02.12.2024 

Wahlkampf gegen Arbeitslose. Die CDU fordert im Wahlkampf die Abschaffung des Bürgergelds

Von Peter Samol

Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2024/47 vom 21.11.2024

Der Neuwahltermin steht fest, nun befinden sich alle Parteien im Wahlkampfmodus. Die Union stellt vor allem das ins Zentrum, woran auch die Regierungskoalition zerbrochen ist: Sie fordert Kürzungen beim Sozialetat, um die sogenannte Schuldenbremse nicht lösen zu müssen.

Am 23. Februar 2025 soll ein neuer Bundestag gewählt werden. Seit man sich auf diesen Termin geeinigt hat, verlagern sich die politischen Debatten von Formfragen wieder auf Inhalte. Zwei Themen stehen für die Union besonders im Vordergrund. Zum einen der Sozialstaat, an dem gespart werden soll; zum anderen die sogenannte Schuldenbremse, die keinesfalls gelockert werden dürfe.

Die sogenannte Schuldenbremse wurde 2009 ins Grundgesetz aufgenommen, sie begrenzt die jährliche Kreditaufnahme des Bundes auf 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das hat dazu geführt, dass in zahlreichen Bereichen der Infrastruktur nötige Investitionen ausblieben. Zukünftig muss der Staat hier deutlich mehr Geld ausgeben als bisher. Das betonten vergangene Woche sogar der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (die sogenannten Wirtschaftsweisen) in ihrem Jahresgutachten. Darin forderte er eine Lockerung der Schuldenbremse zu diesem Zweck – es handelt sich also keineswegs um eine exklusiv linke Idee.

Aus Sicht der Union soll es aber weder Steuererhöhungen noch neue Schulden geben. Stattdessen soll im Haushalt auf Kosten des Sozialetats umgeschichtet werden, insbesondere beim Bürgergeld.

Aber ist hier wirklich viel zu holen? Mit der Einführung des Bürgergelds im Januar 2023 wollte die Bundesregierung den Abschied vom Hartz-IV-System vollziehen. Das war insbesondere der SPD ein Anliegen, die endlich den schlechten Ruf loswerden wollte, den ihr die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe eingebracht hatte. Weniger Bestrafung, mehr Qualifizierung – so wurde das neue Gesetz damals beworben.

Doch die entscheidenden Härten des Hartz-Systems wurden durch die Reform nur leicht abgeschwächt, nicht abgeschafft. Etwa die Sanktionen, mit denen Arbeitslose gefügig gemacht werden sollten, um auch schlechte Arbeitsplätze anzunehmen. Auch muss nach einem Jahr immer noch das eigene Vermögen aufgebraucht werden, um Bürgergeld zu beziehen.

Die SPD wollte durch die Namensänderung den Eindruck einer großen sozialen Reform erwecken. Mit der Realität hatte das wenig zu tun – was aber die Union nicht davon abhielt, das Bürgergeld als eine solche zu attackieren.

Schon bald hatte das Feindbild des faulen Arbeitslosen wieder Konjunktur in der deutschen Öffentlichkeit. Das schwache Wirtschaftswachstum und der Zuzug von ukrainischen Flüchtlingen verstärkten entsprechende Ressentiments.

Schon ein Jahr nach Einführung der Reform verschärfte die Bundesregierung die Sanktionen wieder. Es wurde zum Beispiel wieder möglich, die Bezüge für zwei Monate komplett zu streichen. Mit der „Wachstumsinitiative“ der Bundesregierung wurden im Sommer weitere Verschärfungen beschlossen, etwa die Rückkehr der sogenannten Ein-Euro-Jobs: Wer sich angeblich nicht kooperativ zeigt, kann wieder zu Arbeitsmaßnahmen gezwungen werden. Eine entsprechende Anweisung an die Jobcenter hat die Bundesagentur für Arbeit Ende Oktober herausgegeben. Für 2025 ist zudem eine „Nullrunde“ der Bezüge geplant, also eine reale Kürzung des Bürgergelds.

Trotzdem legt die CDU nun den Fokus ihres Wahlkampfs auf die „Abschaffung des Bürgergeldes in seiner jetzigen Form“, wie es CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann kürzlich in einem FAZ-Interview ausdrückte. Dadurch seien im Bundeshaushalt zehn Milliarden Euro pro Jahr einzusparen, davon ein bis zwei Milliarden Euro durch eine Senkung der Regelsätze, die laut Linnemann zu hoch bemessen seien, weil man bei der jüngsten Erhöhung von einer stärkeren Inflation ausgegangen sei. Außerdem mutmaßt er, dass niedrigere Leistungen die Menschen zur Arbeitsaufnahme anspornen.

Dahinter steht die irrige Vorstellung, man müsse nur genug Druck ausüben, damit die meisten Arbeitslosen einen Job finden. Dabei können von den rund 5,6 Millionen Bürgergeldempfängern gerade einmal um die 1,7 Millionen theoretisch überhaupt eine neue Arbeit aufnehmen. Der Rest sind entweder Kinder (1,5 Millionen) oder sie sind in Ausbildung, studieren, erziehen Kinder, pflegen Angehörige, sind arbeitsunfähig, nehmen an arbeitspolitischen Maßnahmen teil oder sind „Aufstocker“, die arbeiten, aber zu wenig verdienen, um davon zu leben.

Weitere zehn Milliarden Euro brächte Linnemann zufolge eine strengere Migrationspolitik, insbesondere Kürzungen bei den Leistungen für ukrainische Geflüchtete. Insgesamt strebt Linnemann Einsparungen im Umfang von 50 Milliarden Euro an. Das sind rund zehn Prozent des Bundeshalts, der dieses Jahr 476 Milliarden Euro umfasst. Das sind ebenso rücksichtslose wie unrealistische Vorgaben.

Weil aber auch noch von der Union geforderte Steuererleichterungen und höhere Militärausgaben finanziert werden wollen, könnten sich CDU und CSU gezwungen sehen, die Schuldenbremse zu reformieren. Das zeichnet sich bereits jetzt ab. Am Mittwoch vergangene Woche rückte der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz auf dem Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung plötzlich von seinem strikten Nein zur Schuldenbremse ab. Auf die Frage nach einer möglichen Lockerung antwortete Merz: „Ist das Ergebnis, dass wir noch mehr Geld ausgeben für Konsum und Sozialpolitik? Dann ist die Antwort nein. Ist das Ergebnis, es ist wichtig für Investitionen, es ist wichtig für Fortschritt, es ist wichtig für die Lebensgrundlage unserer Kinder? Dann kann die Antwort eine andere sein.“

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken reagierte erfreut auf Merz’ Äußerung, sie finde dessen Argumentation richtig, „die Schuldenbremse nicht etwa für die konsumtiven Ausgaben zu lockern, sondern für die Investitionen zu öffnen”. Hauptsache nicht den Konsum stärken also – indem etwa die Renten erhöht werden oder die Kinderarmut bekämpft wird.

So ähnlich scheinen sich die Grünen zu positionieren. Bei ihrem Bundesparteitag am Wochenende wurde ein Antrag zur Abschaffung der Schuldenbremse abgelehnt. Stattdessen fordern die Grünen wie bisher eine Reform, die Kredite in dem Umfang ermöglicht, in dem der Staat Investitionen tätigt.

„Die deutsche Wirtschaft kommt nur in Schwung, wenn wir kräftig investieren“, sagte dazu der Vizevorsitzende der Bundestagsfraktion der Grünen, Andreas Audretsch. Gut denkbar, dass sich dafür nach der Wahl eine große Mehrheit im Bundestag finden ließe. Linnemann relativierte Merz‘ Aussage später zwar wieder – „die CDU steht zur Schuldenbremse, ohne Wenn und Aber”, sagte er –, aber es ist gut möglich, dass diese Position nach dem Wahlkampf aufgeweicht wird, insbesondere wenn die Union mit SPD oder Grünen koalieren müsste.

Eine solche Reform der Schuldenbremse hat allerdings einen gewaltigen Haken. Weil sie Bestandteil des Grundgesetzes ist, braucht es für ihre Änderung eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag. Zurzeit verfügen die dafür in Frage kommenden Parteien SPD, Grüne und Union über 71 Prozent der Bundestagsmandate. Das würde genügen. Nach der Bundestagswahl am 23. Februar wäre das jedoch absehbar anders. Sämtlichen Umfrageergebnissen zufolge würden die drei Fraktionen nach den Wahlen gemeinsam nur noch über 58 bis 62 Prozent der Sitze verfügen. Nötig wären 66,6 Prozent. Eventuelle weitere Mehrheitsbeschaffer – etwa das Bündnis Sahra Wagenknecht – würden sich die Unterstützung teuer abkaufen lassen.

Das ließe sich verhindern, wenn die Reform der Schuldenbremse vor der Neuwahl in Angriff genommen würde. Fraglich ist allerdings, ob sich Merz dazu durchringen kann, der noch amtierenden Regierung diesen Triumph zu gönnen.

Auch aus rein ökonomischer Perspektive war die Schuldenbremse schon bei ihrer Installation aberwitzig. Sogar bei hochprofitablen Unternehmen ist es mittlerweile üblich, Investitionen auf der Basis von Schulden zu tätigen – für Staaten gilt das umso mehr. Hinzu kommt, dass Staatsschulden immer in Relation zum Reichtum des gesamten Landes betrachtet werden müssen. Entscheidend ist die Schuldenquote, also das Verhältnis der Staatsschulden zum Bruttoinlandsprodukt (BIP). Diese Quote ist in Deutschland seit 2012 stetig gesunken: Damals betrugen die Schulden des Öffentlichen Gesamthaushalts 75,3 Prozent des BIP, 2022 waren es nur noch 61,2 Prozent. In jedem Jahr seit 2012 nahm die Quote ab, mit der Ausnahme eines kleinen Anstiegs im Jahr 2020, dem ersten Jahr der Covid-19-Pandemie.

So betrachtet entwickeln sich die deutschen Schulden seit über zehn Jahren positiv – trotz des russischen Überfalls auf die Ukraine mit all seinen Folgen, trotz der Covid-19-Pandemie und trotz der Mehrausgaben für die „grüne Transformation“. Wenn die Medien regelmäßig berichten, die Staatsschulden hätten einen neuen Höchststand erreicht, so ist das den absoluten Zahlen zufolge richtig, in der Sache aber zumindest irreführend. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Industrieländer eine deutlich höhere Schuldenquote haben als Deutschland – in Frankreich zum Beispiel lag sie 2022 mit 111,2 Prozent fast doppelt so hoch.