17.09.2024 

Kleine Kosmologie des Warenuniversums. Anmerkungen zu den Begriffen Ware und abstrakter Reichtum (Working Paper 5/ 2024)

von Ernst Lohoff

Working Paper Nr. 5, September 2024

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Zitation: Lohoff, Ernst: Kleine Kosmologie des Warenuniversums. Anmerkungen zu den Begriffen Ware und abstrakter Reichtum. krisis-Working Paper 5, 2024. URL: https://www.krisis.org/2024/kleine-kosmologie-des-warenuniversums/
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Inhalt

1. Was bedeutet „Wareim ersten Kapitel des Kapitals?
2. Die Ware Arbeitskraft
3. Die allgemeine Arbeit und Wissensprodukte
4. Ware Natur
5. Ware Geldkapital
6. Die Kategorie des abstrakten Reichtums
7. Die veränderte Zusammensetzung des Warenkosmos
8. Was noch aussteht

1. Was bedeutet „Wareim ersten Kapitel des Kapitals?

In den ersten beiden Sätzen des Kapitals stellte Marx kurz den Ausgangspunkt seiner Darstellung vor. Er schrieb: „Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als ungeheure Warensammlung, die einzelne Ware als seine Elementarform. Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware.” (MEW 23, S 49.) Dieser wortkarge Einstieg wurde oft so verstanden, als handle es sich bei der im ersten Kapitel des Kapitals behandelten Ware um ein empirisches Oberflächenphänomen oder um die Ware in ihrem ideellen Durchschnitt1 und Marx wäre es im ersten Kapitel des Kapitals darum gegangen, die allen Waren gemeinsamen Wesenseigenschaften zu untersuchen. Wenn man die beiden Sätze isoliert betrachtet, scheint diese Deutung nahezuliegen, zumal Marx in seinem Hauptwerk weder ein Wort über seine Vorgehensweise verliert noch erklärt, was den im ersten Kapitel verwendeten Warenbegriff vom landläufigen Verständnis unterscheidet. Allerdings machte er mehrfach unmissverständlich klar, was das entscheidende Merkmal der am Anfang seiner Darstellung im Kapital stehenden Ware sein soll. Er schrieb apodiktisch: „Nur Produkte selbstständiger und voneinander unabhängiger Privatarbeiten treten einander als Waren gegenüber (MEW 23, S. 57). Wenn man diese Aussage ernst nimmt und gleichzeitig unterstellt, Marx habe damit ein allgemeines Wesensmerkmal aller Waren benennen wollen, dann müsste man Marx theoretischen Dilettantismus und eine in sich inkohärente Argumentation attestieren. Zum Warenkosmos zählen für Marx nämlich im Fortgang seiner Darstellung etliche Waren, die dieser Bestimmung nicht Genüge tun und bei denen er das auch unmissverständlich klarlegt. Marx verengt den Begriff der Ware im ersten Kapitel des Kapitals also nur auf die Produkte von Privatarbeit, um sukzessive im Fortgang der Darstellung diese Bestimmung hinter sich zu lassen. In der entfalteten Kritik der politischen Ökonomie bezeichnet Ware keineswegs nur die Produkte von Privatarbeit, sondern alles, was auf irgendeinem Markt gehandelt wird, und damit die universelle kapitalistische Reichtumsform. Vergaß Marx beim Schreiben der hinteren Teile des Kapitals, was er im ersten Kapitel des Kapitals proklamiert hatte?

Es dürfte plausiblere Antworten auf die Frage geben, warum Marx im ersten Kapitel des Kapitals mit einem rigideren Warenbegriff operiert als die moderne VWL und am Ende der Fortgang der Darstellung ihn zu einem viel weiteren führt.2 Die gängige Vorstellung von der „Anfangsware” als einem empirischen Oberflächenphänomen bzw. als ideelle Durchschnittsware ist schlicht und einfach grundfalsch. Vielmehr stehen die Anfangs-Ware und die Privatarbeit, die sich in ihr „vergegenständlicht”, für eine noch abstrakte, von der empirischen Vielfalt absehende Ausgangsbestimmung, von der aus sich das Ganze der kapitalistischen Produktionsweise systematisch entfalten lässt.3 Die Kategorie der Ware wird eingangs nicht deshalb als Produkt voneinander unabhängig betriebener Privatarbeit gefasst, weil das ein allen Waren gemeinsames Merkmal wäre; vielmehr bildet diese spezifische Art Ware und die Privatarbeit, der sie entspringt, die Kernstruktur des Systems des kapitalistischen Reichtums. Nur soweit Waren Produkte voneinander unabhängig betriebener Privatarbeiten sind, repräsentieren sie vergangene tote Arbeit und sind Wertträger. Anders als in der gängigen Vorstellung wäre die Anfangs-Ware dann keine Regelware mehr, sondern hätte sogar eine Ausnahmestellung unter den Waren inne. Allerdings wäre die Ausnahme-Ware gleichzeitig als logische Voraussetzung für das Auftreten aller anderen Waren so etwas wie die Urware. Nur in einer Gesellschaft, in der sich die von Marx im ersten Kapitel analysierte getrennte Privatarbeit herausgebildet hat, steigt die Ware zur omnipräsenten Reichtumsform auf und auch Güter, die sich selber nicht als Produkte von Privatarbeit fassen lassen, werden zu Waren. Zu diesen Waren gehören die Arbeitskraft, ohne menschliches Zutun entstandene Naturressourcen, bestimmte Produkte allgemeiner Arbeit, insbesondere Wissensprodukte, und schließlich die Ware Geldkapital nebst den diversen auf den Geld- und Kapitalmärkten gehandelten Waren (wie Aktien, Schuldtitel, Derivate usw.). Sie alle haben nur eins gemeinsam: Sie sperren sich der klassischen Wertformanalyse, wie sie im ersten Kapitel des Kapitals entwickelt wurde. Vom Standpunkt der Wertformanalyse könnte man sie deshalb unter dem Begriff deviante Waren zusammenfassen. Hat man das Verhältnis zur Ur-Ware im Auge, bietet sich als Sammelbegriff jedoch eher der Terminus abgeleitete Waren an. Die Besonderheiten dieser unterschiedlichen Waren sollen hier kurz skizziert werden.

2. Die Ware Arbeitskraft

Ein grundlegender Unterschied zwischen der Ware Arbeitskraft und der im ersten Kapitel des Kapitals analysierten Anfangs-Ware springt eigentlich ins Auge. Gleich im dritten Satz des Kapitals erklärte Marx, welche Art von Gebrauchswert der Anfangs-Ware zukommt: „Die Ware ist zunächst ein äußerer Gegenstand, ein Ding, das durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigt”(MEW 23, S. 49). Und ein paar Zeilen später heißt es ebenso lapidar: „Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert” (MEW 23, S. 50; Hervorheb. E.L.). Wenn alle Waren äußere Gegenstände, tote Dinge wären, dann könnte die Arbeitskraft niemals Ware werden. Wie Marx schon in den Grundrissen betonte, ist die Arbeitskraft der Lohnarbeiterin4 von ihrer Person nicht zu trennen:„Der Gebrauchswert, den der Arbeiter dem Kapital gegenüber anzubieten hat, den er also überhaupt anzubieten hat für andre, ist nicht materialisiert in einem Produkt, existiert überhaupt nicht außer ihm …” (MEW 42. S.190).

Wenn die Arbeitskraft sich aber von der natürlichen Person nicht ablösen lässt, dann ist die Entstehungsgeschichte dieser Ware Teil der Lebensgeschichte ihres menschlichen Trägers. Der Beginn eines Menschenlebens hat mit Empfängnis, Zeugung und Schwangerschaft zu tun und nichts mit Privatarbeit. Und auch die Pflege und die Erziehung, die dem neuen Erdenbürger später zuteilwird, lässt sich schwerlich als Warenproduktion im Sinne des ersten Kapitels fassen. Das gilt auch für die Reproduktion der marktreif gewordenen Arbeitskraft. Indem der Mensch sich regeneriert und reproduziert, regeneriert und reproduziert er auch seine Arbeitskraft mit. Dieser Abhängigkeit vom Lebensprozess entsprechend sind der Erneuerung des Arbeitsvermögens denn auch biologische Grenzen gesetzt. Das Arbeitsvermögen ist perdu, wenn der Arbeitskraftbesitzer zu alt oder zu krank ist, um weiter arbeiten zu können.

Um die Besonderheiten der Ware Arbeitskraft zu verstehen, muss man sich klarmachen, was da überhaupt in eine Ware verwandelt wird. Bei der Arbeitskraft handelt es sich um eine menschliche Potenz, um das menschliche Vermögen, Arbeit zu verrichten. Die Arbeitskraft ist kein zur Bedürfnisbefriedigung taugliches Ding, das Warenform annimmt, sondern steht für ein ganzes Ensemble menschlicher Fähigkeiten. Zu diesem Ensemble gehört nicht zuletzt die Fähigkeit, Dinge, die durch ihre Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art befriedigen, herzustellen. Die Fähigkeit, Dinge zu produzieren, ist indes etwas anderes als die am Ende des Arbeitsprozesses stehenden Dinge. Niemand sollte einen Menschen, der Teppiche webt, mit dem Ergebnis seiner Webarbeit verwechseln. Auch werttheoretisch kommt dem Teppich und der Arbeitskraft des Teppichproduzenten eine höchst unterschiedliche Bedeutung zu. Soweit es sich um Produkte von Privatarbeit handelt, repräsentieren die hergestellten Güter Wert, kommt ihnen also Wertgegenständlichkeit zu. Wird die Fähigkeit, Privatarbeit zu verrichten, realisiert, wird die Arbeitskraft zur lebendigen Quelle des Werts. Die Quelle des Werts ist aber selbst kein Träger von Wert.

Wer über Arbeitsvermögen verfügt, muss diese Fähigkeit nicht zwangsläufig in eigener Regie in tatsächliche Arbeitsleistung übersetzen. Mangels Produktionsmitteln ist den meisten Warensubjekten dieser Weg im Kapitalismus verstellt. Dem Gros der Menschen bleibt stattdessen nichts anderes übrig, als ihre Arbeitskraft zu Markte zu tragen, deren Gebrauchswert abzutreten und ihr Arbeitsvermögen vom Käufer anwenden zu lassen. Mit dieser Transaktion verschwindet der gerade skizzierte Unterschied zwischen der Arbeitskraft als Quelle von Wert einerseits und den Produkten der Privatarbeit als Träger von Wert jedoch selbstverständlich nicht.

Setzt ein Kapitalist die erworbene Arbeitskraft dafür ein, Waren im Sinne des ersten Kapitels zu produzieren, so gehört ihm das Endprodukt ebenso voll und ganz wie die wertsetzende Potenz der Arbeitskraft. Dass die Arbeitskraftbesitzerin für das Abtreten des Gebrauchswerts ihrer Ware bezahlt wird, ändert daran nichts. Der Arbeitskraftkäufer bezahlt die Arbeitskraft mit Geld, das er schon in Händen hält, nicht mit dem Geld, das er mit der Produktion und dem Verkauf der von der Arbeitskraft produzierten neuen Ware zu verdienen gedenkt. Der auf Mehrwert versessene Kapitalist kauft demnach zuerst die Ware Arbeitskraft und gibt Wert weg, um durch die Anwendung dieser Arbeitskraft völlig neuen Wert erzeugen zu lassen. Für den Kapitalisten gehört der zu zahlende Lohn genauso zu den Vorauskosten seiner weiteren Produktion wie das Geld, das er für die eingesetzten Maschinen und Rohmaterialien ausgibt. Sie werden auch dann fällig, wenn das betriebswirtschaftliche Kalkül nicht aufgeht und die produzierte Ware sich als unverkäuflich erweist, ihr Wert sich also nicht realisieren lässt. In diesem Fall hat sich auch der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft im Nachhinein als Schall und Rauch erwiesen.

Verantwortlich für diese Eigentümlichkeit ist der spezifische Charakter des zum Verkauf stehenden Gebrauchswerts. Der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft besteht bekanntlich in ihrer Anwendung, also in der tatsächlichen Arbeitsverrichtung. Diese tatsächliche Arbeitsverrichtung und damit der Übergang vom möglichen zum wirklichen Gebrauchswert kann aber erst nach dem Verkauf erfolgen. Damit hat der Kaufakt aber eine ganz andere Bedeutung als bei Leinwand und Rock. Bei den Anfangswaren bildet der Verkauf bekanntlich den Schlussakkord. Der Gebrauchswert muss bereits fix und fertig vorhanden sein, damit diese zu Markte getragen werden und ihren Tauschwert realisieren. Bei der Ware Arbeitskraft stellt der Kaufakt umgekehrt die Ouvertüre zur Gebrauchswertrealisierung dar. Oder um diese zeitliche Ordnung in Marxens Worten auszudrücken: „Die eigentümliche Natur dieser spezifischen Ware, der Arbeitskraft, bringt es mit sich, daß mit der Abschließung des Kontrakts zwischen Käufer und Verkäufer ihr Gebrauchswert noch nicht wirklich in die Hand des Käufers übergegangen ist … Ihr Gebrauchswert besteht erst in der nachträglichen Kraftäußerung. Die Veräußerung der Kraft und ihre wirkliche Äußerung, d.h. ihr Dasein als Gebrauchswert, fallen daher der Zeit nach auseinander.” (MEW 23. S.188.)

Wie die im ersten Kapitel des Kapitals analysierten Waren hat auch die Ware Arbeitskraft einen Wert. Anders als der Wert von Rock und Leinwand entspringt der aber nicht bereits vergegenständlichter und damit toter Arbeit, sondern er bildet sich erst, wenn der Besitzer der Ware Arbeitskraft einen Kontrakt eingeht, in dem er sich zu künftiger Arbeitsleistung verpflichtet.

Marx war die quantitative Bestimmung des Werts der Arbeitskraft wichtig. Der Wert der Ware Arbeitskraft entspricht dem Wert der Konsumtionsmittel, die der Verkäufer der Ware Arbeitskraft zur Reproduktion benötigt. In diesem Zusammenhang verwendete Marx Formulierungen wie „Die zur Produktion notwendige Arbeitszeit löst sich also auf in die zur Produktion dieser Lebensmittel notwendige Arbeitszeit, oder der Wert der Arbeitskraft ist der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel.“ (MEW 23, S.185; Hervorheb. E.L.) Die Verwendung der Vokabel „ist“ evoziert gelegentlich das Missverständnis, der Wert der Arbeitskraft werde nicht nur in seiner Größe vom Wert der Konsumtionsmittel bestimmt, sondern der Wert lasse sich auf eine Art von Wertübertragung zurückführen. Ähnlich wie beim konstanten Kapital, bei dem der Wert der Maschinen und Rohstoffe erhalten bleibt und im Endprodukt wiedererscheint, erstehe der bei der Produktion der Konsumtionsmittel auf den Arbeiter übertragene Wert als Wert der Arbeitskraft wieder. Dabei wird übersehen, dass ausschließlich der Gebrauchswert der Konsumtionsmittel in die Reproduktion der Arbeitskraft eingeht, während deren Tauschwert in der Konsumtion restlos erlischt. Das, was reproduziert wird, ist das lebendige Individuum und mit diesem entsteht das Arbeitsvermögen immer wieder neu, so wie Phönix immer wieder neu seiner eigenen Asche entsteigt. Nur die in den Konsum des Arbeiters eingehenden Waren bilden als tote Arbeit ein Element des abstrakten Reichtums, nicht aber die lebendige Arbeitskraft.

3. Die allgemeine Arbeit und Wissensprodukte

Genauso wie der Kapitalismus mit der Ware eine für diese Gesellschaftsformation spezifische Reichtumsform hervorbrachte, schuf er auch eine einheitliche Tätigkeitsform.5 Alles als gesellschaftlich gültig anerkannte Tun verwandelt sich unterschiedslos in Arbeit. Ob Profifußballer, Elektrikerin oder Programmiererin, das, womit Menschen ihr Geld verdienen, ist ihre Arbeit. Aber keineswegs alle Arbeit hat den Charakter getrennter Privatarbeit, wie sie Gegenstand des ersten Kapitels des Kapitals ist. Auch die kommerzielle Lohnarbeiterin an der Supermarktkasse verrichtet Arbeit, auch ihre Arbeitskraft hat einen Wert, aber ihre Arbeit ist keineswegs wertschöpfend, wie Marx im 2. Band des Kapitals darstellte. Das Gleiche gilt für jene Bereiche, in denen die Arbeit einen anderen Inhalt hat als den, Waren herzustellen und in Umlauf zu bringen: Man denke nur an das weite Feld der Staatstätigkeit von der Polizei über die Verwaltung bis hin zum Schulwesen. In Abgrenzung zur Privatarbeit bezeichnete Marx derlei Arbeiten, zu denen er auch die Wissensarbeit zählte, wie sie etwa an Universitäten oder in Forschungsabteilungen geleistet wird, als „allgemeine Arbeit”.6 Ein Phänomen hat Marx noch nicht thematisiert, weil es zu seiner Zeit noch keine große Rolle spielte. Wissensgüter können sich in Waren verwandeln, ohne dass die Wissensarbeit deshalb ihren Charakter als allgemeine Arbeit einbüßen würde. Zu diesem Sektor, der gerade in den letzten Jahrzehnten immens an Bedeutung gewonnen hat, gehören neben dem Gros der Computerprogramme auch Erzeugnisse der Gentechnologie wie patentgeschütztes Saatgut und Lizenzen aller Art. Ausgangspunkt der Kommodifizierung ist in solchen Fällen nicht die Privatarbeit, sondern das Privateigentum an universell einsetzbaren Gütern. Weil diese Wissensgüter im Gegensatz zu den Produkten isolierter Privatarbeit, wenn sie einmal geschaffen sind, ohne nennenswerte weitere Arbeit beliebig oft eingesetzt und an beliebig viele Kunden verkauft werden können, haben sie auch als Waren eigentümliche, von den Produkten von Privatarbeit abweichende Bewegungsgesetze.7 Der Verkäufer von patentiertem Saatgut oder einer Software behält das Patent bzw. den Quellcode. Wie beim Verkauf der Ware Arbeitskraft wird also eigentlich nicht die Sache selber veräußert, sondern nur das Nutzungsrecht an ihr. Anders als bei der Arbeitskraft, deren Gebrauchswert zur selben Zeit nur von einem Käufer genutzt werden kann, handelt es sich bei Wissensgütern aber nicht um ein exklusives Nutzungsrecht, sondern bloß um ein Mitnutzungsrecht. Die mit dem Verkauf dieser Mitnutzungsrechte erzielbaren Einkünfte ordnen sich anders in das System des abstrakten Reichtums ein als die Produkte von Privatarbeit. Sie haben den Charakter von Informationsrenten, nicht den von Mehrwertproduktion.

4. Ware Natur

In einer Gesellschaft, in der die Reichtumsproduktion die Gestalt der Warenproduktion annimmt, wird das Privateigentum zur allgegenwärtigen juristischen Form, in der sich die Menschen auf die sie umgebende sinnliche Wirklichkeit beziehen. Das gilt nicht nur für die von Menschen geschaffenen Güter, sondern auch, und das in wachsendem Umfang, für das gemeinsame Naturerbe. Von wenigen freien Gütern wie Luft und Sonne einmal abgesehen, wird im Kapitalismus alles zum exklusiven Eigentum einer bestimmten juristischen oder natürlichen Person. Privates Eigentum aber kann gehandelt werden und zur Ware werden, und je weiter die kapitalistische Entwicklung voranschreitet, desto umfassender wird die Kommodifizierung der Naturressourcen. Im Zeichen der Biotechnologien hat sie heute Dimensionen angenommen, die vor wenigen Jahrzehnten noch unvorstellbar gewesen wären. Marx hat sich in seinem Hauptwerk nur mit einer solchen Naturressource ausführlich beschäftigt. Der VI. Abschnitt im 3. Band des Kapitals behandelt Grund und Boden. Dessen Kommodifizierung kann zwei unterschiedliche Formen annehmen. Entweder es werden (zeitlich befristete) Nutzungsrechte veräußert (Pacht), oder der Boden wird ein für alle Mal verkauft und das Eigentum an ihm geht an den Käufer über. Im ersten Fall wird für die zeitweilige Überlassung eine Rente fällig. Im zweiten Fall erhält der Boden als solcher einen Preis. Der lässt sich aber nicht auf irgendwelche sich vergegenständlichende Privatarbeit zurückführen, sondern entsteht, wie Marx skizziert, durch die Kapitalisierung künftiger Einnahmen aus der Veräußerung der Nutzungsrechte an diesem Boden (MEW 25, S 636).

Bei dieser Art der Kommodifizierung handelt es sich wohlgemerkt nicht um ein Spezialphänomen dieser einen Naturressource. Sie kennzeichnet vielmehr eine umfangreiche Abteilung des Warenkosmos, die alle Biopatente sowie sämtliche Rohstoffe umfasst. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Arbeit in der Landwirtschaft und in den „extraktiven Industrien” (Marx), also die Förderung von Kohle, Erdöl oder Metallen, lässt sich zweifellos im Sinne des ersten Kapitels des Kapitals als getrennte Privatarbeit fassen. Allerdings sind sämtliche Naturressourcen an sich so wenig Arbeitsprodukte wie Grund und Boden. Die Naturprozesse, denen sie ihre Existenz verdanken, waren längst abgeschlossen, als der Homo sapiens die Bühne betrat. Weil alle Gütermarktwaren, wenn man die Produktionskette bis zur „Urproduktion” zurückverfolgt, immer solche Naturkomponenten enthalten, gibt es überhaupt keine empirische Gütermarktware, die nichts weiter wäre als ein Produkt selbstständiger Privatarbeit. Sie sind letztlich immer Kompositwaren, in deren Preisbildung auch eine Rentenkomponente eingeht.

5. Ware Geldkapital

Die allgemeine Darstellungsform abstrakten Reichtums ist Geld und so stellt sich für jedes fungierende Kapital die Wertverwertung als Geldvermehrung dar. Das Geld ist nicht nur Omega, sondern auch Alpha des Kapitalkreislaufes. Diese besondere Position des Geldes als Ausgangspunkt der Kapitalbewegung verleiht dem Geld einen zusätzlichen Gebrauchswert: Es ist potentielles Kapital. Bei diesem spezifischen Zusatzgebrauchswert des Geldes handelt es sich nicht nur um einen übersinnlichen Gebrauchswert8, sondern um ein abgeleitetes Phänomen. Er setzt ja das Kapitalverhältnis bereits logisch voraus. Wie jeder andere Gebrauchswert, so kann auch dieser höchst seltsame Gebrauchswert veräußert werden. Im Geld inkarniert wird damit das gesellschaftliche Verhältnis Kapital zu einer privat handelbaren Ware. Um den Status dieser Ware als abgeleiteter Ware zu betonen, habe ich in dem Buch Die große Entwertung für den an den Geld- und Kapitalmärkten gehandelten Warentypus den Begriff der Waren 2terOrdnung eingeführt (Lohoff/Trenkle 2012).9

Marx konzentrierte sich im dritten Band des Kapitals auf eine Form dieser verrücktesten aller Warenbeziehungen: auf das Verleihen von Geldkapital gegen Zins. In diesem Zusammenhang kommt er auf eine Besonderheit zu sprechen, die diese Ware aus dem übrigen Warenkosmos heraushebt. Dieselbe Geldsumme wird von Leiher und Verleiherin während der Laufzeit des Kredits gleichzeitig genutzt. Der Leiher hat die ursprüngliche Geldsumme in Händen und damit auch deren Gebrauchswert; aber die Verleiherin hat „ihr Geld” nicht verschenkt, sondern gewinnversprechend angelegt. Indem eine Rückübertragung der vermehrten Geldsumme vertraglich vereinbart wird, verwandelt sich das dem Kreditnehmer überlassene Geld für die Verleiherin ihrerseits in fiktives Kapital. Das bedeutet für die Dauer der Kreditbeziehung, dass die Ausgangsgeldsumme doppelt existiert. Neben das verliehene Geld tritt, wenn auch zeitlich befristet, ein selbstständiges Spiegelbild dieses Geldes, das eine eigene Bewegung vollführen kann. Solange die Kreditvergabe expandiert und gesamtgesellschaftlich mehr fiktives Kapital neu entsteht, als wieder verschwindet,10 wächst das Gesamtkapital. Wie ich bei anderer Gelegenheit ausführlich dargestellt habe (Lohoff 2014), hat sich der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten durch exzessive Nutzung dieser Möglichkeit von einem Wertproduktions- in ein Wertantizipationssystem verwandelt und hat sich damit noch einmal eine Gnadenfrist erkauft, obwohl er als Wertverwertungssystem seine innere Schranke bereits erreicht hat.

6. Die Kategorie des abstrakten Reichtums

Anknüpfend an die Marx´sche Warenformanalyse im ersten Kapitel des Kapitals wird in den Texten der Krisis-Gruppe stets die historische Sonderstellung der kapitalistischen Wirtschaftsweise betont. Alle Gesellschaftsformationen müssen in der einen oder anderen Weise die zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse notwendigen Güter erzeugen; mit dem Kapitalismus ist aber eine eigene, vom sinnlich-stofflichen Reichtum grundverschiedene Art von Reichtum entstanden. Zu deren Bezeichnung hat sich in der wertkritischen Debatte früh der Begriff des abstrakten Reichtums eingebürgert.11 Dieser Sprachgebrauch deckt sich nicht ganz mit der Marx´schen Terminologie. Marx verwendete zwar in seinen ökonomiekritischen Schriften den Begriff stofflicher Reichtum sehr häufig, den anderen Pol des Gegensatzpaares bezeichnet er allerdings fast immer mit der Kategorie des Werts. Vor allem in den Grundrissen taucht zwar auch die Wendung „abstrakter Reichtum” wiederholt auf, Marx reserviert diesen Begriff aber für die Geldware seiner Zeit, also für Gold und Silber.12

Der Begriff des Werts geht ursprünglich auf die klassische Ökonomie zurück. Zu Marxens Zeit war er dort nicht nur gang und gäbe, ihm kam auch eine eigene, vom Oberflächenphänomen des Preises klar unterschiedene Bedeutung zu. Soweit er in der VWL überhaupt noch in Gebrauch ist, wird er immer nur als ein Synonym für die erzielbaren Preise verwendet. Angesichts dieser Veränderung im diskursiven Kontext bedarf er für Menschen, die nicht schon marxistisch vorgebildet sind, der Erläuterung. Aber auch innerhalb des marxistischen Debattenfeldes handelt man sich oft genug mit der Verwendung der Wert-Kategorie Missverständnisse ein. Der fundamentale Unterschied zwischen einer positiven Werttheorie à la Adam Smith und einer Kritik der Basiskategorie der herrschenden Ökonomie ist in marxistischen Kreisen alles andere als selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund bot es sich an, den Begriff des abstrakten Reichtums als erläuterndes Synonym für die Kategorie des Werts einzuführen. Damit ließen sich nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wer bei „Wert” erst einmal an Moralvorstellungen denkt, kann sich unter dem Stichwort „abstrakter Reichtum” eher etwas vorstellen. Gleichzeitig ist das Adjektiv abstrakt im Gegensatzpaar abstrakter Reichtum versus sinnlich-stofflicher Reichtum pejorativ aufgeladen. Insofern verdeutlichte das gewohnheitsmäßige Changieren zwischen den Begriffen Wert und abstrakter Reichtum, dass der Wert in unserer Debatte als eine negative, zutiefst verrückte Form von Gesellschaftlichkeit verstanden wird.

Die meisten Krisis-Autoren und Autorinnen verwenden den Begriff des abstrakten Reichtums nach wie vor als ein anderes Wort für Wert. Meine Texte behandeln dagegen seit Jahren Wertreichtum einerseits und abstrakten Reichtum andererseits als unterschiedliche, klar zu unterscheidende Kategorien. Das ist eine Konsequenz aus der zuerst in dem Buch Die große Entwertung (Lohoff/ Trenkle 2012) entwickelten Analyse fiktiver Kapitalbildung und dem Konzept der Waren 2ter Ordnung. Dieser zufolge existiert neben der Wertproduktion noch eine zweite auf Wertantizipation beruhende Form kapitalistischer Reichtumserzeugung, und die Akkumulation des monetären Gesamtreichtums ist das Ergebnis der Überlagerung beider Varianten der Schaffung warengesellschaftlichen Reichtums. Wer diesen Gedanken ernst nimmt, braucht indes neben dem Begriff des Werts einen zweiten, eigenständigen, der die erscheinende Oberfläche bezeichnet. Statt einen neuen zu erfinden, bietet es sich an, dafür den in der wertkritischen Debatte schon etablierten Begriff des „abstrakten Reichtums„ zu verwenden und diesen entsprechend nachzujustieren.13 Abstrakter Reichtum ist dann umfassender als Wertreichtum und wird zu einem anderen Ausdruck für alle Formen gültigen monetären Reichtums. Der vertraute Gegensatz abstrakter versus sinnlich-stofflicher Reichtum bleibt bei dieser Bedeutungskorrektur selbstverständlich erhalten.

7. Die veränderte Zusammensetzung des Warenkosmos

Zu der systematischen Unterscheidung zwischen Wertreichtum und abstraktem Reichtum findet sich bei Marx keine Entsprechung. Zwar werden im dritten Band des Kapitals im Zusammenhang mit dem zinstragenden Kapital und dem Bodenpreis auf Wertantizipation beruhende Formen der Kapitalbildung behandelt, die kapitalistische Gesamtakkumulation setzt Marx aber mit der Wertverwertung in eins. Diese Vorgehensweise war insofern berechtigt, als im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts, den Marx vor Augen hatte, die Wertverwertung tatsächlich den Akkumulationsprozess trug und die Bewegung des fiktiven Kapitals lediglich für den Verlauf der Konjunkturzyklen Bedeutung hatte. Dass der Kapitalismus in ein Stadium treten könnte, in dem die Wertantizipation die Wertverwertung als eigentlicher Motor der Gesamtakkumulation ablöst, lag außerhalb Marxens Vorstellungsvermögen. Genau diese hochgradig prekäre Art von inversem Kapitalismus, in dem der Finanzüberbau zur Basisindustrie des Gesamtsystems mutiert ist, hat sich mit der Entfesselung der Finanzmarktdynamik in den 1980er Jahren herausgebildet (Lohoff/ Trenkle 2012). Eine Kritik der politischen Ökonomie, die dem nicht Rechnung trägt und so tut, als ließe sich die Mehrung abstrakten Reichtums auf reale Arbeitsvernutzung zurückführen, degeneriert zur blanken Krisenleugnungsideologie.

Mit der Entwicklung des Kapitalismus verändert sich die Zusammensetzung des Warenkosmos. Dass Kutschen und mechanische Schreibmaschinen irgendwann verschwanden und neue Waren wie Autos und Smartphones die Bühne betraten, ist allgemein bekannt. Allerdings hat sich nicht herumgesprochen, dass sich die Gewichte der verschiedenen Warenklassen mit der Entwicklung der Produktivkräfte verschieben und dass dieser Prozess vor allem in den letzten 50 Jahren dramatische Formen angenommen hat. Gegenüber dem Stand der 1970er Jahre ist der Anteil von Waren, die sich auf die Verrichtung von Privatarbeit zurückführen lassen und denen deshalb Wertgegenständlichkeit zukommt, geradezu abgestürzt. Dass die Produkte der Finanzindustrie die zur Verrichtung von Privatarbeit eingesetzte Arbeitskraft als Basisware abgelöst haben, war bereits eine Folge des Bedeutungsverlustes dieses Warentyps. Mit dem Wechsel der Basisware und dem Übergang zum inversen Kapitalismus hat sich diese Entwicklung aber ungeheuer beschleunigt, und zwar nicht nur, weil das Gewicht der Kapitalmarktwaren enorm zugenommen hat, sondern auch in Hinblick auf die Zusammensetzung der sogenannten Realwirtschaft. Ein immer größerer Teil der Unternehmensgewinne beruht demnach nicht mehr auf Mehrwertabpressung, sondern auf Informations- und Naturrenten. Die Rentifizierung der Realwirtschaft und die explosionsartige Vermehrung fiktiven Kapitals in den letzten Jahrzehnten waren zwei Seiten einer Medaille. Renten haben für die Mehrung des abstrakten Reichtums gesamtkapitalistisch betrachtet im inversen Kapitalismus nämlich eine grundlegend andere Bedeutung als im klassischen. Solange allein die Wertverwertung den Akkumulationsprozess trägt, stellen Informations- und Naturrenten nur eine Umverteilung von abstraktem Reichtum dar. Als „faux frais” (Marx) begrenzen sie den Akkumulationsprozess. Im von der Expansionsdynamik der Finanzindustrie getragenen Kapitalismus sieht die Sache anders aus. Die Bildung von fiktivem Kapital ist immer an letztlich „realwirtschaftliche” Gewinnerwartungen geknüpft, es ist aber unerheblich, ob es sich dabei um die Profite produktiver Unternehmen handelt oder um die Aussicht auf steigende Bodenpreise oder erwartete Informationsrenten.

8. Was noch aussteht

Die gängigen Marxismen haben dem Warencharakter des kapitalistischen Reichtums wenig Aufmerksamkeit gewidmet und die im ersten Kapitel des Kapitals analysierte Ware fälschlicherweise als Oberflächenphänomen abgetan. Stattdessen war es seit jeher Usus, so schnell wie möglich beim vermeintlich allein Entscheidenden anzugelangen, nämlich beim Kapital. Erst dort soll nach der gängigen Lesart der Zugang zum Wesenskern der herrschenden Produktionsweise zu finden sein. Obwohl die Neue Marx-Lektüre das erste Kapitel des Kapitals und die dort entwickelte Wertformanalyse ins Zentrum ihrer Rezeption der Kritik der politischen Ökonomie rückte, hat sie diese Verkehrung mit einer abgeleiteten Kategorie zum Wesenskern auf ihre Weise reproduziert. Statt den Zusammenhang von Privatarbeit und Ware im Sinne des ersten Kapitels und der Wertsubstanz auszuleuchten, verrannten sich deren Vertreter nämlich in ein Scheinproblem und versuchten die vermeintlich prämonetäre Werttheorie durch eine monetäre zu ersetzen. Wie Karl-Heinz Lewed (Lewed 2016, S.31f. ) anhand der Arbeiten von Hans-Georg Backhaus dargelegt hat, bedeutet das aber nichts anderes, als Marx ausgerechnet daraus einen Strick drehen zu wollen, dass er konsequent zwischen der Wertform und der aus deren inneren Widersprüchen entspringenden und deshalb abgeleiteten Geldform unterscheidet.

Seit ihren Anfängen folgte die Krisis-Gruppe einer anderen Orientierung und ging auf Distanz zur stiefmütterlichen Behandlung der Warenkategorie im traditionellen Marxismus. Statt wie in den linken Debatten üblich immer nur von Kapitalismus zu reden, bezeichneten wir die herrschende Produktions- und Lebensweise gerne als Warengesellschaft und auch die Zeitschrift Krisis erschien seit 1992 mit dem Untertitel Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft. Die Wahl dieses Labels sollte verdeutlichen, dass, kategorial betrachtet, bereits die Warenform des gesellschaftlichen Reichtums und nicht erst das Kapital das entscheidende Merkmal der herrschenden Produktions- und Lebensweise sei.

Angesichts dieser Ausrichtung liegt es in der Falllinie des theoretischen Ansatzes, ein Verständnis der Kritik der politischen Ökonomie zu entwickeln, das den Begriff Warengesellschaft mit Inhalt füllt und die Kategorie der Ware konsequent ausbuchstabiert. Eine solche Reformulierung der Kritik der politischen Ökonomie muss vor allem zweierlei leisten. Zum einen gilt es auch jene Warentypen mit in den Blick zu nehmen, von denen Marx im ersten Kapitel des Kapitals abstrahiert, ohne die sich aber gerade der Kapitalismus unserer Tage nicht verstehen lässt. Eine Rezeption der Marx´schen Kritik der politischen Ökonomie, die mit dem ersten Band endet, taugt nicht zur Analyse der Bewegungsgesetze des heutigen Kapitalismus. Zum anderen gilt es, den Zusammenhang von Wertkonstitution, Wertsubstanz und Privatarbeit noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, und zwar unter arbeitskritischem Vorzeichen. Mit der Behauptung, die Marx’sche Darstellung im ersten Kapitel des Kapitals weise nicht unerhebliche Mängel auf, haben die Vertreter und Vertreterinnen der Neuen Marx-Lektüre nämlich durchaus Recht. Allerdings verorten sie das Grundproblem falsch. Schuld an diversen Ungereimtheiten ist nicht der prämonetäre Charakter seiner Werttheorie, sondern dass er in seinem Hauptwerk mit einem überhistorischen Arbeitsbegriff operiert.

Was das erstgenannte Aufgabenfeld angeht, so liegen zu den meisten wichtigen abgeleiteten Warentypen Einzelstudien vor.14 Es bleibt freilich noch die Aufgabe, den logischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Warentypen systematisch zu entwickeln und zu einer Gesamtdarstellung zusammenzufügen. Eine Analyse der Privatarbeitsprodukte, die den kategorialen Implikationen der Arbeitskritik konsequent Rechnung trägt, fehlt dagegen bis dato. Freilich lässt sich auch hier an Vorarbeiten anknüpfen. Dazu gehört insbesondere Moishe Postones Konzept der Arbeit als der Instanz, die im Kapitalismus die gesellschaftliche Vermittlung übernimmt. Allerdings bleibt in seinem Buch Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft (Postone 2003) ungeklärt, was das für das Verhältnis der Kategorien Arbeit, Privatarbeit, Arbeitssubstanz und Arbeitskraft bedeutet und wie diese aufeinander zu beziehen sind. Die Kritik der politischen Ökonomie auf die Höhe der Zeit heben kann nur heißen, sie von den arbeitsideologischen Schlacken zu befreien, die ihr im Marx´schen Kapital noch anhaften. Eine konsequente Kritik der kapitalistischen Reichtumsform der Ware und eine Kritik der kapitalistischen Tätigkeitsform der Arbeit sind zwei Seiten einer Medaille.

Literatur:

Kurz, Robert (2012): Geld ohne Wert, Berlin 2012

Kurz, Robert (1986): Die Krise des Tauschwerts in: Marxistische Kritik 1, S. 7-48

Lewed, Karl-Heinz (2016): Rekonstruktion oder Dekonstruktion. krisis. Kritik der Warengesellschaft 3/2016, Berlin: epubli 2024. URL: https://www.krisis.org/2016/rekonstruktion-oder-dekonstruktion-krisis-32016/

Lohoff, Ernst (2002): Die Ware im Zeitalter ihrer arbeitslosen Reproduzierbarkeit, in: Streifzüge 2002-3. URL: https://www.krisis.org/2002/die-ware-im-zeitalter-ihrer-arbeitslosen-reproduzierbarkeit/

Lohoff, Ernst (2006): Der Wert des Wissens, in Krisis 31, Münster 2006, S.13-51. URL: https://www.krisis.org/2007/der-wert-des-wissens/

Lohoff, Ernst / Trenkle, Norbert (2012): Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind. Münster 2012

Lohoff, Ernst (2014): Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation. krisis. Kritik der Warengesellschaft 1/2014, Berlin: epubli 2014. URL: https://www.krisis.org/2014/kapitalakkumulation-ohne-wertakkumulation/

Lohoff, Ernst (2018): Die allgemeine Ware und ihre Mysterien Zur Bedeutung des Geldes in der Kritik der Politischen Ökonomie, in: krisis. Kritik der Warengesellschaft 2/2018, Berlin: epubli 2018. URL: https://www.krisis.org/2018/krisis218/

Lohoff, Ernst (2020): Warum das Wohnen unbezahlbar wird und was dagegen zu tun ist. krisis. Kritik der Warengesellschaft 1/2020, Berlin: epubli 2020. URL: https://www.krisis.org/2020/warum-das-wohnen-unbezahlbar-wird-und-was-dagegen-zu-tun-ist-krisis-12020/

Lohoff, Ernst (2024): Jenseits des Homo Faber oder die Rückgewinnung der Lebenszeit. krisis. Kritik der Warengesellschaft 4/2024, Berlin: epubli 2024. (erscheint im Oktober 2024)

MEW 23 = Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, Marx Engels Werke Band 23, Berlin 1983

MEW 25 = Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 3, Berlin 1988

MEW 29 = Marx, Karl: Briefe Januar 1856 – Dezember 1859, Berlin 1978

MEW 42 = Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1983

Postone, Moishe: Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg 2003

Anmerkungen

1 Auch Robert Kurz übernimmt in seinem Buch „Geld ohne Wert” (Kurz 2012) explizit diese irreführende Deutung des Marx’schen Warenkonzepts, allerdings um Marx zu kritisieren. Nur weil er Marx fälschlicherweise vorwirft, er sei von der empirischen Einzelware ausgegangen, kann er ihm „methodologischen Individualismus” attestieren.

2 Die Warendefinition der VWL ist äußerst eng. Als Ware gilt ausschließlich eine „bewegliche Sache, die Gegenstand des Handelsverkehrs ist” (https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/ware-50827). Alle „immateriellen Produkte”, ob Transportleistungen oder die Haarpflege im Friseursalon, fallen aus dem Warenbegriff heraus und firmieren stattdessen als ein Extraphänomen namens Dienstleistungen. Die Arbeitskraft ist keine Sache, ergo ist sie für den Ökonomenverstand ebenfalls keine Ware, sondern zur Arbeit mystifiziert ein „Produktionsfaktor„, Immobilien lassen sich zwar als Sache betrachten, sie sind aber nomen est omen unbeweglich und deshalb für die VWL auch keine Waren. Darüber, ob gegen Geld veräußerte Elektrizität als Ware gelten kann, gehen die Meinungen auseinander. Hinter diesem Definitionszauber steckt natürlich eine Logik. Weil die bürgerliche Ökonomie den kapitalistischen Reichtum mit Gebrauchswertreichtum in eins setzt, die Warenform sich aber über disparate „Gegenstände” legt, kann sie unter Verweis auf die sinnlich-stofflichen Unterschiede im Zirkelschluss die Existenz einer einheitlichen kapitalistischen Reichtumsform wegretuschieren. Der Warenbegriff wird für einen kleinen Ausschnitt der Warenwelt reserviert und damit verschwindet ein die verschiedenen Märkte übergreifender Sammelbegriff überhaupt. Worüber man aber mangels Wort nicht sprechen kann, darüber muss man – frei nach Wittgenstein – schweigen. Die Rechtswissenschaften haben die Aufgabe, die kapitalistische Beziehungsform in Paragraphen zu gießen. Dementsprechend ist die Juristerei gezwungen, der Existenz einer einheitlichen kapitalistischen Reichtumsform Rechnung zu tragen. Zu diesem Zweck hat sie sich den Neologismus des „Kaufgegenstands” erdacht. Kaufgegenstände können bewegliche oder unbewegliche Sachen, Rechte (z.B. Forderungen) oder andere vermögenswerte Objekte sein. Die Bedeutung deckt sich im Wesentlichen mit dem Marx´schen Warenbegriff aus dem dritten Band.

3 Diese Darstellungsweise ist nicht vorbildlos. In einem 1858 entstandenen, an Engels gerichteten Brief legte Marx offen, woran er sich beim Aufbau seiner Kritik der politischen Ökonomie orientierte: „In der Methode des Bearbeitens hat es mir großen Dienst geleistet, daß ich … Hegels ´Logik` wieder durchgeblättert hatte. Wenn je wieder Zeit für solche Arbeiten kommt, hätte ich große Lust, in 2 oder 3 Druckbogen das Rationelle an der Methode, die H[egel] entdeckt, aber zugleich mystifiziert hat, dem gemeinen Menschenverstand zugänglich zu machen.” (MEW 29, S. 260.) Dummerweise ist Marx nie Lebenszeit für die Umsetzung dieses Plans geblieben und so müssen wir Nachgeborenen extrapolieren, wo die Gemeinsamkeiten, aber auch der fundamentale Unterschied zwischen der Marx´schen und der Hegel’schen Vorgehensweise besteht.

4 Ich verwende in diesem Text abwechselnd die weibliche und männliche Form.

5 Vorkapitalistische Gesellschaften kennen keine universelle Tätigkeitsform. Vgl. ausführlich dazu meinen Text Jenseits des Homo Faber oder die Rückgewinnung der Lebenszeit (Lohoff 2024).

6 MEW 25, S.113 f.

7 Eine ausführliche Darstellung findet sich in dem Text Der Wert des Wissens (Lohoff 2007). Allerdings hat dieser Text, der am Anfang meiner Auseinandersetzung mit dem Problem der devianten oder abgeleiteten Waren stand, einen gravierenden Schönheitsfehler. Er sitzt selber noch dem gängigen Missverständnis auf, bei der Bestimmung der Ware als Produkt von Privatarbeit handele es sich um ein allgemeines, allen Waren zukommendes Merkmal und nur Wissensgüter sowie Grund und Boden würden durch dieses Raster fallen. Daraus zieht der Text die Konsequenz, für beliebig reproduzierbare, von kapitalistischen Unternehmen hergestellte Wissensprodukte einen eigenen Terminus einzuführen. Sie werden dort statt als Waren als privatisierte Universalgüter bezeichnet. Das verkompliziert die Argumentation unnötig.

8 Übersinnlich, also rein gesellschaftlich ist auch schon der Gebrauchswert der Ware Arbeitskraft, Wert und Mehrwert hervorzubringen.

9 Vgl. ausführlicher zu diesem Begriff meinen Text Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation (Lohoff 2014) sowie zum Wesen des Geldes den Text Die allgemeine Ware und ihre Mysterien (Lohoff 2018).

10 Fiktives Kapital verschwindet, wenn ein Kredit getilgt wird, aber auch beim Rückkauf von Aktien durch das Unternehmen, das diese emittiert hatte.

11 Der Begriff fällt bereits in dem in der ersten Nummer der Zeitschrift Marxistische Kritik (ab Nummer 8/9 Krisis) erschienenen Aufsatz von Robert Kurz Die Krise des Tauschwerts (Kurz 1986).

12 In der gängigen Fassung des ersten Bandes des Kapitals ist nur an einer Stelle von abstraktem Reichtum die Rede, nämlich im Zusammenhang mit der Verwandlung von Geld in Kapital: „Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos. Als bewußter Träger dieser Bewegung wird der Geldbesitzer Kapitalist. Seine Person, oder vielmehr seine Tasche, ist der Ausgangspunkt und der Rückkehrpunkt des Geldes. Der objektive Inhalt jener Zirkulation – die Verwertung des Werts – ist sein subjektiver Zweck und nur soweit wachsende Aneignung des abstrakten Reichtums das allein treibende Motiv seiner Operationen, funktioniert er als Kapitalist oder personifiziertes, mit Willen und Bewußtsein begabtes Kapital. Der Gebrauchswert ist also nie als unmittelbarer Zweck des Kapitalisten zu behandeln. Auch nicht der einzelne Gewinn, sondern nur die rastlose Bewegung des Gewinnens” (MEW 23, S.167 f.; Hervorheb. E.L.). An dieser Stelle deckt sich die Begriffsbedeutung insofern weitgehend mit dem wertkritischen Sprachgebrauch, als die Bewegung des Kapitals insgesamt als die Bewegung abstrakten Reichtums gefasst wird: Wenn es um die Bewegung des Gewinnens geht, dann stellen auch die Durchgangsstationen des Kapitalkreislaufes, also Produktionsmittel und produzierte Waren, für den Kapitalisten abstrakten Reichtum dar und keineswegs nur der geldförmige Ausgangs- und Endpunkt.

13 Die VWL kennt nur die erscheinende Oberfläche und operiert dementsprechend mit Birnen-und-Äpfel-Begriffen wie dem Bruttoinlandsprodukt, das die „Wertschöpfung” des Finanzsektors und des industriellen Sektors unterschiedslos zu ein und demselben Brei verrührt. Die klassische marxistische Argumentation kann demgegenüber nur darauf insistieren, dass tatsächliche Wertschöpfung die produktive Verausgabung lebendiger Arbeit voraussetzt. Der wertkritische Ansatz steht hingegen vor einer Doppelaufgabe. Er muss zum einen darlegen, warum Kapitalbildung durch Wertantizipation nicht das Gleiche ist wie Wertproduktion, und erklären, warum beide Formen auf der Oberfläche des kapitalistischen Gesamtprozesses als das Gleiche erscheinen.

14 Dazu zählen Die Ware im Zeitalter ihrer arbeitslosen Reproduzierbarkeit (Lohoff 2002), der Aufsatz Der Wert des Wissens (Lohoff 2004), der sich mit der politischen Ökonomie der Wissensgüter beschäftigt, der krisis-Beitrag 1/2014 Kapitalakkumulation ohne Wertakkumulation (Lohoff 2014), der die Bewegungsgesetze der Ware Geldkapital behandelt, der daran anknüpfende Aufsatz Die allgemeine Ware und ihre Mysterien (Lohoff 2018) sowie Warum das Wohnen unbezahlbar wird und was dagegen zu tun ist (Lohoff 2020), der die Ware Grund und Boden in den Blick nimmt. Eine allgemeine Analyse der Verwandlung von Naturressourcen in Waren steht noch aus.