Von Minh Schredle
Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2025/16 vom 17.04.2025
In ihrem Koalitionsvertrag kündigen Union und SPD die Demontage des Bürgergelds und des Rechts auf Asyl an. Mit weiteren Kürzungen im Sozialbereich ist zu rechnen.
Angela Merkel (CDU) warb in ihrem letzten Wahlkampf für »ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben«. Im Vergleich dazu scheint ihr Parteikollege Friedrich Merz eher bemüht zu sein, die Erwartungen herunterzuschrauben. »Wir wollen ein Land sein, das es einfach wieder besser macht« – so fasste der wohl baldige Bundeskanzler vergangene Woche die Absichten des von den Parteispitzen der CDU, der SPD und der CSU ausgehandelten Koalitionsvertrags zusammen.
Das wichtigste Ziel sei es, »Deutschland in neuer Geschwindigkeit zu neuer Stärke führen«, heißt es im Koalitionsvertrag. Die Rhetorik des Papiers fällt insgesamt durch einen aggressiven Unterton auf: Neben diversen »Qualitätsoffensiven« kündigen die mutmaßlichen Koalitionäre unter anderem eine »KI-Offensive«, »Sicherheitsoffensive«, »Investitionsoffensive«, eine »Offensive für Luft- und Raumfahrt«, »Fachkräfteoffensive«, »Anerkennungsoffensive«, »Rückführungsoffensive«, eine »Traineroffensive« (»Der Trainerberuf muss attraktiver werden«) sowie eine »Steuerentlastungs- und Entbürokratisierungsoffensive« an.
Zu Letzterer gehört die geplante Abschaffung des deutschen Lieferkettengesetzes. Dieses wurde 2021 nach zähen Verhandlungen von der vorigen schwarz-roten Koalition im Bund verabschiedet, trat am 1. Januar 2023 in Kraft und sollte sicherstellen, dass deutsche Unternehmen auch im Ausland zur Einhaltung von Menschenrechten verpflichtet sind. Erst im vergangenen Oktober hatte der Bundestag noch mehrheitlich einen Antrag der AfD-Fraktion zur Abschaffung abgelehnt.
Nun wollen Union und SPD das nationale Gesetz durch eines ersetzen, das die – weniger strenge – EU-Lieferkettenrichtlinie „bürokratiearm und vollzugsfreundlich umsetzt“. Die Berichtspflicht, mit der Unternehmen bislang nachweisen mussten, bei der globalisierten Warenproduktion entlang ihrer Lieferkette Mindeststandards zu wahren, „wird unmittelbar abgeschafft und entfällt komplett“. Die Abschaffung des deutschen Lieferkettengesetzes hatte freilich schon im vergangenen Jahr der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) angekündigt.
Durch solche Maßnahmen sollen „die Weichen wieder auf Wachstum“ gestellt werden, heißt es im Koalitionsvertrag. Insgesamt hält sich der dort ausformulierte Deregulierungseifer allerdings in Grenzen. Die von vielen befürchtete ganz große Attacke auf Arbeitnehmerrechte scheint vorerst auszubleiben: Die Streichung eines Feiertags, erschwerte Krankschreibungen, gelockerter Kündigungsschutz, beschnittenes Streikrecht, ein erhöhtes Renteneintrittsalter und andere Ideen, die Unternehmerverbände in jüngster Zeit ins Gespräch gebracht haben, fanden im Entwurf keine Berücksichtigung.
Einiges spricht aber dafür, dass der eine oder andere Vorschlag zur Konsolidierung der Staatsausgaben bald wieder auftauchen könnte. Der SPD-Co-Vorsitzende Lars Klingbeil betonte bei der Präsentation des Koalitionsvertrags: „Wir waren uns klar, dass wir uns künftig nicht alles leisten können.“ Im Entwurf heißt es: „Alle Maßnahmen des Koalitionsvertrages stehen unter Finanzierungsvorbehalt.“ Angekündigt ist zudem: „Wir werden in dieser Legislaturperiode einen erheblichen Konsolidierungsbeitrag erbringen.“ Und Merz kündigte „mutige und bisweilen auch unbequeme“ Entscheidungen an.
Man kann nur mutmaßen, was er damit meint – im Koalitionsvertrag sind die Passagen zu konkreten Haushaltskürzungen eher kurz gehalten. Prominent hervorgehoben ist der Plan, den staatlichen Verwaltungsapparat zu verschlanken: In der kommenden Legislaturperiode sollen acht Prozent aller Stellen in der Bundesverwaltung abgebaut werden, mit einer „Ausnahme für Sicherheitsbehörden“. Zudem sollen insgesamt eine Milliarde Euro bei „Förderprogrammen“ des Bundes eingespart werden. Und dann wird es schon so dünn mit konkreten Plänen, dass etwa ein fortgeschriebener „Aufwuchspfad“ bei der Tabaksteuer erwähnt werden muss – gemeint ist, dass sich der Staat noch mehr am Rauchen bereichern will.
Angesichts der angeblich knappen Kassen könnte man annehmen, dass vielleicht die Union auf eines ihrer Lieblingsprojekte verzichten würde, nämlich die Senkung der Körperschaftsteuer. Doch weit gefehlt, sie soll lediglich um ein paar Jahre verschoben werden. Ab 2028 soll die Steuer von derzeit 15 Prozent in fünf Schritten jährlich um jeweils einen Prozentpunkt gesenkt werden. Das ist ein riesiges Geschenk an Unternehmen. Diese sollen freilich auch jetzt schon Steuergeschenke erhalten, nämlich in Form von großzügigen Abschreibemöglichkeiten für Investitionen.
Wo aber soll das ganze Geld eingespart werden, das man bald den Unternehmen in den Rachen schmeißen will? Offenbar hofft die Koalition in spe vor allem auf eine Reform des Bürgergelds, bei dem sie das Hartz-IV-Prinzip der Peitsche ohne Zuckerbrot noch rigider durchsetzen will. Unter dem Stichwort Staatsfinanzen heißt es, man plane mit „Einsparungen beim Bürgergeld durch eine reformbedingt und zu erwartende bessere Arbeitsmarktintegration“. Erreicht werden soll das durch den Entzug des Existenzminimums: „Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen“, heißt es, mit dem Zusatz: „Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten.“
Das macht stutzig, denn die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat bereits unmissverständlich festgestellt, dass ein „vollständiger Leistungsentzug“ grundgesetzwidrig ist. In dem Urteil von 2019 stand zudem: „Es liegen keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern.“
Die Ankündigung zu sparen, gepaart mit Steuersenkungen für Unternehmen: Das alles deutet darauf hin, dass in der nächsten Legislaturperiode Kürzungen beim Sozialstaat bevorstehen, die im Koalitionsvertrag noch nicht angekündigt wurden. Jens Spahn (CDU), der als neuer Unionsfraktionsvorsitzender im Bundestag im Gespräch ist, erklärte bereits: „Bei den sozialen Sicherungssystemen haben wir noch eine Riesenbaustelle.“
Der Armutsforscher Christoph Butterwegge prognostizierte in der Taz, dass „unter der künftigen CDU/CSU-SPD-Koalition eine wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Zeitenwende folgen wird“. Auch die Gewerkschaft Verdi verweist in einer Bewertung des Vertrags auf Finanzierungslücken: „Die Steuersenkungen für Unternehmen, insbesondere die Senkung der Körperschaftsteuer, reißen Löcher in die staatlichen Finanzen, Vermögende und große Erbschaften blieben unangetastet, eine Einkommensteuerreform ohne ausreichende Gegenfinanzierung belastet auch die Haushalte der Kommunen.“
Eher als Randnotiz taucht auf den 144 Seiten der Klimaschutz auf. Zwar hält die neue Regierung am Pariser Abkommen fest, aber hinsichtlich der Autoindustrie predigt sie „Technologieoffenheit“ und verspricht, sich „aktiv dafür einsetzen, Strafzahlungen aufgrund der Flottengrenzwerte abzuwehren“. Solche Strafzahlungen drohen auf EU-Ebene, wenn die Fahrzeuge eines Herstellers im Schnitt Schadstoffgrenzwerte überschreiten. Der Verband der deutschen Autoindustrie (VDA) hatte Ende vergangenen Jahres gefordert, diese Grenzwerte aufzuweichen.
Union und SPD betonen, dass der deutsche Wirtschaftsstandort auf „qualifizierte Einwanderung“ angewiesen ist. Doch für Flüchtlinge soll die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen, stark eingeschränkt werden. In den Worten des Koalitionsvertrags: “Wir werden Migration ordnen und steuern und die irreguläre Migration wirksam zurückdrängen.“ Gelingen soll das vor allem durch die – gegen EU-Recht verstoßende – Zurückweisung von Asylsuchenden an den Grenzen.
Der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann versprach diese Woche den Vollzug einer „Migrationswende“ bis zum Sommer. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag, Thorsten Frei, kündigte regelmäßige Abschiebeflüge nach Afghanistan und Syrien an. Und Merz versprach Bild, zukünftig werde es in Deutschland nicht mehr als 100 000 Asylanträge pro Jahr geben.
Die Forderung nach einer solchen „Obergrenze“, die mit dem individuellen Recht auf Asyl kaum vereinbar ist, hatte vor einigen Jahren noch erbitterte Debatten ausgelöst – damals hatte Horst Seehofer (CSU) noch die aus heutiger Sicht geradezu großzügige Zahl von 200 000 genannt. Dass die Union durch diesen Kurs AfD-Wähler zurückgewinnt, ist bislang nicht erkennbar. In zwei jüngsten Umfragen zur Bundestagswahl erreichte die AfD einen Rekordwert von 24 Prozent und lag in einer Umfrage sogar zum ersten Mal gleichauf mit der Union.