26.06.2024 

Religionistische Identitätspolitik. Über den modernen Charakter des religiösen Fundamentalismus (Working Paper 4/2024)

von Julian Bierwirth

Working Paper Nr. 4, Mai 2024

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Zitation: Bierwirth, Julian: Religionistische Identitätspolitik. Über den modernen Charakter des religiösen Fundamentalismus. krisis-Working Paper 4, 2024. URL: https://www.krisis.org/2024/religionistische-identitaetspolitik/

Inhalt

1. Die kapitalistische Moderne als Neuerfindung des Religiösen
2. Moderne Glaubenssysteme als Sinnstiftungsangebot
3. Religionismus als modernes Phänomen
4. Religionismus als Identitätspolitik
5. Zionismus & Neo-orthodoxes Judentum im Kontext der kapitalistischen Modernisierung

Vorbemerkung

In Kontext der Gruppe Krisis wurde bereits mehrfach über die Bedeutung von Religion in der kapitalistischen Gesellschaft reflektiert. Insbesondere die Frage nach der Renaissance des religiösen Fundamentalismus stand dabei im Mittelpunkt. Ernst Lohoff hat hierfür den Begriff Religionismus geprägt. Bislang lag der Schwerpunkt auf einer Untersuchung des islamischen Religionismus. Aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der MENA-Region1 veröffentlichen wir in diesem Text nicht nur eine Zusammenfassung zentraler Gedanken, die viele Autor:innen aus unserem Kreis bislang verfolgt haben. Der Autor versucht zudem auch den jüdischen Religionismus der Gegenwart als Reaktion auf die kapitalistische Moderne zu verstehen. Damit soll keine abschließende Analyse vorgelegt, sondern lediglich die Richtung künftiger Analyseansätze skizziert werden.

1. Die kapitalistische Moderne als Neuerfindung des Religiösen

Die Durchsetzung einer kapitalistischen Weltgesellschaft hat einen einheitlichen Bezugsrahmen nicht nur für die ökonomischen Prozesse, sondern auch für kulturelle Sinnbezüge geschaffen.

Dieser Prozess wird oftmals als Säkularisierung interpretiert. Tatsächlich handelt es sich aber eher um eine Transformation der Religiosität. Diese drückt sich zum einen darin aus, dass überkommene Glaubenssysteme durch neue, quasi-religiöse Sinnbezüge ersetzt wurden (sog. Diesseitsreligionen). Zum anderen ist aber auch die Religion selbst nicht verschwunden, sondern hat sich lediglich in ihrem Charakter, ihren Begründungen und ihren Praktiken den modernen Denk- und Handlungsformen angenähert.

1.1
Der einheitliche Bezugsrahmen der kapitalistischen Moderne schlägt sich nicht in einer Angleichung sozialer Lebensverhältnisse nieder, sondern im Gegenteil in einer stetigen Verstärkung der sozialen Unterschiede. Diese ist mit einer dynamischen Ökonomie verbunden, die bislang liebgewonnene Selbstverständlichkeiten immer wieder bedroht und so ein allumfassendes Szenario der Angst schafft. Dabei gibt es nicht nur innerhalb einzelner kapitalistischer Gesellschaften enorme Unterschiede hinsichtlich des möglichen Zugriffs auf den gesellschaftlichen Reichtum, auch länderspezifisch gibt es innerhalb des globalen Kapitalismus extreme Differenzen. Dies alles wir auf individueller Ebene begleitet von diffusen Abstiegsängsten und Bedrohungsgefühlen im weltweit sich vollziehenden Krisenprozess.

1.2
Wenn wir zunächst die Durchsetzungsgeschichte des kapitalistischen Bezugsrahmens betrachten, so ist dieser Prozess mit der Etablierung einer Reihe neuer Denksysteme verbunden, die einen quasi-religiösen Charakter annehmen und das Denken relevanter Teile der Menschheit bestimmen. Das gilt für die Aufklärung (Glaube an die Wissenschaft als technisch-manipulativer Fortschrittsglaube) ebenso wie für den Nationalismus (Glaube an die Ewigkeit der Nation) und den Sozialismus (Glaube an das heilige Prinzip der Arbeit und an die Klasse als Einheit aller Arbeitenden). Über diese großen Diesseitsreligionen wurden neue Sinnbezüge geschaffen, die den Menschen Halt und Orientierung in einer sich ständig verändernden Welt gaben.

1.3
Zu Beginn der kapitalistischen Moderne lässt sich eine weitgehende Identität von Individuum und Religion konstatieren. Der einzelne Mensch ist an eine Religion gebunden; die Konversion zwischen Weltanschauungen ist zwar möglich, aber doch vergleichsweise selten. Durch den Aufstieg der Säkularreligionen geraten die traditionellen religiösen Praxen zunächst in die Defensive. Die Bedeutung der Religiösität im Leben vieler Menschen nimmt ab, auch wenn sie darauf nicht immer mit einer offenen Abkehr von ihren Glaubensgemeinschaften reagieren.

Im weiteren Verlauf der kapitalistischen Modernisierung werden Konversionen zwischen den Religionen dann immer üblicher. Im Zuge dieser Entwicklung hat die Religiösität immer weniger den Charakter einer naturhaften Wesenseigenschaft, sondern wird zunehmend als Ergebnis individueller Wahlentscheidungen begriffen. In den 1960ern gab es bereits einen Esoterik-Boom, bei dem die Sinnsuche sowohl individualisiert als auch flexibilisiert wurde. Nun begannen die Individuen, die eigene Identität nicht als religiös festgelegt zu verstehen, sondern ganz im Gegenteil die Religion als etwas zu begreifen, welche sie sich mit ihrem freien Willen selbst gesucht, zusammengesetzt und schließlich als ‚richtig‘ erkannt haben.

Dazu gehörte dann auch die stetige Veränderung und Verschiebung der Inhalte der individualisierten Glaubenssystem entsprechend der Ansprüche des Individuums. Diese Spezifik einer individualisierten Religiösität spielt bis heute eine große Rolle, wenn Menschen sich einer Religion erstmals (Konvertiten) oder erneut (Wiedererweckte) zuwenden. Das gilt umso mehr, als die Verwerfung der globalen kapitalistischen Dynamik das Bedürfnis nach Sicherheit und einem ,festen Boden unter den Füßen’ noch einmal verstärken.

2. Moderne Glaubenssysteme als Sinnstiftungsangebot

Die kapitalistische Weltgesellschaft ist ein hochdynamisches System, dass die Individuen körperlich und geistig in hohem Maße fordert. Die neuen Säkularreligionen transportieren ebenso wie die modernisierten metaphysischen Glaubenssysteme Angebote, die es den ‚vereinzelten Einzelnen‘ erleichtern, diesen Anforderungen überhaupt Stand zu halten.

2.1
Die konkrete ‚Funktion‘ kann je nach Glaubenssystem differieren. Der Fortschrittsglaube etwa ermöglicht die Vorstellung, dass bald alles gut wird (auch wenn es gerade nicht danach aussieht). Diese Funktion übt er derzeit vor allem in der klimapolitischen Debatte aus (in den Diskussion um CCS2 oder die CO2-Steuer).

Der Fortschrittsglaube transportiert die Idee, dass die Welt wie eine Maschine funktioniert und es dem Menschen daher möglich sei, durch geschicktes Naturmanagement die ökologischen Prozesse auf diesem Planeten zu regulieren. Wir werden gerade Zeugen davon, wie sich diese Vorstellung ein letztes Mal aufbäumt, während sie angesichts der sich zuspitzenden Klimakrise mehr und mehr an Glaubwürdigkeit verliert.

Aber auch die Strategie der Netanjahu-Regierung in Israel, die Kontrolle über Gaza und das Westjordanland mittels überlegener Militärtechnik zu erlangen, kann als säkularisierte Fortschrittsutopie dechiffriert werden. Überhaupt wird es wichtig sein zu beobachten, welche Verlaufsformen und Kapriolen die mit dem Fortschrittsglauben einhergehenden Entwicklungen vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklungen im Bereich der ‚Künstlichen Intelligenz‘ machen.

2.2
Der Glaube an die Nation ermöglicht die Vorstellung, dass die eigene Existenz ihre Bedeutung gar nicht aus dem eigenen Markterfolg zieht, sondern aus der Zugehörigkeit zur vorgestellten Gemeinschaft des Volkes. Gerade in Regionen, die trotz drohendem oder realem ökonomischem respektive politischem Abstieg noch über erhebliche Machtressourcen verfügen, erfreut sich diese Vorstellung nach wie vor großer Beliebtheit (USA, Deutschland, Russland). Sie schlägt sich in den Wahlerfolgen neuer, neoautoritärer Player nieder (Trump, AfD etc.). Diese Strömungen verbinden die Anrufung der Nation mit der Vorstellung, durch eine Stärkung der Nation auch die Lebensverhältnisse der vereinzelten Individuen zu verbessern.

2.3
Der Glaube an das heilige Prinzip der Arbeit ermöglicht es, die eigene Schufterei als Befriedigung eigener Bedürfnisse zu erleben. Die Vorstellung einer Gemeinschaft der Arbeitenden, die ‚Klasse‘, bietet zudem die Perspektive auf Erlösung: Sobald sich alle Mitglieder der Gemeinschaft als Klasse verstehen und entsprechend verhalten, tritt mit der Weltrevolution unmittelbar der Eintritt in das sozialistische Himmelreich ein. Diese Vorstellung bildet die Grundlage der Renaissance neoautoritärer Organisationen in der politischen Linken (ZORA, Young Struggle, Klasse gegen Klasse, Kommunistischer Aufbau etc.).

2.4
In der Postmoderne beginnen die Idealtypen dieser säkularen Glaubenssysteme zu verschwimmen und sich zu mischen. Der Leistungskult der bürgerlichen Mitte etwa bringt eine Form der Anbetung der Arbeit hervor, die sich heute in der bürgerlichen Mitte großer Beliebtheit erfreut. Hier wird die Verherrlichung der Arbeit nicht mehr mit der Zugehörigkeit zu einer ‚Klasse‘, sondern mit dem individuellen Leistungswillen, einer wenig aufgeladenen ‚Normalitätsvorstellung‘ und Fortschrittsoptimismus begründet. Auf diese Weise verbindet sich der Glaube an die Arbeit mit dem Fortschrittsglauben.

Das Bündnis Sarah Wagenknecht hingegen verbindet den Glauben an die Nation mit dem Glauben an das heilige Prinzip der Arbeit. Es wird sich zeigen, ob sich diese Verbindung als erfolgreich erweist. Es ist zu befürchten, dass genau darin das Potenzial für eine politisch erfolgreiche, regressive Bewegung liegt. Erste Wahlerfolge bei der Europawahl 2024 weisen darauf hin.

2.5
Auch die Zuwendung zu religiösen Gemeinschaften hat im sich vollziehenden Krisenprozess als Sinngebungsangebot keineswegs ausgedient. Im Gegenteil: Die Zahl der Beitritte zu Glaubensgemeinschaften ist global seit Jahrzehnten im Ansteigen begriffen. Mit dem hinduistischen und dem islamischen Fundamentalismus, dem ultraorthodoxen Judentum, diversen evangelikalen Sekten (vor allem der Pfingstbewegung) haben diese Sinnstiftungsangebote in den vergangenen Jahrzehnten stetig an Einfluss gewonnen.

3. Religionismus als modernes Phänomen

Die diversen fundamentalistischen Interpretationen der Religionen lassen sich ebenfalls als moderne Phänomene fassen. Ernst Lohoff nennt diese Ideologie Religionismus. Religionismen sind keineswegs ein Weg zurück zu einem ursprünglichen, traditionell-konservativen Glaubenssystem. Sie sind im Kern hochmodern und brechen mit zentralen Aspekten der religiösen Orthodoxie.

3.1
Der islamische Religionismus reagiert auf die Einbindung der arabischen Welt in die moderne Warenökonomie. In der philosophischen Tradition von Dschamal ad-Din al-Afghani, dem Gründer der islamischen Moderne, etwa steht die Vorstellung eines modernisierten Islam im Zentrum. Dieser soll sich von den traditionellen Glaubenspraxen absetzen und so der muslimischen Welt den Platz zuweisen, der ihr in der Welt zusteht. Dabei werden zum einen die konkret-stofflichen Aspekte der Modernisierung (Industrieproduktion, Technik, rationalisierte Naturbeherrschung) affirmiert und die abstrakten, auf Geldökonomie und moderne Rechtsstaatlichkeit (Banken und Zinsen sowie Menschenrechte gelten in dieser Tradition als unislamisch) gerichteten Aspekte der Modernisierung abgelehnt. Darüber hinaus kopiert der islamische Religionismus die ideologischen Formbestimmungen der Moderne. Die Umma etwa weist starke Ähnlichkeit mit einer nicht-räumlichen Variante der Nation auf, der Bezug auf die religiösen Texte soll das moderne Gesetzbuch ersetzen und wird nun wortwörtlich interpretiert. Die Gemeinschaft soll nicht länger syrisch, irakisch oder libanesisch sein – sondern islamisch. Die gemeinsame Identität hat dabei einen Feind, der außerhalb der eigenen Gemeinschaft angesiedelt wird: den Westen.

3.2
Auch der christliche Religionismus orientiert sich ideologisch an einer Verschiebung der ideologischen Aspekte des Nationalismus. Angestrebt wird eine große christliche, nicht hingegen eine amerikanische oder deutsche ,Nation’. Auch diese soll auf den wörtlich interpretierten Geboten althergebrachter religiöser Texte aufgebaut werden. In der Vorstellung eines vollumfassenden Erziehungsrechts der Eltern, das staatlich-schulische Einflussnahmen auf die Erziehung ablehnt, spiegelt sich das moderne Selbstverständnis. Die Kinder tauchen hier als Eigentum auf, dass exklusiv der eigenen Verfügungssphäre zugeordnet ist und die zu erziehen und auf die rechte Bahn zu bringen das (vermeintlich) gute Recht des anständigen Christenmenschen ist.

Das gilt zudem auch für Debatten um bzw. gegen das Recht auf Abtreibung, in denen eigentumsähnliche Herrschaftsansprüche über die Körper von Frauen artikuliert werden. Diese Varianten des Phantombesitzes (Eva von Redecker) gehören zu den zentralen Linien, an denen entlang fundamentalistische Christ:innen in Nordamerika oder Europa ihre gemeinsame Identität gegen einen Feind abgrenzen, der in der eigenen Gesellschaft angesiedelt wird: der säkularisierte, woke Mainstream, der die Nation verrät.

3.3
Auch das (ultra-)orthodoxe Judentum ist eine Reaktion auf die Ausbreitung der modernen Warengesellschaft. Hier findet sich ein starker Fokus auf die Hinwendung zum Wort Gottes sowie dessen meist wörtliche Interpretation. Darüber hinaus werden auch hier die abstrakten Aspekte der modernen Gesellschaft abgelehnt, während technische Neuerungen durchaus genutzt werden können. Insbesondere im religiösen Messianismus, der sich seit dem israelischen Sieg im 6-Tage-Krieg zunehmend in Israel ausbreitet, ist diese Perspektive offensichtlich. Mit ihrer Mischung aus einer tiefen Wortgläubigkeit in Bezug auf die heiligen Texte, die gleichzeitige Praktizierung mystischen Aberglaubens sowie die bisweilen aggressive Ablehnung der israelischen, säkularen Mehrheitsgesellschaft ist diese Strömung paradigmatisch für den Neoreligionismus in der Postmoderne.

Wie auch andere Formen des Religionismus löst auch das ultraorthodoxe Judentum die für die kapitalistische Moderne typische Spannung von Individuum und abstrakter Allgemeinheit durch eine vollständige Unterwerfung des Individuums unter einen göttlichen Willen auf. Das zeigt sich beispielhaft an der aktuellen Diskussion um die Wehrpflicht für Ultraorthodoxe, die in Israel gerade stattfindet. Hier wird von Vertreter:innen des jüdischen Religionismus darauf verwiesen, dass die Zukunft Israels ohnehin in der Hand Gottes läge. Deshalb sei ein Thora-Studium mindestens ebenso wichtig für den Erhalt des jüdischen Staates wie die tatsächliche Verteidigung der in Israel lebenden Menschen. Hier wird die individuelle ebenso wie die kollektive Existenz direkt vom göttlichen Willen abhängig gemacht.

4. Religionismus als Identitätspolitik

Ganz ähnlich wie die Säkularreligionen funktioniert auch der Religionismus nicht zuletzt als Identitätspolitik. Gerade weil in den säkularisierten Gesellschaften die Religiosität alles andere als selbstverständlich ist, soll sie durch öffentliche Marker aktualisiert werden. Die Markierung der Identität wird dabei zum zentralen Mechanismus, mit dem die eigene Identität gegen eine säkularisierte Mehrheitsgesellschaft aufgebaut werden soll. Gemeinsam ist diesen Entwicklungen die Vorstellung, dass eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation nur dadurch erreicht werden kann, dass kulturelle Normen wieder mit religiösen Zeichen in Einklang gebracht werden. Dabei verbinden sich religionistische, nationalistische und andere ideologische Elemente auf jeweils regional spezifische Weise.

4.1
Im Islam manifestiert sich die identitätspolitische Komponente nicht zuletzt in Kleidungsvorschriften. Die Frage, wie ein richtiger muslimischer Mann seinen Bart zu tragen hat, ist dabei ebenso zentral wie die Anforderungen an die Kleidung und die Kopfbedeckung muslimischer Frauen. Hier scheint vor allem wichtig, welche Markierungen in den öffentlichen Raum gesendet werden.

4.2
In Deutschland erleben wir die identitätspolitischen Kämpfe des fundamentalistischen Christentums nicht zuletzt als Kampf um das Kreuz im öffentlichen Raum. Auch die hinlänglich bekannten Debatten über die Zentralität von Weihnachten und Ostern für ,unsere Identität’ fallen in diesen Bereich der religionistischen Identitätspolitik.

4.3
Im jüdischen Religionismus spielt, wie schon erwähnt, die Abgrenzung von der israelischen Mehrheitsgesellschaft ebenfalls eine zentrale Rolle. Sie erfolgt zunächst über entsprechende Kleidungsvorschriften. Die allgemeine Aufforderung, sich sittsam und bescheiden zu kleiden, wird hier Zniut genannt. Sie umfasst das Bedecken des eigenen Körpers mit Kleidung, die von einer Betonung der Körperformen Abstand nimmt. Orthodoxe Männer tragen bisweilen einen Schtreimel und die so genannten Tuchfrauen erinnern frappierend an Verhüllungsvorschriften, die aus dem islamischen Fundamentalismus bekannt sind. In ultraorthodoxen Kreisen wird die Unterscheidung zum säkularen Mainstream zudem über die Sprache markiert, da hier jiddisch dem modernen Hebräisch vorgezogen wird.

Auch die zunehmende Bedeutung koscherer Restaurants in Israel steht in dieser religionistischen Tradition, Unterschiede vor allem nach außen sichtbar zu markieren. Auch der politisch ausgetragene Streit darum, wer als Jüdin:Jude gelten darf und wer nicht, ist Teil dieser identitätspolitischen Inszenierung. Der Übertritt zum Judentum ist i.d.R. die Voraussetzung für die israelische Staatsbürgerschaft. Diese wird von orthodoxen Rabbinern jedoch nur anerkannt, wenn die (neuen) Gläubigen den eigenen Glauben deutlich genug nach außen sichtbar machen.

4.4
Unterschiedliche historische und weltgesellschaftliche Konstellationen in unterschiedlichen Regionen sorgen für Unterschiede auch in der Manifestation religionistischer Ideologien. In der MENA-Region etwa spielen die Kritik an der kolonialen bzw. imperialen Abhängigkeit von den europäischen und amerikanischen Zentren eine zentrale Rolle.

In Europa und Nordamerika hingegen kommt Abstiegsängsten und die gefühlte Bedrohung durch andere, vermeintlich aufstrebende kulturelle und ökonomische Player eine wesentliche Rolle zu. In Israel prägt demgegenüber die Auseinandersetzung um den Zionismus, das Verhältnis unterschiedlicher jüdischer Gruppierungen zueinander (etwa die Diskriminierung misrachischer3 Jüdinnen:Juden oder die Bedeutung von Religiosität in der israelischen Gesellschaft) sowie der allgegenwärtige Antisemitismus in der Welt das Selbstverständnis dieser regionalen Ausprägung des Religionismus.

5. Zionismus & Neoorthodoxes Judentum im Kontext der kapitalistischen Modernisierung

Der Zionismus ist im Kern eine säkulare Nationalbewegung in der Tradition der drei Säkularreligionen. Er verbindet die Ideen der Aufklärung, der Arbeitsreligion und der Nation.

Das ultraorthodoxe Judentum hingegen stellt eine Variante des Religionismus dar. Es kann als Versuch verstanden werden, die (vermeintlich) falschen Säkularisierungsbestrebungen zugunsten einer neuen Religiosität aufzugeben. Dabei geht es jedoch nicht einfach um ein Zurück zu archaischen religiösen Traditionen, sondern um eine religiös verkleidete Reaktion auf die Herausforderungen der kapitalistischen Moderne.

5.1
Die Aufklärung galt für viele Jüdinnen:Juden als eine Chance. Sie sahen darin die Möglichkeit, im Rahmen eines sich ausbreitenden, tendenziell säkularen Nationalismus ein selbstverständlicher Teil der Mehrheitsgesellschaft zu werden. Dieser Wunsch wurde zudem durch die Etablierung einer spezifisch modernen Form der Vereinzelung verstärkt. Die durch diese Vereinzelung stets gefährdete Stellung in der Welt trieb die Individuen dazu an, sich als Teil eines großen Ganzen fühlen zu wollen.

Diese reformierten, säkularen Jüdinnen:Juden sahen sich in einer kulturellen Tradition des Judentums und wollten dies mit der Moderne verbinden. Sie waren sowohl im liberalen Bürgertum als auch in der sozialistischen Arbeiter:innenbewegung verwurzelt.

Die religiös-konservative Strömung des Zionismus hat sich der Bewegung erst im 20. Jahrhundert angeschlossen und war zunächst weitgehend marginalisiert. Sie kann deshalb bereits als Reaktion auf eine (drohende) Säkularisierung der jüdischen Community verstanden werden.

5.2
Der Zionismus ist die Reaktion auf das Scheitern der Integrationsversuche in die Normalität der jungen kapitalistischen Nationen in Europa. Dieses Scheitern wurde nicht zuletzt mit der Dreyfus-Affäre offensichtlich. Hieraus haben einige Aktivist:innen den Schluss gezogen, dass eine Integration in die bestehenden Nationalgesellschaften nicht möglich sei und Jüdinnen:Juden deshalb einen eigenen Nationalstaat bräuchten. Dass der zionistische Mainstream sich dabei einerseits als säkular verstand, andererseits aber stets auf religiöse Motive zurückgreifen musste (etwa die Zionsvorstellung, die bereits im Namen auftaucht), musste dabei unauflösliche Widersprüche produzieren, die sich noch heute im Kern der gesellschaftspolitische Debatte in Israel befinden. So wird etwa das Verhältnis von einer wehrhaften Leistungsgesellschaft auf der einen und jüdischer Gelehrsamkeit und Orthodoxie auf der anderen Seite gerade in einer innerisraelischen Debatte um die Einführung einer Wehrpflicht für Ultraorthodoxe thematisiert.

In diesem Sinne jedenfalls ist der Zionismus ein Phänomen der Aufklärung und historisch der politischen „Mitte“ bzw. der „Linken“ zuzuordnen. Der heute beliebte Slogan „Zionismus ist rechts“ ignoriert seine historische Entstehung.

5.3
Der Zionismus ist eine Reaktion in den Formen der kapitalistischen Moderne auf den Antisemitismus der kapitalistischen Moderne. Der Fokus auf die Nation als Subjekt jüdischer Gemeinschaftlichkeit muss deshalb die Widersprüche reproduzieren, die der Nation als Form moderner Vergemeinschaftung immer innewohnt.

Die Verwurzelung des Zionismus in der Aufklärung spiegelt sich zudem auch in den Politiken der aktuellen, rechts-autoritären Regierung in Israel. Die Vorstellung, Gaza und das Westjordanland mittels überlegener Technik beherrschen zu können, hat sich als haltlose technizistische Weltanschauung entlarvt.

5.4
Im Zuge der Entstehung der kapitalistischen Moderne und der damit einhergehenden Säkularisierung kam es auch zu Reformbestrebungen innerhalb des jüdischen Glaubens. Im so genannten Reformjudentum wurden bestimmte Elemente aus dem Protestantismus in die jüdische Glaubenspraxis importiert. Die Entstehung der jüdischen Orthodoxie hingegen ist eine Reaktion auf die Ausbreitung dieser säkularen, menschenrechtsorientierten und durch die Aufklärung beeinflussten Bewegung. Sie ist geprägt von der Angst der Assimilation und möchte deshalb an einer vermeintlichen Tradition festhalten. Sie kreist dabei um eine strenge, wortgetreue Glaubenspraxis.

Diese Strömung ist religiös geprägt und steht bis heute in Gegner:innenschaft zum Projekt des Zionismus. Nach dem (ultra-)orthodoxen Glaubensverständnis ist die Vertreibung von Stätten des historischen Judentums eine von Gott auferlegte Strafe. Daher sei es nicht legitim, ohne ein deutliches göttliches Zeichen in die Region zurückzukehren. (Weite) Teile dieser Strömungen lehnen daher eine Besiedlung der MENA-Region und den Staat Israel bis heute ab.

5.5
Im Kontext der israelischen Siege im Sechs-Tage-Krieg interpretierten einige Teile der Orthodoxie sowie des nationalreligiösen Lagers diese unerwarteten Siege eines kleinen Landes gegen die Armeen der viel größeren Nachbarländer als das notwendige göttliche Zeichen und damit als Aufforderung, die alten Siedlungsstätten offensiv zu besiedeln. Diese Strömung steht hinter dem Teil der Siedlerbewegung, der im Westjordanland neue Siedlungen gründet und sich politisch gegen jede Rückgabe der Gebiete unter israelischer Verwaltung einsetzt. Diese Strömung versteht sich dabei weiterhin nicht als Zionismus. Ihr Ziel ist weder ein säkularer jüdischer Nationalstaat noch die Erringung politische Macht gegenüber anderen Nationalstaaten. Das erklärte Ziel ist stattdessen die Rückbesiedlung eben der Gebiete, in denen das historische Judentum gelebt hat. Hier sollen die Jüdinnen:Juden dann je für sich, aber wortgetreu, dem Glauben nachgehen. Innerhalb der israelischen Gesellschaft sind das die politisch rechts außen stehenden Gruppierungen. Die ‚Rechten‘ in Israel sind also grade keine Anhänger eines säkularen, zionistischen Nationalstaats in der Tradition der Aufklärung.

5.7
Der zentrale Bruch, den diese Gruppe mit der religiösen Tradition vollzieht, sollte nicht unterschätzt werden. Er drückt sich vor allem im Wandel im Messianismus des Judentums aus. Die traditionellen Messias-Hoffnungen waren stets passiv, weil sie auf die Initiative Gottes warteten, der durch seine Handlungen die Jüdinnen:Juden wieder ins gelobte Land führen sollte. Diese Weltanschauung wird heute zunehmend durch einen aktiven Messianismus ersetzt, der die ‚jüdische Sache‘ selbstbewusst voranbringen will.

Literatur:

Laurent Klein / Renaud Rochette (2018): Jüdischer Fundamentalismus. Online abrufbar unter: https://sorapscourse.unive.it/files/2019/05/IO2Unit5_Ju%CC%88discher-Fundamentalismus.pdf [letzter Zugriff 22.06.2024]

Julian Bierwirth et al.: Die Gretchenfrage neu gestellt. Über das Verhältnis von Kapitalismus, Religion und Religionskritik im 21. Jahrhundert. Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 2/2021.https://www.krisis.org/2021/die-gretchenfrage-neu-gestellt-krisis-22021/

Ron Leshem (2024): Feuer. Israel und der 7. Oktober. Rowohlt : Hamburg

Karl-Heinz Lewed (2008): Finale des Universalismus. Der Islamismus als Fundamentalismus der modernen Form. In: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 32/2008, S. 104 – 139. https://www.krisis.org/2008/finale-des-universalismus/

Karl-Heinz Lewed (2010): Erweckungserlebnis als letzter Schrei. Der Islamismus und die rational-irrationale Subjektivität der Warengesellschaft. In: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 33/2010, S. 16 – 57. https://www.krisis.org/2010/erweckungserlebnis-als-letzter-schrei/

Ernst Lohoff (2008): Die Exhumierung Gottes. Von der heiligen Nation zum globalen Himmelreich. In: Krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 32/2008, S. 30 -75. https://www.krisis.org/2008/die-exhumierung-gottes/

Olivier Roy (2010): Heilige Einfalt. Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen. München

Richard C. Schneider (2018): Alltag im Ausnahmezustand. Mein Blick auf Israel. Verlag DVA Sachbuch : München

1 „MENA“ steht für Middle East North Africa, also den Mittleren Osten und Nordafrika.

2 CCS: Carbon Capture and Storage – Die Abscheidung von Kohlendioxid aus Industrieabgasen und ihre anschließende Speicherung im Untergrund.

3 Misrachische Jüdinnen:Juden ist der gebräuchliche hebräische Ausdruck für jüdische Bevölkerungsgruppen oder Personen, die aus Afrika, Asien und insbesondere aus dem Nahen Osten stammen.