Von Minh Schredle
Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/44 vom 31.10.2024
Wirtschaftsverbände und die Bundesregierung sind sich einig: Die Zahl der Krankheitstage muss reduziert werden. Doch viel spricht dafür, dass es den Beschäftigten tatsächlich immer schlechter geht
– und sie sich oft sogar krank zur Arbeit schleppen.
Die Deutschen feiern zu viel krank – diese Behauptung hört man seit einigen Monaten immer häufiger. Zum Beispiel vergangene Woche beim »Arbeitgebertag 2024«, der jährlichen Konferenz der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). »Die Krankheitstage sind zu viel«, sagte dort Christian Dürr, der FDP-Fraktionsvorsitzende im Bundestag. Er forderte deshalb: Weg mit der telefonischen Krankschreibung »und hin zu mehr Eigenverantwortung«.
Was der Zwang dazu, sich zukünftig wieder mit Fieber oder Durchfall in eine Arztpraxis zu schleppen, mit »Eigenverantwortung« zu tun hat, blieb Dürrs Geheimnis. Er wiederholte nur, was seit einiger Zeit immer mehr Unternehmer beklagen. Ola Källenius, der Vorstandsvorsitzende von Mercedes-Benz, schlug Mitte Oktober Alarm. »Der hohe Krankenstand in Deutschland ist ein Problem für die Unternehmen«, sagte er dem Spiegel. In seinem Unternehmen fehlten in Deutschland teils doppelt so viele Beschäftigte wie im europäischen Ausland, behauptete Källenius und warnte vor negativen Folgen für den Wirtschaftsstandort.
Kurz zuvor hatte der Allianz-Vorstandsvorsitzende Oliver Bäte in eine ähnliche Kerbe geschlagen. In einem Gastbeitrag für das Handelsblatt meint er, »wir« müssten »dringend wieder ein Verständnis dafür herstellen, dass unser Wohlstand auch etwas mit dem Willen zu tun hat, sich für den Erhalt dieses Wohlstands anzustrengen«. Hinderlich sei da ein »chronisch erhöhter Krankenstand«, ohne den die deutsche Wirtschaft Bäte zufolge »im vergangenen Jahr nicht um 0,3 Prozent geschrumpft, sondern um knapp 0,5 Prozent gewachsen« wäre. In Deutschland lägen die Krankmeldungen »weit über dem Niveau von Ländern wie den USA, Kanada oder der Schweiz«.
Bäte und Källenius suggerieren, die Neigung, sich krankschreiben zu lassen, sei in Deutschland besonders ausgeprägt. Die Zahlen des Statistischen Amts der Europäischen Union widersprechen dem: Unter den 27 Mitgliedstaaten war der Prozentsatz von Beschäftigten, die im zweiten Quartal 2024 mindestens einmal gefehlt haben, in Norwegen, Finnland, Schweden am höchsten, Deutschland folgt auf Platz 10 mit einem nur leicht überdurchschnittlichen Wert.
Zunahme der Krankheitstage
Allerdings stimmt es tatsächlich, dass die Statistik in den vergangenen Jahren eine deutliche Zunahme der Krankheitstage in der Bundesrepublik zeigt. Dem Statistischen Bundesamt zufolge waren deutsche Angestellte 2023 durchschnittlich 15,1 Tage krankgeschrieben, gut vier Tage mehr als 2019. Dieses Jahr werden es wohl noch mehr. Der Bundesverband der AOK geht davon aus, dass die Zahl der Krankschreibungen in diesem Jahr auf einen Rekord zusteuere, sie soll demnach sogar höher ausfallen als in den intensivsten Phasen der Covid-19-Pandemie.
Bereits im vergangenen Jahr beklagte das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft, dass Unternehmen immer mehr Kosten durch krankheitsbedingten Arbeitsausfall entstehen würden. Das Institut präsentierte deshalb einen Vorschlag: Die Möglichkeiten der Krankschreibung ohne direkten persönlichen Kontakt mit einem Arzt sollte wieder stärker eingeschränkt werden.
Seit dem Beginn der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 kann man telefonisch bei einem Arzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einholen. Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will das wieder rückgängig machen. Er sagte im September auf einer Veranstaltung des Verbands der Chemischen Industrie (VCI), es gebe »eine Korrelation zwischen dem jährlichen Krankenstand in Deutschland und der Einführung der Maßnahme, die als guter Bürokratieabbau gedacht war«. Anscheinend ist Lindner die elementare Regel für den Umgang mit Statistiken nicht bekannt, dass man Korrelation nicht mit Kausalität verwechseln darf; tatsächlich aber stieg der Krankenstand 2020 und 2021 so gut wie nicht, sondern erst im folgenden Jahr – er korreliert also vielmehr mit der Aufhebung der Pandemiemaßnahmen. Ganz als wäre es schon beschlossene Sache, kündigte Lindner an: »Man wird für die Krankmeldung zukünftig wieder zum Arzt gehen müssen und das nicht einfach nur telefonisch erledigen können.«
Telefonische Krankschreibung »überprüfen«
In der Tat formulierte die Bundesregierung bereits im Juli in einem Papier zu ihrer sogenannten Wachstumsinitiative: »In den vergangenen Jahren blieb ein immenses Potenzial des Arbeitsmarktes auch aufgrund des erhöhten Krankenstandes der Arbeitnehmenden ungenutzt.« Als einzige Maßnahme wurde in dem Papier genannt, die telefonische Krankschreibung zu »überprüfen«.
Diese hat in der Koalition allerdings auch Befürworter, darunter den Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Ihm zufolge helfe das Attest per Telefon nicht nur, das Infektionsgeschehen in überfüllten Praxen zu verringern, sondern sei auch eine »wesentliche Entlastung für Arbeitnehmer, Arbeitgeber und Ärzte«.
Im April 2023 war die Möglichkeit zur telefonischen Krankschreibung schon einmal abgeschafft worden. Nach anhaltenden Protesten insbesondere des Hausärztinnen- und Hausärzteverbands (HÄV) wurde sie aber im Dezember 2023 wiedereingeführt. Dem HÄV-Vorsitzenden Markus Beier zufolge handelt es sich um »eine der wenigen politischen Maßnahmen«, die »aktuell wirklich Bürokratie reduziert« und die Patienten und Praxen entlaste.
Akzeptanz fürs Blaumachen
Beier lieferte zudem eine alternative Erklärung der Rekordzahlen. Erst seit Juli 2022 sind Ärzte verpflichtet, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom Arzt digital an die Krankenkasse zu übergeben. Vorher war dafür der Arbeitgeber verantwortlich, und weil viele Betriebe das nicht machten, habe man die Gesamtzahl der Krankmeldungen nur schätzen können. Beier zufolge lässt sich so ein großer Teil der gestiegenen Zahlen erklären.
Andere wollen eher den Arbeitnehmerinnen die Schuld geben. Die Kassen müssten bei ihren Schätzungen – mit denen sie die fehlenden Meldungen der Betriebe kompensierten – »schon sehr danebengelegen haben, um die große Zunahme an Krankschreibungen zu erklären«, wandte kürzlich die Zeit gegen Beiers Position ein und führt eine repräsentative Befragung an, nach der es fast 40 Prozent der Erwerbstätigen hierzulande es in Ordnung finden, »mal krankzumachen, auch wenn man eigentlich arbeiten könnte«. Die Zeit kommentiert: »Das passt zu vielem, was in diesem Land gerade schiefläuft. Zur miesen Stimmung. Dem mauen Wachstum.«
Die Umfrage stammt vom Pinktum Institute und wurde im Juni veröffentlicht. Damals hatte der Befund zum Verständnis fürs Blaumachen viel mediale Resonanz erfahren, doch andere Ergebnisse fanden weniger Beachtung. Kurios ist beispielsweise, dass die Akzeptanz fürs Blaumachen verbreiteter ist als die Praxis: 38,5 Prozent äußerten Verständnis dafür, während nur 34,1 Prozent angaben, es selbst schon mal gemacht zu haben (wobei noch keine Regelmäßigkeit zu unterstellen ist). Überproportional häufig kommt das Blaumachen bei Männern (46 Prozent) und Führungskräften (50 Prozent) vor, während Frauen (30 Prozent) und Nichtführungskräfte (27 Prozent) seltener fehlen, aber der Umfrage zufolge im Schnitt deutlich erschöpfter sind. Wenn also jemand wie der Allianz-Vorstandsvorsitzende Bäte postuliert, dass es dringend mehr Fleiß brauche, sollte sich das wohl vor allem an Vorgesetzte richten.
Psychische Erkrankungen haben stark zugenommen
Vor allem aber verdeutlicht die Pinktum-Befragung, dass die Beschäftigten in Deutschland keineswegs fauler werden, sondern dass es ihnen schlichtweg immer schlechter geht. Die Befragung zeige einmal mehr, »wie sich die Batterien der Menschen weiter leeren und wie sich die bereits kritische Situation weiter zuspitzt«, heißt es in der Studie. Fast die Hälfte der Beschäftigten (48,8 Prozent) fühle sich »generell erschöpft«. Frauen seien deutlich erschöpfter als Männer »und Menschen ohne Führungsverantwortung fühlen sich ausgelaugter als Führungskräfte«.
Auffallend stark zugenommen haben demnach psychische Erkrankungen, die inzwischen den zweithäufigsten Grund nach Atemwegserkrankungen darstellen, warum Menschen der Arbeit fernbleiben. »55 Prozent der Befragten haben weniger Kraft als noch vor drei Jahren«, damit reduziere »sich der Krafthaushalt weiter und eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes in der Bevölkerung ist naheliegend«.
Von düsteren Zukunftsaussichten gehen auch viele Befragte aus: Jeder Vierte »glaubt, dass es wenig Unterschied macht, ob er bei der Arbeit ist oder nicht«, und »28 Prozent fragen sich, warum sie überhaupt noch zur Arbeit gehen, wenn doch sowieso alles bergab geht«. Dennoch ist es sehr weit verbreitet, sich trotz Krankheit zur Arbeit zu schleppen. 59 Prozent sagen, »oft auch dann zur Arbeit zu gehen, wenn sie eigentlich krank zu Hause bleiben sollten«.
Besonders verbreitet ist dieses Verhalten in der Branche mit dem anteilig höchsten Krankenstand: dem Gesundheitswesen – vermutlich weil kaum jemand die überarbeiteten Kolleg:innen im Stich lassen will. Ein Drittel gibt zudem an, aus Angst vor dem Chef krank zur Arbeit zu kommen.
Das Pinktum Institute rät an erster Stelle zu einem unterstützenden Umfeld, »in dem sich kranke Menschen ohne schlechtes Gewissen krankmelden können und keine Angst vor beruflichen Konsequenzen haben müssen«. Die Äußerungen der Manager wie Källenius und Bäte machen deutlich, dass sich die Unternehmen offenbar das Gegenteil wünschen: eingeschüchterte Angestellte, die sich auch krank zur Arbeit schleppen, um das Pensum zu erfüllen.