von Julian Bierwirth
Working Paper Nr. 2, Februar 2024
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Zitation: Bierwirth, Julian: Thesen zur Kritik des modernen Naturverhältnisses. Krisis-Working Paper 2, 2024. URL: https://www.krisis.org/2024/thesen-zur-kritik-des-modernen-naturverhältnisses/ (Seitenzahlen bitte gemäß PDF-Version zitieren) |
Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen,
bis das Selbst, der identische, zweckgerichtete,
männliche Charakter des Menschen geschaffen war,
und etwas davon wird noch in jeder Kindheit wiederholt.
(Theodor W. Adorno)
Das Ergebnis des Versuchs, totale Kontrolle über die Natur zu übernehmen,
erweist sich als Chaos und Vernichtung.
(Fabian Scheidler)
1. Warengesellschaft und Erkenntnisform
Die moderne, warenproduzierende Gesellschaft löst die Menschen aus den „feudalen Banden“ (Marx) heraus und setzt sie als „vereinzelte Individuen“ (auch Marx). Als solche sind sie (doppelt) frei und gleich. Sie sind frei, weil sie als vereinzelte, von den anderen wesensmäßig getrennte Individuen miteinander nur äußerliche Beziehungen (über Waren, Verträge und Recht) eingehen. Und sie sind einander dabei insofern gleich, als sie sich innerhalb der gleichen Beziehungsform bewegen und ihre Waren aufeinander beziehen und sie dadurch gleichsetzen.
1.1 Dieser historisch gewordene Vergesellschaftungsmodus bildet die materialistische Grundlage für das moderne Wissenschaftsverständnis und das technokratische Naturmanagement. Auch hier werden die Dinge wesensmäßig als voneinander getrennt wahrgenommen (Atomisierung). Diese vereinzelten Phänomene werden dann vor allem in Bezug auf ihre mathematischen Relationen betrachtet (Mathematisierung). Atomisierung und Mathematisierung sind die Denkformen, die aus der gesellschaftlichen Praxis der Warenproduktion entstehen. Mit den beiden Prozessen ist zugleich eine Abstraktion verbunden: Die konkreten Eigenschaften von Dingen und die realen Zusammenhänge werden auf modellhaft-abstrakte Darstellungen heruntergebrochen. Die Natur wird als bewertbar, zerteilbar und beherrschbar verstanden.
1.2 Die Warenproduktion erfordert es von den Menschen, sich selbst als Eigentümer:innen zu ihren Waren zu verhalten. Letztere werden einer „absoluten Sachherrschaft“ (Eva von Redecker) unterworfen, also zu Objekten, die der menschlichen Herrschaft unterstehen. Die Menschen selbst verhalten sich als handelnde, die Warenwelt beherrschende Subjekte. Die von ihnen über die (toten) Dinge ausgeübte Sachherrschaft spiegelt sich in den instrumentellen Beziehungen, die sie zueinander eingehen. Die Dichotomie von res cogitans und res extensa (Descartes), von Vernunft und Körperlichkeit (Kant), von Subjekt und Objekt ist die Denkform, die sich aus der gesellschaftlichen Praxis der Warenproduktion heraus verallgemeinert.
1.3 Bereits in dieser Konstellation wohnt ein Widerspruch. Denn wenn die Welt nach mechanistischen Prinzipien eingerichtet und deshalb erkennbar ist, dann findet die Subjektherrlichkeit ihre Grenze an der Erkenntnis eben dieser objektiven Gesetzmäßigkeiten der Welt. Um diese Grenze zu überwinden, muss sich das Subjekt rationalisierend zur Objekt-Welt verhalten. Es ist also selbst keineswegs autonom, sondern stets auf einen vorausgesetzten Zweck (die Naturbeherrschung) verwiesen.
1.4 Obwohl diese Denkformen vor dem Hintergrund der sich herausbildenden Warengesellschaft entstanden sind, können sie nicht funktionalistisch aus ihr abgeleitet werden. Sie haben sich vielmehr bereits früh verselbstständigt und bestimmen auf diese Weise als Wissenschaft und Naturmanagement die gesellschaftliche Praxis in der Warengesellschaft.
1.5 Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Menschen der Status des über die Natur herrschenden Subjekts zugesprochen wird. In den Entstehungskontexten dieses Konzeptes waren wie selbstverständlich weite Teile der Weltbevölkerung von der Subjektherrlichkeit ausgeschlossen (Frauen, Kinder, Schwarze, Arbeiter:innen). Noch heute lebt dieser Anspruch in den Haltungen des männlich-westlich-weißen Subjekts (MWW) fort. Eva von Redecker nennt dies „Phantombesitz“.
1.6 Die Warenproduktion beinhaltet eine Veräußerlichung der sozialen Beziehungsformen. Weil die Menschen sich nur atomisiert und als abstrakt Gleiche begegnen, wird das gesellschaftliche Leben von einer furchteinflößenden sozialen Kälte begleitet, die das Leiden von Menschen nur als abstraktes Problem behandelt, nicht aber zum konkreten Handeln auffordert. Das gilt umso mehr für Menschen, die selbst nicht als Subjekte anerkannt sind und deren Tod (etwa im Mittelmeer) umso weniger zählt. (Und es spiegelt sich nicht zuletzt auch in einigen Formen linksradikaler Agitation, die den Blick so fest auf die Weltrevolution geheftet hat, dass sie das konkrete Leiden von Menschen nicht mehr zu interessieren scheint.)
1.7 Die historisch-spezifischen Verhältnisse der Warengesellschaft werden als überhistorisch gültig betrachtet und als solche naturalisiert. Deshalb werden die gesellschaftlichen Voraussetzungen der modernen, wissenschaftlich-technologischen Erkenntnisform ausgeblendet und in die „Natur“ der Menschen und der Dinge gelegt wird. Es wird dann davon ausgegangen, dass sich das menschliche Hirn besonders gut zum mathematischen Denken eignet bzw. dass die Dinge selbst von ihrem „Wesen“ her sich mathematisch gut beschreiben lassen. Die Unterordnung unter gesellschaftlich vermittelte Beziehungsformen wird so umgedeutet in eine Unterwerfung unter natürliche Notwendigkeiten.
2. Instrumentelle Weltbeziehungen im Liberalismus
Die Folge des kapitalistischen Naturverhältnisse ist ein mechanistisches Weltbild, das in Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen denkt. Der Liberalismus macht die instrumentelle Beziehungsform der Warenproduktion zu seinem Programm. Seine Konzepte sind in enger Anlehnung an das Naturverständnis der modernen Naturwissenschaften entstanden und folgen dem Idealbild mechanistischer Kausalbeziehungen.
2.1 Das mechanistische Weltbild übersetzt soziale Phänomene von der stofflich-konkreten auf eine abstrakt-gesellschaftliche Ebene. Im Zuge der Etablierung der modernen Warenproduktion kam es zu einer Herauslösung der Menschen aus ihren traditionellen sozialen Zusammenhängen sowie aus ihren ethisch-moralischen Wertesystemen. Sie waren plötzlich auf sich gestellt („vereinzelt“), was mit einer umfassenden Verhaltensunsicherheit einherging. Während Verhaltenssicherheit in der Vormoderne über die ethisch-moralischen Wertesysteme hergestellt werden konnte, ist diese Option weggefallen und es braucht einen neuen Mechanismus, an dem die Individuen sich orientieren können. Zu diesem Zweck hat der Liberalismus die Interessen erfunden.
2.1.1 Ausgangspunkt der liberalen Argumentation ist die Vereinzelung und die damit einhergehende Verhaltensunsicherheit. Diese macht „Furcht“ und „Angst“ zu den zentralen Gefühlslagen der Moderne. Gegenstand dieser Angst ist die als angeblich animalisch dargestellte Natur (auch und vor allem die der anderen Menschen). Um diese Triebhaftigkeit zu bändigen, sollen sich die Menschen auf ihre „Interessen“, d.h. auf ihre ökonomischen Vorteile beziehen. Das gilt dann als „Zivilisation“.
2.1.2 Die Leidenschaften gelten als Ausdruck von Körperlichkeit, die mittels Vernunft von jedem Menschen beherrscht werden muss. Hieraus ergibt sich die Abwertung und Abspaltung all dessen, was gesellschaftlich nicht mit den herrschenden Formbestimmungen assoziiert wird. Dieses „Nicht-Vernünftige“ wird auf bestimmte Menschengruppen wie insbesondere „die Frauen“ und „die Schwarzen“ projiziert. Bereits auf dieser Ebene sind Sexismus und Rassismus also in die moderne Subjektivität eingeschrieben.
2.2 Das Verständnis von der Ökonomie oder dem Staat als einer Maschine, die auf Ursache-Wirkungs-Mechanismen beruht und durch geschicktes Management („Wirtschaftspolitik“) beeinflusst werden kann, ist in den modernen Wirtschafts- und Politikwissenschaften dementsprechend weit verbreitet. Hier liegt auch der handlungstheoretische Fokus der VWL (methodologischer Individualismus) sowie die Liebe der VWL zur Mathematik (Mengen-Preis-Diagramm etc.) begründet.
2.2.1 Der Neoliberalismus bricht in gewisser Weise mit diesem Modell. Er geht zwar auch von einer Natürlichkeit veräußerlichter Beziehungen aus und unterstellt die Funktionstüchtigkeit der „schönen Maschine“ (Bentham), relativiert jedoch die kollektive Erkennbarkeit ihrer Mechanismen. Alles, was wir laut Neoliberalismus über den Kapitalismus sagen können, ist, dass er funktioniert. Eingriffe in das wirtschaftliche Geschehen sollten deshalb auch bitte unterbleiben. Hier wäre zu fragen, auf welchen Verschiebungen innerhalb der modernen Beziehungsformen diese ideologische Transformation verweist.
2.2.2 Der „Pohrtianismus“, d.h. die im Anschluss an Wolfgang Pohrts „Theorie des Gebrauchswerts“ (1976) entwickelte Kapitalismuskritik, ist die linke Variante des Neoliberalismus. Er verweist zwar auf das historische Gewordensein der veräußerlichten Beziehungen, relativiert aber ebenso wie der Neoliberalismus die Erkennbarkeit der damit verbundenen ökonomischen Prozesse. Es ist daher vermutlich kein Zufall , dass er zur selben Zeit entstanden ist, in der sich der Neoliberalismus durchgesetzt hat. Wie dieser sieht der Pohrtianismus in der Warenproduktion ein endlos prozessierendes und letztlich undurchschaubares System, das deshalb auch nicht aufgehoben werden kann. Sein „kritischer Pessimismus“ (Postone) mündet daher nicht selten im Zynismus.
2.3 Zwischen moderner Naturwissenschaft und liberaler Ideologie gibt es einen regen argumentativen Austausch. Naturwissenschaftliche Denkmuster werden in die Sozialphilosophie übernommen und umgekehrt aus der Sozialtheorie in die Naturwissenschaften exportiert. Das verfestigt den Schein einer Naturhaftigkeit der modernen Erkenntnisformen.
3. Instrumentelle Weltbeziehungen im Marxismus-Leninismus
Der Marxismus-Leninismus (ML) ist ein Kind des Liberalismus. Er affirmiert die Vorstellung von Naturbeherrschung, die sich mit der Warenproduktion und dem Liberalismus verallgemeinert hat. Am Kapitalismus kritisiert er lediglich, dass sie die Naturbeherrschung nicht effektiv genug umsetzt. Das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Marktprozesse führen laut ML dazu, dass die in der modernen Naturwissenschaft angelegten Potentiale nicht ausgeschöpft werden. Die „Anarchie des Marktes“ (Engels) verhindert auf diese Weise die totalisierte Herrschaft über die zu reiner Objektivität geronnene Welt.
3.1 Darum kann ein Karl Korsch in seinem Buch über Karl Marx dann auch Sätze wie diesen schreiben: „Der Sozialismus wiederholt in veränderter Form und in gigantisch gesteigertem Ausmaße noch einmal die Entfesselung der Produktion, die der Kapitalismus für seine Zeit und in seiner Form und am Ende mehr schlecht als recht zustande gebracht hat.“(1981, S. 174)
3.2 Auf die oben skizzierte Weise interpretiert der Marxismus auch den Interessen-Begriff. Er wirft dem Liberalismus vor, sich gar nicht „wirklich“ um die Interessen der Menschen zu kümmern bzw. hält den Arbeiter:innen vor, ihre „wahren Interessen“ noch nicht erkannt zu haben. Auf diese Weise hält er an der Übersetzung der gesellschaftlichen Handlungsmotive in die Kategorie des Interesses fest und reproduziert so das mechanistische Weltbild des Liberalismus.
3.3 Die ideologischen Vorstellungen des ML haben mehrere Standbeine. Sie beruhen aber nicht zuletzt auf einem verdinglichten Verständnis von Mensch und Natur sowie auf einer unhistorischen Vorstellung von geschichtlicher Entwicklung.
3.3.1 Der ML versteht unter der Natur etwas wesenhaft vom Menschen Getrenntes, auf das dieser äußerlich (mittels Werkzeugen und technischem Wissen) zugreift. Auf diese Weise wird „die Arbeit“ zur allgemeinen, vermeintlich unhistorischen Mittlerin zwischen Mensch und Natur.
3.3.2 Im „Historischen Materialismus“ (HistoMat) wird die geschichtliche Entwicklung dann aus der Dialektik von äußerlicher Naturbeherrschung und gesellschaftlichen Verhältnissen entwickelt und als Fortschrittsgeschichte konzipiert. Mehr technisches Wissen und bessere Werkzeuge verweisen auf einen höheren Grad an Naturbeherrschung, der dann im Kommunismus perfektioniert werden soll. Im HistoMat geht der ML ganz mechanistisch vor und erklärt die Produktivkräfte zur Ursache und die Produktionsverhältnisse (letztlich) zur Wirkung stetig verbesserter Naturbeherrschung.
3.4 Die Sowjetunion war die Überführung des ML in gesellschaftliche Praxis. Hier wurden die Vorstellungen einer vollständigen Herrschaft über die Natur und die ebenso vollständige Unterordnung der Menschen unter den Herrschaftsapparat der Partei in Staatspolitik verwandelt. Das mündete in technokratischen Großprojekten und Naturbeherrschungsphantasien wie dem „Großen Stalinschen Plan zur Umgestaltung der Natur“. Spätestens mit Tschernobyl erwiesen sich solche Phantasien als politisch untragbar.
3.5 Vorstellungen der Naturbeherrschung, wie sie im Liberalismus und im ML vorherrschen, können wir als Prometheismus bezeichnen. Die Formulierung bezieht sich auf den griechischen Gott Prometheus, der sich mit Göttervater Zeus anlegt und den Menschen das Feuer bringt. Sie bezeichnet also eine Perspektive, die dem Menschen durch Naturbeherrschung ein besseres Leben ermöglichen möchte.
3.6 Auch linke Utopien wie die Arbeitszeitrechnung bleiben der Vorstellung marxistisch-leninistischer Naturbeherrschung treu. Die Gruppe Internationaler Kommunisten Holland nannte in ihren „Grundprinzipien kommunistischer Produktion und Verteilung“ (1930) den Kommunismus deshalb auch nicht zufällig einen Zustand, in dem „die miteinander verbundenen Produzenten […] gemeinsam gegen die Natur kämpfen, um Konsumgüter herzustellen“. Vorstellungen, die eine Reduktion auf den Ursache-Wirkungs-Mechanismus oder gar die Herrschaft der Abstraktion in Frage stellen, werden von ihnen als libertärer Unsinn verworfen.
4. Kritik der Naturbeherrschung in der Romantik
Die rationalisierten Sozialbeziehungen und die mit ihnen einhergehenden vernunftorientierten Weltdeutungen sind aus guten Gründen schon früh in die Kritik gekommen. Bereits im Sturm und Drang sowie später in der Romantik wurden Emotionalität, Leidenschaft, Individualität und Liebe zum Ausgangspunkt des literarischen, aber auch des persönlichen Wirkens. So verständlich der Impuls hierfür ist, so fragwürdig und regressiv sind die Folgen dieses Wirkens gewesen.
4.1 Die Romantik steht für Antirationalismus und Gefühligkeit, für eine Verklärung des Mittelalters und anderer vergangener Epochen und einen Hang zum Exotischen. In der Romantik verbindet sich die Verherrlichung des Unmittelbaren und Konkreten mit einer Ablehnung des Abstrakten. Von der Geldwirtschaft bis zur Wissenschaft werden die kritisierten Abstraktionsprozesse zudem nicht selten mit Jüdinnen:Juden assoziiert. Die romantische Traditionslinie reicht bis in den Nationalsozialismus und zur heimeligen Verehrung des Schützengrabens bei Ernst Jünger.
4.2 Die Arbeiter:innenbewegung stand ebenso wie der Marxismus stets zwischen den Traditionen von Aufklärung und Romantik. Insofern sie sich auf einen Binnengegensatz von Interessen bezog, ist sie der Vernunfttradition zuzuordnen; insofern sie sich auf gemeinsam gelebte Werte, Sprache und Kultur bezog, ist sie ein Kind der romantischen Tradition. Letzteres spiegelt sich etwa in Traditionen der Arbeiterkulturbewegung (Volksbühnen, Arbeitersport, Naturfreunde, Freidenker etc.). Auch innerhalb des Marx’schen Werkes findet sich diese Doppeldeutigkeit.
4.3 Der starke Fokus auf das Ich, der in vielen romantischen Konzepten zum Tragen kommt, bewegt sich noch im Subjekt-Objekt-Universum, soll aber die Unterordnung des Individuums unter die Anforderungen der Naturbeherrschung kritisieren. Das Ich soll wahrlich frei werden, indem es sich nicht länger den vorgegebenen Zwängen unterwirft. Auch die Romantik begreift das Problem nicht als Folge gesellschaftlicher Beziehungsformen (oder gar als Unterordnung unter den Zweck der Kapitalverwertung). Stattdessen konzentriert sie sich auf die Kritik von Vernunft und Rationalität sowie die einhergehende Unterordnung der Menschen unter die rationalistische Lebensweise. Auf diese Weise trägt sie das ihre zur Herausbildung einer abstrakten Ich-Individualität bei.
4.4 Es gibt in der Romantik in einen arbeitskritischen Pol (der die Rastlosigkeit der Moderne ablehnt, die eigene Naturverbundenheit betont und auf „Gemütlichkeit“ abhebt) und in einen rastlosen Pol (der auf ehrliche Arbeit als Ursache menschlicher Erfüllung setzt). Beide sind Varianten einer liberalen, individualistischen Quasi-Esoterik, die das unmittelbare Erleben in den Mittelpunkt stellt und die gesellschaftliche Vermitteltheit des Menschen ausblendet.
5. Kritik der Naturbeherrschung in der Postmoderne
In einigen postmodernen Theorien, insbesondere in der Tradition des Poststrukturalismus und des New Materialism, wird die strikte Subjekt-Objekt-Dichotomie einer Kritik unterzogen. Dabei wird unterstellt, die „eigentlichen“ Verhältnisse des Natürlichen seien mit dem modernen Wissenschaftsverständnis gar nicht zu erkennen und „hinter“ dem technokratischen Naturmanagement verberge sich in „Wirklichkeit“ eine ganz andere Form von Naturbeziehungen, die von der Wissenschaft allerdings schändlich ausgeblendet würden. Diese Vorstellung finden wir etwa bei Donna Haraway oder bei Bruno Latour.
5.1 Im Zentrum der Kritik stand lange Zeit die Vorstellung vom Subjekt als einem tatsächlich autonomen Akteur, der von anderen Subjekten und den gesellschaftlichen Beziehungen unabhängig ist. Demgegenüber wurde zumeist auf die reale Abhängigkeit („Subjekt“ kommt vom lateinischen „Unterworfen-sein“) von anderen Subjekten und den Strukturen verwiesen.
5.2 Der New Materialism geht einen Schritt weiter und rückt die Abhängigkeit der Subjekte von den Objekten in den Mittelpunkt. Er entwirft die Vorstellung eines sozialen Miteinanders, in dem den Objekten eine eigenständige Wirkmächtigkeit zugestanden werden kann. Das geht bis hin zu der Forderung, einzelnen Landschaftselementen (z.B. Flüssen) eigene Rechte zukommen zu lassen. Hierbei wird die Subjekt-Objekt-Dichotomie jedoch nicht aufgelöst, sondern auf anderer Ebene reproduziert. Denn hinter dem Wunsch, dem Fluss Rechte zu geben, steht nichts weiter als die Vorstellung, ihn zum Subjekt machen zu können.
5.3 Zudem bleibt zumeist unklar, ob diese netzwerkartigen Beziehungen zwischen Menschen und Dingen bereits existieren oder erst noch ermöglicht werden (müssen). Diese Unklarheit scheint jedoch durchaus beabsichtigt zu sein.
5.4 Darüber hinaus wird oft das Denken in Ursache-Wirkungszusammenhängen sowie allgemein das Denken in klassischen Binaritäten kritisiert („Logozentrismus“). Dabei wird jedoch oftmals nicht klar, was genau behauptet werden soll: Ist es falsch eine Gesellschaft nach diesen Mechanismen einzurichten – oder soll abgestritten werden, dass diese Mechanismen heute eine zentrale Bedeutung in den Sozialbeziehungen haben?
5.5 Auch in ihren Texten versuchen die Autor:innen nicht selten, Ursache-Wirkungs-Beziehungen aufzulösen. Damit verwässern sie ihre eigene Argumentation und bieten vielfältige, individuelle Interpretationsangebote, die sich dann jedoch selber einer (rationalen) Debatte entziehen. Dass sie in den konkreten Beschreibungen einer post-prometheischen Perspektive regelmäßig in einem irrationalistisch-esoterischen Fahrwasser landen, macht die vorgetragene Kritik zusätzlich problematisch.
6. Emanzipative Kritik der modernen Naturverhältnisse
Eine emanzipative Kritik der modernen Naturverhältnisse bleibt nötig. Sie muss sich zwischen den beiden falschen Polen bewegen, die in diesem Papier skizziert wurden. Sie darf einerseits nicht die abstrakt-instrumentelle Vernunft des Prometheismus wiederholen, aber andererseits auch nicht in Irrationalismus und Esoterik abgleiten und vormoderne Prinzipien direkter Herrschaft und absoluten Mangels reproduzieren.
6.1 Es gibt bislang keine belastbare Formulierung davon, wie wir uns dieses Verhältnis vorzustellen haben.
6.2 Ein Teil davon könnte aber sein, an den Formen rationalen Weltverstehens festzuhalten, sie jedoch nicht absolut zu setzen. Wenn wir nicht innerhalb der warengesellschaftlichen Beziehungsform über instrumentelle Ziele und „Interessen“ sprechen, sondern die sozialen Beziehungen und die Naturbeziehungen selbst zum Gegenstand kommunikativer Prozesse machen, könnte sich hieraus vielleicht ein qualitativer Sprung ergeben.
6.3 Möglicherweise lässt sich diese Frage aber auch gar nicht theoretisch beantworten, bevor sich nicht eine ausreichende soziale Praxis gebildet hat, die dann in einem zweiten Schritt theoretisch reflektiert werden kann. Stünde die Formulierung nicht selbst im Esoterik-Verdacht, würde ich vermuten, dass wir das Neue erst erfahren müssen, bevor wir es begreifen können.
Vertiefende Literatur:
Bini Adamczak (2017): Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und die kommende. Berlin : Suhrkamp
Julian Bierwirth (2019): Die Geburt des Ich. Online Abrufbar unter: https://www.krisis.org/wp-content/data/krisis_1_2019-Bierwirth-Die_Geburt_des_Ich_web.pdf
Nick Gietinger (2023): Idealistischer Materialismus. Bruno Latour und die Prämissen einer unkritischen Theorie. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2023/idealistischer-materialismus-bruno-latour-und-die-praemissen-einer-unkritischen-theorie/
Bodo von Greiff (1977): Gesellschaftsform und Erkenntnisform. Zum Zusammenhang von wissenschaftlicher Erfahrung und gesellschaftlicher Entwicklung. Frankfurt/New York : Campus
Albert O. Hirschmann (1987): Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg. Frankfurt am Main : Suhrkamp
Ernst Lohoff (2005): Die Verzauberung der Welt. Die Subjektform und ihre Konstitutionsgeschichte – eine Skizze. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2005/die-verzauberung-der-welt
Rudolf W. Müller (1977): Geld und Geist. Zur Entstehungsgeschichte von Identitätsbewusstsein und Rationalität. Frankfurt/New York : Campus
Claus-Peter Ortlieb (1998): Bewusstlose Objektivität. Aspekte einer Kritik der mathematischen Naturwissenschaft. Online abrufbar unter: https://www.math.uni-hamburg.de/home/ortlieb/hb09bewobj.pdf
Eva von Redecker (2020) : Revolution für das Leben. Frankfurt am Main : Fischer
Fabian Scheidler (2021): Der Stoff aus dem wir sind. München : Piper