungen der Beschäftigten die Lebensbedingungen der Betreuten. Die Wende von bloßer Interessenpolitik zur Bedürfnispolitik ist freilich an eine Neubestimmung des gesellschaftlichen Reichtums gebunden. Was wollen wir: Warenreichtum und Selbstzerstörung oder Bedürfnis- und Beziehungsreichtum? Das ist aus einer emanzipativen Perspektive die Grundfrage, die es zu stellen gilt.