30.05.2024 

Rückkehr zur Austerität. Die FDP will viel sparen und blockiert notwendige Investitionen

Von Peter Samol

Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/21 von 23.05.2024

Die Steuereinnahmen drohen zurückzugehen, doch die FDP ist gegen neue Schulden und will sogar Steuern senken. Finanzminister Christian Lindner (FDP) plant für 2025 ein Sparprogramm im zweistelligen Milliardenbereich, Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) unterstützt ihn.

In der Bundesregierung nehmen die Streitigkeiten kein Ende. Sie gehen zumeist von der FDP aus, die in Wahlumfragen gerade nur um die fünf Prozent Wählerzustimmung genießt. Die Partei scheint jede Möglichkeit nutzen zu wollen, um von sich reden zu machen. Und so präsentiert die FDP einen Strauß von Unverschämtheiten, zu denen nur sie imstande ist. Zum Beispiel beim Thema Rente, bei dem die FDP sogar Fakten unterschlägt oder verfälscht darstellt. Die »Rente mit 63« setze angeblich den Fehlanreiz, zu früh in Rente zu gehen, was man sich angesichts des Fachkräftemangels nicht leisten könne, verkündeten kürzlich mehrere FDP-Politiker, darunter der FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai.

Die »Rente mit 63« gibt es gar nicht mehr

Das Problem: Die »Rente mit 63« gibt es gar nicht mehr. Djir-Sarai bezieht sich auf die abschlagsfreie Rente nach 45 Arbeitsjahren. Deren Eintrittsalter wird seit ihrer Einführung im Rahmen eines Stufenplans jährlich erhöht. Derzeit liegt der frühestmögliche abschlagsfreie Renteneintritt bei 64 Jahren und vier Monaten. Nur vor 1953 geborene Menschen konnten ohne Abschläge mit 63 Jahren in Rente gehen. Die sind heute mindestens 71 Jahre alt, befinden sich also längst im verdienten Ruhestand.

Das Jammern der FDP über den Verlust von Fachkräften durch die angeblich verfrühte Rente ist außerdem irreführend, weil von denen, die abschlagsfrei nach 45 Jahren in Rente gehen könnten, über drei Viertel davon keinen Gebrauch machen, sondern freiwillig länger arbeiten. Sogar bei den noch Älteren, den 65- bis 69jährigen, arbeitete 2022 bereits jeder fünfte.

Außerdem beklagt die Partei, dass die Zuschüsse aus dem Bundeshaushalt für die gesetzliche Rentenversicherung wegen der vorgezogenen Rente gestiegen sind. Auch das ist zumindest irreführend. Der Bundeszuschuss wächst zwar in absoluten Zahlen (so wie das Rentenniveau auch), doch aussagekräftiger ist der prozentuale Anteil des Zuschusses an den Versicherungseinnahmen – und dieser ist in den vergangenen Jahren nicht gestiegen, sondern gesunken und bewegt sich derzeit zwischen 20 und 25 Prozent. Zugleich liegt der Satz für die Beitragszahler mit 18,6 Prozent derzeit eher niedrig, in etwa auf dem Niveau der frühen neunziger Jahre. Er soll allerdings in den kommenden Jahren auf präzedenzlose 22 Prozent erhöht werden, um das Rentenniveau stabil zu halten, da immer mehr Menschen in den kommenden Jahren in Rente gehen und nicht genug neue Beitragszahler nachkommen.

Aber die FDP redet nicht nur fragwürdiges Zeug, sie handelt auch entsprechend. Derzeit blockiert die FDP eine Rentenreform, auf die sich die drei Regierungsparteien eigentlich im Koalitionsvertrag geeinigt hatte: das sogenannte Rentenpaket III, an dem im Bundesarbeitsministerium bereits gearbeitet wird. Es sieht vor, dass zukünftig alle Selbständigen in die gesetzliche Rentenversicherung einzahlen, was schlagartig zu Hunderttausenden neuen Beitragszahlern führen würde. Insbesondere den gutverdienenden Selbständigen würde das nicht gefallen – ein Kernklientel der FDP. Vergangene Woche sagte Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) der „Funke Mediengruppe“, dass die „Vorstellungen von FDP und SPD“ dabei noch „weit auseinander“ lägen.

Auch die Frage nach der sogenannten Kindergrundsicherung ist immer noch ungeklärt. Ursprünglich war sie als „größtes sozialpolitisches Vorhaben“ der Bundesregierung angekündigt, mit dem die Kinderarmut bekämpft werden sollte. Sie wurde von Anfang an von der FDP torpediert und ist mittlerweile weitgehend ausgehöhlt worden – und wird obendrein weiterhin blockiert. Die FDP habe immer noch Vorbehalte, man müsse nun schauen, „ob und wie die politischen Bedingungen erfüllt werden können“, sagte Lindner der „Funke Mediengruppe“.

Kampf um den Bundeshaushalt

Der Kampf um den Bundeshaushalt für 2025 wird diese Streitigkeiten wohl noch in den Schatten stellen. Ursprünglich plante die Bundesregierung, dass mindestens 15 Milliarden Euro eingespart werden müssten. Das war wohl noch optimistisch. Am Donnerstag vergangener Woche veröffentlichte der Arbeitskreis Steuerschätzung eine Prognose, der zufolge die Steuereinnahmen 2025 um elf Milliarden Euro geringer ausfallen als bisher vorhergesagt.

Anfang Juni soll der Haushalt für 2025 im Kabinett beschlossen werden. Finanzminister Lindner hat die einzelnen Ministerien zum Sparen angehalten, mehrere Ressorts haben jedoch angekündigt, die Ziele nicht einhalten zu können, darunter das Außen-, das Verteidigungs- und das Entwicklungsministerium. Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) forderte, Ausgaben für die Bundeswehr von der sogenannten Schuldenbremse auszunehmen. Das lehnt Lindner wiederum kategorisch ab. Weil er zugleich die Steuern nicht erhöhen, sondern sogar weiter senken will, sieht er den richtigen Weg vielmehr in Sparmaßnahmen, vor allem beim Sozialetat und bei der Rentenkasse.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) stellte sich Mitte Mai in einem „Stern“-Interview demonstrativ an die Seite Lindners und forderte das Kabinett zum Sparen auf. „Der Finanzminister hat den Ressorts Limits genannt – das war mit mir abgesprochen“, sagte Scholz, und: „Wir sollten uns das Leben nicht zu leicht machen. Jetzt ist erst mal Schwitzen angesagt.”

Zugleich fordert Scholz in dem besagten Interview auch einen Mindestlohn von 15 Euro. Derzeit liegt die Lohnuntergrenze bei 12,41 Euro. Diese will Scholz in zwei Schritten zunächst auf 14 und dann auf 15 Euro anheben. Die FDP ist strikt dagegen, weshalb die SPD auch nicht in die Verlegenheit gerät, die Erhöhung bald auszuführen, sondern die folgenlose Forderung für anstehende Wahlkämpfe nutzen kann.

Unterfinanzierte Infrastruktur

Während sich die Bundesregierung also anschickt zu sparen, ist die öffentliche Daseinsfürsorge und Infrastruktur schon seit langem unterfinanziert. In einer gemeinsamen Studie beziffern sowohl das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) als auch das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) einen öffentlichen Investitionsbedarf von 600 Milliarden Euro für die kommenden zehn Jahre. Allein für den Ausbau der erneuerbaren Energien seien rund 200 Milliarden nötig, außerdem 60 Milliarden für das Schienennetz sowie 29 Milliarden für den öffentlichen Nahverkehr. All das sei unverzichtbar, um den Standort wettbewerbsfähig zu halten.

Der hohe Bedarf ist vor allem wegen der Schuldenbremse brisant, auf deren unbedingter Einhaltung Finanzminister Lindner besteht. Die sieht vor, dass der Bund sich kaum neu verschulden darf. Das IW und das IMK fordern daher eine Reform der Schuldenbremse oder alternativ die Einrichtung eines Infrastrukturfonds, der genauso funktionieren würde wie das Bundeswehr-Sondervermögen – also de facto eine Umgehung der Schuldenbremse wäre. Das DGB-Vorstandsmitglied Stefan Körzell unterstützte diese Forderung und betonte, der seit Jahren aufgetürmte Investitionsstau lasse sich nur mit massiven Investitionen auflösen. Die USA mache mit schuldenbasierten Investitionen in Milliardenhöhe vor, wie das geht, in Deutschland dagegen wirke die Schuldenbremse als Investitionsbremse.

Die 600 Milliarden Euro Gesamtbedarf bezeichnen das IW und das IMK als „Untergrenze“. Darin sind weder zusätzliche Ausgaben fürs Militär noch Investitionen ins Gesundheitswesen enthalten. Die Institute sind allerdings der Ansicht, dass solche Investitionen einen Wachstumsschub auslösen würden, der auf lange Sicht sogar zum Sinken der Schuldenquote der öffentlichen Haushalte führen würde. Das Modell der Unterfinanzierung der öffentlichen Hand, das Lindner vorschwebt, schade aus dieser Sicht sogar dem deutschen Kapital: Denn es würge nötige Investitionen ab und verschärfe auf diese Weise die wirtschaftliche Stagnation.

Der Internationale Währungsfonds hat erst kürzlich die Wachstumsprognose für Deutschland nach unten korrigiert, auf nur noch 0,2 Prozent für dieses Jahr. In seiner Rolle als ideeller Gesamtkapitalist könnte der deutsche Staat Schulden machen, um zu investieren, damit die Wirtschaft wächst und deutsche Unternehmen nicht den Anschluss verlieren. Bei der FDP scheinen ideologische Verblendung und strikte Klientelpolitik dazu zu führen, diesen Zusammenhang zu verkennen. Hinzu kommt, dass die Partei sich offenbar entschieden hat, angesichts der schlechten Umfragewerte jetzt schon Wahlkampf gegen die eigene Regierungskoalition zu führen.

So spricht politisch alles für ein Festhalten an der Schuldenbremse – auf der ja auch die Führung der Unionsparteien besteht –, während die Steuereinnahmen stagnieren und gleichzeitig viel Geld in den „grünen“ Umbau der Industrie und ins Militär investiert werden soll. In der Konsequenz läuft alles auf Sparprogramme bei Sozialausgaben und der Rente hinaus. Mit Verweis auf sogenannte Haushaltszwänge könnten sozialpolitische Vorhaben wie die Kindergrundsicherung von der Bundesregierung sang und klanglos beerdigt werden.