Von Ernst Lohoff
Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/45 vom 07.11.2024
Ressentiment und Eigennutz spielen bei der Wirtschaftspolitik des BSW eine zentrale Rolle. Der Erfolg der Partei ist ein Symptom des Niedergangs der Linken und zugleich Ausdruck einer neoliberalen Gesellschaft, die mit Krisen konfrontiert ist, auf die sie keine Antworten weiß.
Der Aufstieg des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) markiert einen vorläufigen Tiefpunkt in der Entwicklung der parlamentarischen Linken in der Bundesrepublik. Die Linkspartei hatte noch einen allgemeinen emanzipativen Anspruch und versprach, gleichermaßen für die Freiheitsrechte von Minderheiten und für mehr soziale Gerechtigkeit und Solidarität einzutreten. Nun läuft ihr eine Partei den Rang ab, die die Ressentiments und die Ausgrenzungswünsche der sogenannten hart arbeitenden Menschen bedient. Das BSW erntet insbesondere bei weniger qualifizierten Lohnabhängigen beachtlichen Zuspruch. »Generell weisen Personen mit geringem Einkommen, ohne finanzielle Rücklagen, mit großen Sorgen und Belastungen und geringem Vertrauen in Institutionen eine vergleichsweise hohe BSW-Wahlneigung auf«, heißt es in einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Hier fällt die Mischung aus dem Anprangern sozialer Missstände, populistischer Regierungsschelte und Härte gegen die Schwächsten der Gesellschaft, gegen Flüchtlinge und Bürgergeldbezieher, auf fruchtbaren Boden.
Sahra Wagenknecht fordert beispielsweise, »Missbrauch« beim Bürgergeld einzudämmen, denn die Bevölkerung wolle nicht, dass »auch die profitieren, die den Staat und ihre Mitmenschen betrügen«, wie sie der FAZ im März sagte. Dass inzwischen fast die Hälfte der Bürgergeldempfänger »keinen deutschen Pass hat«, hält sie nicht für Folge der Kriege beziehungsweise Terrorherrschaft in der Ukraine, Syrien, Afghanistan und anderen Ländern, sondern des »Scheiterns der deutschen Migrations- und Integrationspolitik«, so Wagenknecht im Oktober, denn »ein starker Sozialstaat funktioniert nur, wenn nicht jeder in ihn einwandern kann«. Anerkannte Flüchtlinge sollten zwar arbeiten dürfen, jedoch ohne Anspruch auf Sozialleistungen, solange sie nicht Beiträge gezahlt haben. Und für neu ankommende Flüchtlinge fordert Wagenknecht, dass alle, die aus »einem sicheren Drittstaat« nach Deutschland einreisen – also de facto so gut wie alle Flüchtlinge – »weder Anspruch auf ein Verfahren noch auf Leistungen haben« sollen. Das dadurch eingesparte Geld solle »für höhere Renten und eine bessere Gesundheitsversorgung der eigenen Bevölkerung eingesetzt werden«.
Das Wählerpotential, das Parteien wie das BSW abrufen, hat sich in einem langen Prozess aufgebaut, der in Deutschland mit der neoliberalen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft in den neunziger Jahren an Fahrt aufnahm. Mit der Herausbildung eines Kapitalismus, der noch viel umfassender als zuvor in den Weltmarkt eingebunden war, gewann die Auflösung der Gesellschaft in vereinzelte Konkurrenzsubjekte eine neue Qualität und die soziale Polarisierung innerhalb der Staaten verschärfte sich, während gleichzeitig der Erfolg des nationalen Wirtschaftsstandorts aufgrund wachsender internationaler Konkurrenz stets bedroht wirkt.
Des Weiteren hat sich die Vorstellung, der Kapitalismus sei alternativlos, tief ins Massenbewusstsein eingebrannt. An dieser Entwicklung hatte auch die außerparlamentarische Linke insofern teil, als der Gedanke einer Überwindung der kapitalistischen Ordnung aus ihren Debatten entweder verschwand oder zum bloßen Lippenbekenntnis verkam. Der Marktliberalismus und seine Mär, Konkurrenz und Markt seien die besten Garanten für allgemeinen Wohlstand und Frieden, wurden zur dominierenden Weltdeutung. Das war für das gesellschaftliche Klima schon in den Zeiten des neoliberalen Aufschwungs verheerend, in den derzeitigen Krisen wirkt es sich noch fataler aus. Die Verhältnisse schreien eigentlich nach fundamentaler Kapitalismuskritik und einer antikapitalistischen Opposition. Doch solange der Glaube an die Unhintergehbarkeit des Kapitalismus unerschüttert bleibt, übernimmt diesen verwaisten Platz das zum gesellschaftlichen Programm gewordene Ressentiment.
Energiekosten bleiben an den Endverbrauchern hängen
Der bestimmende gesellschaftliche Konflikt besteht heutzutage zwischen zwei konkurrierenden Formen der Wirklichkeitsverweigerung. Auf der einen Seite stehen die etablierten Parteien. Sie wollen sich und der Wählerschaft stur weismachen, sie seien in der Lage, die Probleme dieser Welt auf dem Boden jener gesellschaftlichen Ordnung zu bewältigen, die sie hervorgebracht hat. Auf der anderen Seite hat sich eine Vielfalt konformistischer Rebellen formiert. Diese schwelgen in nostalgischer Erinnerung an die fordistische Ära mit ihren relativ geschlossenen Nationalökonomien und machen lautstark sogenannte Eliten dafür verantwortlich, den Rückweg in die vermeintlich gute alte Zeit zu blockieren.
Die einflussreichste Spielart dieser Art von Wirklichkeitsverweigerung ist der Rechtspopulismus. Doch gerade in Deutschland, wo die AfD trotz sozialpopulistischer Äußerungen und rechtsextremer Kapitalismuskritik, die es in der Partei auch gibt, nach wie vor sozial- und wirtschaftspolitisch einen marktliberalen Kurs fährt, ist auch reichlich Platz für eine in Sachen Sozialpolitik linke Variante.
Das gilt umso mehr, als die Bundesregierung ein Treibhausklima geschaffen hat, in dem das BSW prächtig wachsen und gedeihen kann. Man nehme nur die »Energiewende«: Weil die Gewinne der Energiekonzerne garantiert sein müssen, bleiben deren Kosten unweigerlich an den Endverbrauchern hängen. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und der starke Rückgang des Imports von billigem russischem Öl und Gas kamen noch dazu, beides verstärkte den Inflationsschub infolge der Covid-19-Pandemie.
Antiimperialistisches Stereotyp
Die Inflationsrate ist mittlerweile zwar wieder gesunken, doch Energie dürfte sich unter anderem aufgrund steigender CO2-Preise in den kommenden Jahren stark verteuern. In einer Gesellschaft, in der das private Eigeninteresse über allem steht und die Menschen darauf angewiesen und konditioniert sind, ihren monetären Vorteil zu suchen, verlangt die derzeitige Klimapolitik ausgerechnet von den Letzten in der Kette Altruismus. Sie werden genötigt, zugunsten übergeordneter klimapolitischer oder außenpolitischer Ziele, so sinnvoll diese sein mögen, Lasten zu tragen.
Das Programm des BSW und dessen Forderung, die Sanktionen gegen Russland zu beenden – was dessen Präsident Wladimir Putin zu einer seiner Bedingungen bei Verhandlungen über die Ukraine erklärt hat – und wieder Erdgas und Erdöl aus Russland zu beziehen, sind so etwas wie das Echo von derlei Zumutungen. Es handelt sich um ein Programm des doppelten unmittelbaren Eigennutzes, nämlich des Einzelnen und des Wirtschaftsstandorts.
Das Verständnis, das das BSW der Kriegspolitik des Putin-Regimes entgegenbringt, hat also durchaus eine materielle Grundlage, und jener doppelte Eigennutz wird zum Wahrnehmungsfilter und Verstärker eingefahrener Denkmuster. Dass »der Westen« und vor allem die USA für alle Konflikte verantwortlich seien, ist ein altes antiimperialistisches Stereotyp. Es wird auch deshalb so gerne abgerufen, weil sich dadurch der Anspruch legitimieren lässt, dass die Konflikte dieser Welt gefälligst einen weiten Bogen um das eigene Land und das eigene Portemonnaie machen sollen.