04.08.2024 

Verzerrtes Interesse an rechtem Terror. Der Anschlag in Halle 2019 – krisis 1/2024

Nele Fuchs

Download als PDF

Bestellen als Book on Demand

Liebe Leser:innen wir freuen uns über das Interesse an den Krisis-Beiträgen. Die Texte werden sorgfältig editiert. Der Aufwand ist nicht unbeträchtlich. Wir sind daher auf Spenden angewiesen, um Krisis-Beiträge auch zukünftig erstellen und anbieten zu können. Hier kannst du uns unterstützen.

Zusammenfassung

Die Reaktionen der sogenannten Mitte der deutschen Gesellschaft auf den rechtsterroristischen Anschlag in Halle am 9. Oktober 2019 offenbaren Motive, die auch in der Erinnerungskultur an die NS-Verbrechen zu finden sind. Statt einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen rechtem Terror und Kontinuitäten nationalsozialistischer Ideologien führt dies jedoch zu einem erinnernden vergessen. Der Attentäter und seine rechtsextreme Ideologie werden aus der Gesellschaft externalisiert, wodurch sich die Mitte als diskriminierungsfrei darstellen kann.

Die Mitte identifiziert sich latent mit dem Attentäter über das Ticket des nationalen deutschen Kollektivs, welche an NS-Erinnerungsnarrative anknüpft und mit der NS-Gefühlserbschaft verbunden ist. Nachfahren der NS-Täter und Mitläufer haben ein narzisstisches Berührungstabu (Jan Lohl) geerbt, das durch rechten Terror angegriffen wird. In Reaktion darauf wird der Täter ausgeschlossen und das emotionale Erinnern an den Anschlag abgewehrt. Die Selbstinszenierung der Mitte als das positive Gegenstück zum Attentäter steht jedoch im Gegensatz zu empirischen Studien wie der Leipziger Autoritarismus-Studie: autoritäre, rassistische und antisemitische Einstellungen in der Gesellschaft sind weit verbreitet und haben sich durch ökonomische Veränderungen der letzten Jahre zu einem Autoritarismus der Mitte verdichtet (Amlinger und Nachtwey).

Die sozialpsychologischen Dimensionen und Dispositionen dieser Tendenz stehen in einem Zusammenhang mit den Widersprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung. Erkenntnisleitend für diese These ist die Typologie von Vorurteilsstrukturen nach Elisabeth Young-Bruehl, die zeigt, dass verschiedene Ideologien im Subjekt ineinander verschränkt sind und als Antworten auf spezifische psychische Bedürfnisse der Subjekte verstanden werden können. Der Attentäter von Halle befreit stellvertretend jene Gefühle, die sich eine Mitte der Gesellschaft nicht eingestehen kann: Eine Gefühlsbefreiuung by proxy (Christine Kirchhoff). Während der Täter seine antisemitische und rassistische Ideologie radikal in die Tat umsetzt, kann sich die Mitte im Kontrast zu ihm als diskriminierungsfrei darstellen und gleichzeitig ihre eigenen Ressentiments durch ein verzerrtes Interesse an ihm ausleben. Dadurch wird die unbewusste Neigung zum Antisemitismus oder Rassismus abgewehrt, bei gleichzeitiger Erfüllung der verdrängten Bedürfnisse.

Zitation: Fuchs, Nele: Verzerrtes Interesse an rechtem Terror. Der Anschlag in Halle 2019. krisis. Kritik der Warengesellschaft 1/2024, Berlin: epubli 2024. https://www.krisis.org/2024/verzerrtes-interesse-an-rechtemterror/