Von Peter Samol
Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/37 vom 12.09.2024
Seit einiger Zeit wird wieder mit Vehemenz der Sozialstaat attackiert und gegen diejenigen gehetzt, die auf ihn angewiesen sind. Die dabei vorgebrachten Argumente erweisen sich jedoch als unhaltbar.
Es wird eine Nullrunde geben – das kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) am Mittwoch vergangener Woche für das Bürgergeld im Jahr 2025. Er begründet das damit, dass die Inflation niedriger ausfällt als erwartet; im August lag sie bei 1,9 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat und damit auf einem Dreijahrestief.
Aus dem Rechtsmechanismus, der dem Bürgergeld zugrunde liegt, folge daher, dass es zum 1. Januar 2025 keine Erhöhung geben werde. Das Bürgergeld solle, so Heil, das Existenzminimum sichern, »nicht mehr, aber auch nicht weniger«. Darüber hinaus kündigte er eine Verschärfung der Sanktionen bei mangelnder Mitwirkung an. Sie soll dem missbräuchlichen Bezug von Bürgergeld, sogenanntem Sozialmissbrauch, entgegenwirken.
Zuletzt wurde das Bürgergeld zu Beginn des laufenden Jahres erhöht. Seinerzeit stieg der Regelsatz für Einzelpersonen um zwölf Prozent oder 61 Euro auf 563 Euro im Monat. Die Unionsparteien und die FDP kritisierten das scharf mit dem Argument, so hohe Zahlungen machten es unattraktiv, Arbeit aufzunehmen, und veranlassten sogar Beschäftigte dazu, bestehende Arbeitsverhältnisse zu kündigen.
Diese Behauptungen sind zwar empirisch vollkommen ungedeckt, entsprechen aber einer allgemeinen Stimmung in den sozialpolitischen Debatten, in denen komplexe Sachverhalte unzulässig verkürzt oder sogar falsch dargestellt werden. Aber das spielt keine Rolle, solange man nur den Sozialstaat schlechtreden, die Inanspruchnahme seiner Angebote skandalisieren und die Leistungsbezieher stigmatisieren kann. Um dieser Tendenz entgegenzuwirken, hat die Hans-Böckler-Stiftung im Juli eine Blogserie gestartet, in der einzelne Aspekte des Themas Sozialstaat genau unter die Lupe genommen und sachlich darstellt werden. Dabei stellen sich die Angriffe als unbegründet und sachlich falsch heraus.
Jennifer Eckhardt widmet sich der These, dass seit Einführung des Bürgergelds im Januar 2023 ein angeblich massenhafter Sozialleistungsmissbrauch eingesetzt habe, bis hin zum bereits erwähnten Vorwurf, sich auf den Leistungen auszuruhen oder sogar bestehende Arbeitsverhältnisse zu beenden. Faktisch betreffen diese Vorwürfe nur eine verschwindend kleine Minderheit. Eckhardt führt weiter aus: In den Angriffen werde immer wieder auf die angebliche Eigenverantwortung der Menschen hingewiesen und schlicht behauptet, dass individuelle Notlagen praktisch immer durch eine ausreichende Eigeninitiative vermieden werden könnten. Dieser Haltung liegt eine Ideologie zugrunde, wonach jeder Mensch jedes Problem ganz allein lösen kann und muss. Dabei ist das Angewiesensein auf andere etwas sehr menschliches, vor allem ganz am Anfang und ganz am Ende des Lebens. Aber auch zwischendurch kann man in Situationen geraten, in denen man auf Hilfe angewiesen ist – unter Umständen sogar dauerhaft.
Die Leugnung dieses Umstands soll laut Eckhardt die erfolgreichere Mehrheit offenbar von der Last befreien, sich um Bedürftige kümmern zu müssen, und darüber hinaus die Angst verdrängen helfen, dass man jederzeit selbst in Not geraten könnte. Beides kann demnach schließlich hinderlich dabei sein, sich mit aller Kraft ins allgemeine Konkurrenzgetümmel zu stürzen. Auf diese Weise werde die gesellschaftliche Unterstützung für die sozialen Sicherungssysteme geschwächt und die Inanspruchnahme ihrer Leistungen stigmatisiert. Eckhardt betont, dass schon heute viele Menschen diese gar nicht in Anspruch nehmen würden, obwohl sie ihnen eigentlich zustünden.
Zwar schwankt laut Eckhardt die statistische Bezifferung der Größe dieser Gruppe je nach Untersuchung erheblich, sie liegt aber stets deutlich über der Missbrauchsquote, die aller Stimmungsmache zum Trotz tatsächlich gerade mal bei etwa vier Prozent liegt. Schätzungsweise 60 Prozent der anspruchsberechtigten Haushalte nehmen hingegen die Grundsicherung im Alter nicht in Anspruch; beim Bürgergeld liegen die Schätzungen bei über einem Drittel Nichtnutzung und beim „Bildungs- und Teilhabepaket“ für Kinder lag die Nichtinanspruchnahme sogar bei 85 Prozent. Das wird in den Debatten freilich unterschlagen.
Ihrem eigenen Selbstverständnis nach funktionieren kapitalistische Gesellschaften dann am besten, wenn sich jede:r nur um sich selbst kümmert und alle Beziehungen sich auf Arbeit und Konsum beschränken. Was dabei unter den Tisch fällt, ist die Tatsache, dass diese Gesellschaft ohne massenhafte unbezahlte Sorgetätigkeit, wie sie vor allem von Frauen ausgeübt wird, gar nicht funktionieren würde. Das führt dazu, dass Frauen relativ häufiger nur in Teilzeit arbeiten können. Dem widmen sich Eileen Peters und Yvonne Lott in ihrem Beitrag.
Um dem allgemeinen Fachkräftemangel abzuhelfen, fordern die Arbeitgeber eine Ausweitung der Erwerbsarbeitszeiten. In diesem Sinne arbeitet die Bundesregierung gerade an der sogenannten Wachstumsinitiative, die alle Beschäftigten zur Mehrarbeit über den Achtstundentag hinaus sowie zur Umwandlung von Teilzeit- in Vollzeitstellen veranlassen soll. Peters und Lott schreiben, dass vor allem Frauen als Problem gelten, da sie sehr häufig in Teilzeit arbeiten würden. In der Tat befinden sich 67 Prozent aller Mütter auf einer Teilzeitstelle, aber nur neun Prozent der Väter. Die Zahlen berücksichtigen aber nicht die Doppelbelastung durch Beruf und Familie, die vor allem Frauen tragen. Frauen verbringen laut den beiden Autorinnen circa acht Stunden pro Woche mehr mit Sorgetätigkeiten und arbeiten dadurch sogar im Durchschnitt eine Stunde pro Woche länger als Männer.
Diese Diskrepanz beruht auf überkommenen Geschlechtsstereotypen, denen zufolge Frauen besser zur Einfühlsamkeit und Rücksichtnahme befähigt wären, während Männer angeblich eher zielorientiert und durchsetzungsstark seien. Daraus resultiert dann, dass Frauen sich besser als Mütter eignen, während Männer die Rolle des Familienernährers einnehmen sollen. Sorgetätigkeiten werden noch immer abgewertet oder gar nicht erst wahrgenommen. Das zeigt sich etwa daran, dass bessere Arbeitsbedingungen und höhere Bezahlung von Kita-Personal in der Wachstumsinitiative nicht vorgesehen sind. Das wäre aber das Mindeste, um Eltern den Rücken freizuhalten, wenn sie denn schon mehr arbeiten sollen. Was es braucht, ist eine Debatte um die zentrale Rolle der Sorgetätigkeiten statt der pauschalen Forderung nach „mehr Bock auf Arbeit”.
Auch der eingangs erwähnten Bürgergelderhöhung widmet sich die Blogserie. Für eine Einzelperson wurde das Bürgergeld Anfang 2023 um 53 Euro und Anfang 2024 noch einmal um 61 Euro im Monat erhöht. Gegner des Sozialstaats behaupten, dass der daraus resultierende Betrag von 563 Euro pro Monat zu teuer und für alle Arbeitenden ein Schlag ins Gesicht sei. Dass das Bürgergeld zu teuer ist, ist Unsinn. Denn die Grundsicherung für Arbeitssuchende machen laut Jutta von Schmitz-Kießler lediglich einen Anteil von 4,2 Prozent des gesamten Sozialbudgets aus. Einsparungen würden daher keine allzu großen Beträge freisetzen.
Ebenso falsch ist die Unterstellung, dass die Arbeit wegen der Höhe des Bürgergelds unattraktiv würde. Sachverständige haben wiederholt ausgerechnet, dass sich Arbeit im Vergleich zum reinen Grundsicherungsbezug immer auszahlt. Ganz abgesehen davon stellen Bürgergeldleistungen das soziokulturelle Existenzminimum dar und müssen ausreichende Ernährung, Kleidung, Wohnen und nicht zuletzt gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Welcher Abstand zu den Löhnen besteht, ist dabei grundsätzlich unerheblich. Sofern es Nettolöhne gibt, die knapp über oder gar unter dem Existenzminimum liegen, wären vielmehr diese Löhne zu skandalisieren, statt die Niedriglöhner gegen die Leistungsbezieher auszuspielen. Dadurch, dass man Menschen gegeneinander aufhetzt, wird man niemandem gerecht. Damit trägt man nur zur Stimmung der allgemeinen Feindseligkeit bei, die Gesellschaften instabiler macht und rechten Kräften in die Hände spielt.