17.12.2024 

Warenform und Antisemitismus

Zu den politökonomischen Grundlagen von Moishe Postones Antisemitismustheorie

von Julian Bierwirth

In dem Essay “Antisemitismus und Nationalsozialismus” versucht Postone den Antisemitismus mit den Kategorien der Marxschen Warenanalyse zu begreifen. Der Aufsatz wurde gerade in der Zeitschrift diskus in Frankfurt neu veröffentlicht. Will man seinen Ansatz nachvollziehen, muss man sich also mit seiner Marx-Interpretation auseinandersetzen. Deshalb haben wir diesen Text zu der Neuveröffentlichung beigesteuert.

Moishe Postone knüpft in seinem viel diskutierten Essay “Antisemitismus und Nationalsozialismus” an eine Argumentationslinie an, die Marx in den ersten Kapiteln des Kapital entfaltet hat. Da Postones Text ein Verständnis der teilweise sperrigen Überlegungen aus Marx’ Kritik der Politischen Ökonomie voraussetzt, erscheint eine vorangehende Rekonstruktion notwendig. Das gilt umso mehr als Postone das Kapital auf eine Weise interpretiert, die sich deutlich von traditionsmarxistischen Analysen unterscheidet.1

Postone reagiert mit seiner Neuinterpretation des Marxschen Kapital auf eine Leerstelle in der zeitgenössischen linken Debatte seiner Zeit. Das seinerzeit vorherrschende traditionelle Verständnis des Kapitalismus hat den Nationalsozialismus zumeist als Ausdruck der kapitalistischen Klassengesellschaft verstanden. Nach dieser Sicht haben die herrschenden Klassen ihre Interessen verfolgt und deshalb, um ihre Herrschaft aufrechterhalten zu können, mit dem Nationalsozialismus ein faschistisches Regime etabliert. Gegen diese Sichtweise hat die kritische Auseinandersetzung in der Studierendenbewegung der 1960er-Jahre viel Material zusammengetragen. Eine grundlegende Reflexion der (offensichtlich unzureichenden) Auswirkungen, die sich dadurch für das Verständnis des Kapitalismus ergeben, stand jedoch noch aus.2 Einen ersten Schritt in diese Richtung ist Postone mit der hier neu aufgelegten Schrift gegangen.

Die Spezifik der Marxschen Kritik

Beim Marxschen Kapital handelt es sich um eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und der ideologischen Formen, die sie hervorbringt. Es ist also nicht der Anspruch von Marx, die Funktionsweise von „Gesellschaft überhaupt“ zu begründen oder Vorschläge für eine bessere Anwendung wirtschaftlicher Prinzipien zu unterbreiten. Ganz im Gegenteil strebt er eine grundlegende Kritik des Kapitalismus als einer historisch spezifischen Gesellschaftsform an. Er möchte die Prinzipien herausarbeiten, die den Kapitalismus als eine besondere, historisch entstandene Gesellschaft auszeichnen. Und er möchte zeigen, dass diese Gesellschaftsform einem guten Leben für alle im Wege steht.

Marx Darstellung erstreckt sich dabei auf zwei Aspekte, die Postone hervorgehoben hat: einerseits analysiert Marx die tatsächlichen sozialen Beziehungen der Menschen, andererseits formuliert er eine Ideologiekritik. Letzteres kommt immer dann zum Tragen, wenn er darauf hinweist, wie diese Beziehungen systematisch falsch verstanden werden und so zu Fehldeutungen der Wirklichkeit führen. In diesem Sinne setzt Marx die sozialen Beziehungsformen der Menschen im Kapitalismus mit ihrer ideologischen Verarbeitung ins Verhältnis.

Dementsprechend beginnt Marx seine Überlegungen mit sehr allgemeinen Kategorien, die seiner Auffassung nach bereits spezifisch für die kapitalistische Gesellschaftsform sind. Aus den Widersprüchen dieser Kategorien leitet er die historische Dynamik ab, die für den Kapitalismus eigentümlich ist. Eine Besonderheit dieser allgemeinen Kategorien am Anfang der Analyse ist, dass sie nicht unmittelbar an der empirischen Oberfläche der Gesellschaft erscheinen. In der Tradition Hegels geht Marx davon aus, dass die gesellschaftliche Dynamik des Kapitalismus dessen „Wesen“ ausmacht, welches dann aber durch besondere „Erscheinungsformen“ an die gesellschaftliche Oberfläche tritt.

Die Dialektik von Wert und Gebrauchswert

Wenn Marx also zu Beginn des Kapital den Kapitalismus als warenproduzierende Gesellschaft charakterisiert und mit den Besonderheiten der „Warenform“ beginnt, dann spricht er bereits über die spezifische Verfasstheit des Kapitalismus. Er zeigt zunächst, dass in einer Gesellschaft, in der sich die sozialen Beziehungen als Beziehungen von Waren (und Warenbesitzer_innen) darstellen, die einzelne Ware einen „Doppelcharakter“ bekommt. Einerseits ist sie ein sinnlich-konkretes Ding und damit ein Gebrauchswert. Andererseits ist sie auch die Repräsentation von abstrakter Gesellschaftlichkeit und damit Wert. Beide Eigenschaften kommen ihr nicht von „Natur“ aus zu, sondern aufgrund der spezifischen Gesellschaftlichkeit des Kapitalismus.

Marx stellt diesen Doppelcharakter im 1. Unterkapitel des Kapital zunächst am Beispiel der Ware dar. Im zweiten Unterkapitel wiederholt er die Argumentation im Wesentlichen auf der Ebene der Handlungen und entfaltet den „Doppelcharakter der in den Waren dargestellten Arbeit“. Denn auch sie stellt sich einerseits als konkrete Arbeit (die Gebrauchswerte produziert) und abstrakte Arbeit (die Wert als allgemeine gesellschaftliche Vermittlung produziert) dar.

Was manchen vielleicht etwas spitzfindig vorkommen mag, ist für Postone ein zentraler Baustein in der Analyse und Kritik des Kapitalismus. Dass der Kapitalismus eine Sphäre abstrakter Vermittlung etabliert, die von einer konkreten Stofflichkeit unterschieden werden muss, zeichnet den Kapitalismus vor allen anderen Sozialwesen aus. So unterschiedlich sie auch sein mögen, in nicht-kapitalistischen Gesellschaften finden wir für gewöhnlich weder eine solche Sphäre abstrakter Vermittlung noch die Vorstellung von konkreten, aus ihren Sozialbezügen herausgelösten und auf ihre reine Stofflichkeit reduzierten Dingen.

Die ideologiekritische Dimension der Wertformanalyse

Im Anschluss zeigt Marx zunächst, dass in der Warenbeziehung beide Dimensionen der Ware stets aufeinander verwiesen sind: Die einzelne Ware braucht immer den Gebrauchswert einer anderen Ware, um ihren Wert darzustellen. Insofern sind beide Seiten, die abstrakte und die konkrete, zwar analytisch in allen Waren enthalten, ihr Doppelcharakter kann allerdings nicht an der einzelnen Ware direkt erscheinen. Es braucht immer eine weitere Ware, die zur ersten in Beziehung treten kann, um den Doppelcharakter zu enthüllen. Das ist kein Wunder, schließlich ergibt sich diese spezifische Eigenschaft der Ware erst aus der Beziehung zu anderen Waren (und nicht etwa aus der Natur der Dinge). In diesem Sinne handelt es sich beim Wertverhältnis auch immer um eine Beziehungsform.

Marx diskutiert diesen Zusammenhang im Rahmen der Wertformanalyse am Beispiel der Warenbeziehung zwischen Rock und Leinwand, wobei in seinem Beispiel 20 Ellen Leinwand mit einem Rock in Beziehung gesetzt werden. Bei ihm klingt das dann so:

“Aber die zwei qualitativ gleichgesetzten Waren spielen nicht dieselbe Rolle. Nur der Wert der Leinwand wird ausgedrückt. Und wie? Durch ihre Beziehung auf den Rock als ihr „Äquivalent” oder mit ihr „Austauschbares”. In diesem Verhältnis gilt der Rock als Existenzform von Wert, als Wertding, denn nur als solches ist er dasselbe wie die Leinwand.”

MEW 23, 65

In der Beziehung von Leinwand und Rock, so argumentiert Marx hier, kann sich der Wert der Ware “Leinwand” darstellen. Er wird so für uns sichtbar – und zwar genau dann, wenn wir den Rock ansehen.

Das von Marx geschilderte Verhältnis ist offensichtlich absurd. Dass sich das Gesellschaftliche an der Leinwand im stofflichen Körper (!) des Rockes darstellt, ist ein uns ebenso einleuchtender wie verrückter Zusammenhang. Marx verweist deutlich auf diese Absurdität und wiederholt den Gedanken ein weiteres Mal, indem er von der “Rockform als Wertform” spricht. Dementsprechend hält Marx dann diese gegenseitige Verschränkung von Abstraktem und Konkretem als „Eigentümlichkeit“ der kapitalistischen Beziehungsform fest:3

“Die erste Eigentümlichkeit, die bei Betrachtung der Äquivalentform auffällt, ist diese: Gebrauchswert wird zur Erscheinungsform seines Gegenteils, des Werts.”

MEW 23, S. 70

Selbstverständlich ist die Perspektive, die Marx zum Beginn der Wertformanalyse wählt, noch sehr beschränkt. Denn die Leinwand steht ja im realexistierenden Kapitalismus nicht nur mit dem Rock in Beziehung, sondern mit einer ganzen Reihe weiterer Waren, letztlich mit der gesamten Warenwelt. Um die Vielfältigkeit dieser Beziehungen auszudrücken, braucht es nicht nur eine Vielzahl von Warenbeziehungen, sondern auch ein allgemeines Äquivalent, in dem die übrigen Waren ihren Wert spiegeln können. Dies finden sie, wie Marx in seiner umfangreichen Darstellung argumentiert, schließlich im Geld, der allgemeinen Ware (die zu Marxens Zeiten noch mit dem Gold identisch war (vgl. MEW 23, S. 77 – 85).4

Diese Darstellung impliziert, dass auch die Funktion des Äquivalents, die in Marx’ erstem Beispiel noch vom Rock verkörpert wurde, nun vom Geld selbst ausgeübt wird. Alle besonderen Waren stellen ihre Eigenschaft, Träger von Wert zu sein, nun in einer anderen Ware dar: im Geld. Die besonderen Waren erscheinen dann im Verhältnis zum Geld als reine Gebrauchsgegenstände, während die abstrakt-vermittelnde Dimension des Kapitalismus einseitig mit dem Geld identifiziert wird.

Der Warenfetisch und die falsche Wahrnehmung der kapitalistischen Gesellschaft

Im berühmten Fetischkapitel fasst Marx diese Argumentation zusammen und dechiffriert den Kapitalismus als eine Gesellschaft, in der sich die Beziehungen der Menschen als Ergebnis ihrer eigenen Handlungen verselbständigen und eine versachlichte Form annehmen. Auf diese Weise entsteht eine eigenartige, historisch-spezifische Abhängigkeit der Menschen von ihren sozialen Beziehungen. In diesem Sinne ist Herrschaft im Kapitalismus nicht einfach Herrschaft von einzelnen Menschen über andere Menschen – weshalb die beliebte linke Formel von der Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat auch am kritischen Kern der Marxschen Analyse vorbeischrammt. Die Wirklichkeit ist viel schlimmer: die Menschen bringen dadurch, dass sie ihre sozialen Beziehungen indirekt über die Produktion von Waren (und damit über die Arbeit) organisieren, ihre eigene Abhängigkeit von einem sich verselbständigenden, dynamischen System hervor. Die spezifische Verlaufsform dieser Dynamik, so wird Marx zeigen, folgt der Selbstzweckbewegung aus Geld mehr Geld zu machen. Das nennt er dann “Kapital”. Doch diese historisch spezifischen Abhängigkeitsbeziehungen spiegeln sich den Menschen in mystifizierter Form zurück. Marx formuliert das wie folgt:

“Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.”

MEW 23, S. 86

Was meint Marx mit diesem Satz? Er verweist zunächst auf die von den Menschen erzeugten “gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit”, womit er auf die eben beschriebenen Prozesse der Verselbstständigung anspielt. Diese allgemeine Abhängigkeit nehmen die Menschen aber nicht als Folge ihrer historisch-spezifischen Beziehungsform war. Stattdessen werden die Zwänge (z.B. als „Gesetze des Marktes“), denen sie ausgesetzt sind, als “gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst” und damit als “gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge” zurückgespielt. Damit wird aber die Ohnmacht gegenüber den eigenen gesellschaftlichen Verhältnissen nicht mehr als Folge gesellschaftlichen Handelns wahrgenommen, sondern stattdessen als vermeintlich überhistorisch gültiger Sachzwang.

Und damit nicht genug. Da die abstrakt-vermittelnde Dimension des Kapitalismus, die Marx mit der Kategorie „Wert“ identifiziert, sich nicht einfach gleichmäßig in allen konkreten Waren, sondern in der allgemeinen Ware, dem Geld, darstellt, wird dieses unmittelbar für die verallgemeinerte soziale Abhängigkeit verantwortlich gemacht. Die Ursachen der gesellschaftlichen Zwänge, die in der spezifischen Form der sozialen Beziehungen liegen, werden dabei ausgeblendet.

Die Dialektik von allgemeiner und besonderer Ware

Wir hatten bereits gesehen, dass die Waren in ihrer Warenbeziehung unterschiedliche Funktionen einnehmen. Zwar ist “Wert” eine Eigenschaft, die allen Waren zukommt. Und doch erscheint der Wert nur in der “allgemeinen Ware”, die die Äquivalentform für alle “besonderen Waren” darstellt: im Geld. Der Doppelcharakter der Warenwelt erscheint so als Doppelcharakter von besonderer und allgemeiner Ware. Marx schreibt deshalb im dritten Kapitel des Kapital über den kapitalistischen (Austausch-)Prozess:

“Er produziert eine Verdopplung der Ware in Ware und Geld, einen äußeren Gegensatz, worin sie ihren immanenten Gegensatz von Gebrauchswert und Wert darstellen. In diesem Gegensatz treten die Waren als Gebrauchswerte dem Geld als Tauschwert gegenüber. Andrerseits sind beide Seiten des Gegensatzes Waren, also Einheiten von Gebrauchswert und Wert. Aber diese Einheit von Unterschieden stellt sich auf jedem der beiden Pole umgekehrt dar und stellt dadurch zugleich deren Wechselbeziehung dar.“

MEW 23, 119

Marx beschreibt hier, wie der Doppelcharakter der Ware von Gebrauchswert und Wert in die Verdopplung von Ware und Geld mündet. Obwohl alle Waren sowohl einen Gebrauchswert als auch Wert haben, ist der Wert nicht direkt an ihnen sichtbar. Er erscheint im Geld. Die besondere Ware hingegen erscheint lediglich als konkret nützlicher Gebrauchsgegenstand.

Fetisch und Antisemitismus

An dieser Stelle knüpft Postone dann mit seinen Überlegungen zum Antisemitismus an. Er verweist zunächst auf den Doppelcharakter der Warenform und sodann auf die “Entäußerung” dieses Doppelcharakters:

“Die dialektische Einheit von Wert und Gebrauchswert in der Ware erfordert, daß dieser ,Doppelcharakter‘ sich in der Wertform entäußert, in der er ,doppelt‘ erscheint: als Geld (die Erscheinungsform des Werts) und als Ware (die Erscheinungsform des Gebrauchswerts).”

Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus

Dieser Prozess, so argumentiert Postone weiter, erweckt nun aber den Schein, als wären die konkreten Eigenschaften der besonderen Waren und die abstrakte Eigenschaft der allgemeinen Ware an die jeweiligen Waren gebunden – und nicht etwa von ihrer Stellung in der Warenbeziehung abhängig. Auf diese Weise scheinen die Geldstücke selber mit der abstrakten Herrschaftsdimension des Kapitalismus identisch, ganz so als läge es an den “gesellschaftliche[n] Natureigenschaften dieser Dinge” (MEW 23, S. 86).

Diese Darstellung der kapitalistischen Widersprüche sorgt dafür, dass der Gebrauchswert als “reine stoffliche Natur” (Postone, S. 184), der Wert hingegen als objektive Naturgesetzlichkeit erscheint. Diese falsche Dichotomie finden wir auch in gesellschaftlichen Ideologien wieder, was Postone dann ausführlich darstellt.

Nun bleibt diese Dichotomie zunächst selbst abstrakt und wird auf falsche Weise politisiert, indem ihre abstrakte Seite personalisiert wird. Gemäß der antisemitischen Logik muss jemand symbolisch für die vermeintliche Macht des Geldes einstehen. Da in der europäischen Geistesgeschichte das Judentum oftmals mit dem Geld assoziiert worden sei, so Postone, sei es am Ende auch kein Zufall, dass gerade den Jüdinnen_Juden diese Rolle zufiel.

In diesem Sinne reagiert der Antisemitismus auf die Ohnmachtserfahrung, welche die Subjekte im Kapitalismus machen müssen. Die Kritik richtet sich dann aber nicht gegen die realen Zwänge der kapitalistischen Vergesellschaftung, sondern projiziert diese auf eine bestimmte Gruppe von Menschen, welche vermeintlich für diese Zwänge verantwortlich sein soll. Die Jüdinnen:Juden werden dabei nicht nur einseitig mit der abstrakten Dimension des Kapitalismus identifiziert, ihnen wird zugleich jeder Bezug auf eine konkrete „Verwurzelung“ in der Welt abgesprochen. Auf diese Weise entsteht die Vorstellung einer abstrakten Herrschaftselite, deren vermeintliche Allmacht sich nur durch ihre Zerstörung brechen lasse.

Auf diese Weise kann Postone auch die Aspekte des nationalsozialistischen Antisemitismus erklären, die offensichtlich nicht in einer funktionalistischen Herrschaftslogik aufgehen. Er nennt beispielhaft die Nutzung von Transportkapazitäten für den Transport von Jüdinnen_Juden nach Ausschwitz statt für den Militärtransport. In der zeitgenössischen linken Diskussion wurde in diesem Sinne zudem auf dieErmordung von Tausenden gelernter Metallarbeiter aus polnischen Rüstungsbetrieben verwiesen, die sich einer rein ökonomischen Zweckrationalität entzieht.5

Postone interpretiert den modernen Antisemitismus somit als eine Ideologie, die aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft entsteht, die aber nicht funktional auf die Interessen einzelner kapitalistischer Fraktionen oder gar des kapitalistischen Gesamtprozesses zurückgeführt werden kann.

Die historische Dynamik des Kapitalismus

Der Kapitalismus stellt sich für Marx als ein Prozess dar, in dem sich die historisch spezifischen Handlungen der Menschen (die „Arbeit“) ihnen gegenüber verselbständigen und eine besondere Dynamik annehmen. In diesem Prozess wandeln sich nicht nur die materiellen ökonomischen Bedingungen, sondern auch die kulturellen Erscheinungsformen und Ideologien. Postone stellt gegen Ende vom Teil IV seines Beitrages noch einige Überlegungen dazu an, wie sich das auf die antisemitischen Denkmuster auswirkt.

Er argumentiert, dass in der Frühphase der kapitalistischen Aufstiegsgeschichte vor allem mechanistische Weltbilder prägend gewesen seien (wie sie sich etwa in der Aufklärung spiegeln), während im 19. und 20. Jahrhundert biologisch-naturalisierende Denkformen zunehmend an gesellschaftlicher Relevanz gewinnen, die prägend für den modernen Antisemitismus sind.

Ausgehend von Postones theoretischen Impulsen wäre es interessant, zu betrachten, wie die ungeheure fortschreitende Akkumulationsdynamik des Kapitals seit dem Ende des 2. Weltkriegs, die Globalisierung des Kapitals und die zunehmende Degradierung der Arbeit zu verstehen ist und wie sich dies im Wandel der antisemitischen Projektionsmuster niederschlägt (etwa in der Gestalt des Antizionismus oder der Figur der „globalistischen Eliten“).

Moishe Postone selbst hat dazu im Anschluss an seinen Text von 1979 einige Überlegungen angestellt.6 Auch andere, auf Verschwörungsmythen aufbauende Ideologien, die eine einzelne gesellschaftliche Gruppe als vermeintlich Herrschende dechiffrieren, könnten mit diesem begrifflichen Instrumentarium analysiert und kritisiert werden. Immer wieder zeigt sich jedoch, dass alle Verschwörungsmythen sich auch heute noch (und in zunehmender Weise) in der einen oder anderen Weise im Antisemitismus verdichten. Denn er ist mit dem Fetischismus der Warenform aufs Engste verknüpft.

1 Vgl. dazu auch sein Hauptwerk „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“, das in deutscher Übersetzung im ça ira-Verlag erschienen ist.

2 Vgl. Jens Benicke: Von Adorno zu Mao. Über die Aufhebung der antiautoritären Bewegung. Freiburg : ça ira-Verlag

3 Karl Reitter behauptet in seiner Kritik an Postones Text fälschlicherweise, es gäbe eine solche Gegenüberstellung von Abstraktem und Konkretem im Marxschen Werk gar nicht. Tatsächlich zieht sie sich aber durch die gesamte Darstellung im Kapital. Vgl. Karl Reitter: Marxistische Konstruktionen des linken Antisemitismus am Beispiel von Moishe Postones ,Nationalsozialismus und Antisemitismus‘. In: Gerhard Hanloser (Hg.): Linker Antisemitismus? Mandelbaum Verlag, Wien

4 Zur Kategorialen Bedeutung des Geldes unter besonderer Berücksichtigung seiner Wareneigenschaft vgl. Ernst Lohoff: Die allgemeine Ware und ihre Mysterien. Zur Bedeutung des Geldes in der Kritik der Politischen Ökonomie. Krisis-Beitrag 2/2018

5 Vgl. Tim Mason: Primat der Politik – Politik und Wirtschaft im Nationalsozialismus. In: Das Argument41/1966, S. 492

6 Vgl. etwa „Geschichte und Ohnmacht. Massenmobilisierung und aktuelle Formen des Antikapitalismus“ oder Postones Interview mit Martin Thomas: „Die mysteriöse Macht des Kapitals wird den Juden zugeschrieben“