22.01.2025 

Merkantilismus zweiter Ordnung. Über das Buch „Digitaler Kapitalismus“ von Philipp Staab

von Julian Bierwirth

Philipp Staab hat mit seinem Buch zum Digitalen Kapitalismus einen soziologischen Wurf im klassischen Sinn hingelegt. Klassisch soziologisch gleich in doppelter Hinsicht: Einerseits beschreibt der Autor sehr scharfsinnig die Transformationen der digitalen Ökonomie, die vor unseren Augen vor sich gehen. Gleichzeitig tut er das jedoch mittels eines sehr undurchsichtigen polit-ökonomischen Begriffsapparates aus, der irgendwo zwischen liberaler und marxistischer Soziologie hin und her pendelt.

Ausgangspunkt der Analyse ist die Annahme einer krisenhaften ökonomischen Entwicklung im globalen Kapitalismus, deren Beginn der Autor gegen Ende der 1960er-Jahre ansetzt. Allerdings verhandelt er die Krisenursache sehr traditionell und sieht sie in gesättigten Absatzmärkten und sinkender Arbeitsproduktivität begründet.

Digitaler Kapitalismus und Finanzmarkt

Das besondere an Digitalunternehmen wie Google, Amazon, Facebook, Apple, Microsoft, (GAFAM) ist nach Staab nicht die spezielle Art der Waren, die sie herstellen. Vielmehr sei für sie zentral, dass sie Märkte organisieren und damit allgemein-gesellschaftliche Infrastruktur in privatisierter Form bereitstellen. Er interpretiert diese ökonomische Situation als das Ende des Neoliberalismus und als Übernahme staatlich-regulativer Funktionen durch private Akteur:innen. Vor diesem Hintergrund bekommen die Aktionen zur Zerschlagung des offiziellen Rest-Staates, wie sie etwa Elon Musk anstrebt, eine ganz neue Dimension, die weit über die in den Medien ablesbare Dimension dieser Pläne hinausgeht.

Ihren Anfang nahm die von Staab geschilderte Entwicklung interessanterweise mit den harten ordnungspolitischen Maßnahmen der postfordistischen Staaten, die zur Stärkung von Wettbewerbsimpulsen die alte fordistisch-zentralisierte Informationsinfrastruktur zerschlagen hatten – Beispiele hierfür sind etwa die Privatisierung der Telekom in Deutschland oder die Zerschlagung des Telekommunikationsunternehmens AT&T in den USA. Das Ziel dieser Maßnahmen war es, die neutrale Funktion der Märkte zu garantieren. Im Ergebnis haben private Akteur:innen die Marktfunktionen privatisieren können und damit das staatliche Neutralitätsgebot ausgehebelt.

Zentral für den Digitalen Kapitalismus ist die Verkehrung von Knappheit und Überfluss. Die fordistische Ökonomie war in gewisser Weise mit dem Ziel betraut, Knappheit zu bekämpfen. Denn industriell produzierte Güter sind in gewisser Weise „natürlich” knapp: Ein Brötchen kann ich nur einmal essen, ein Auto kann zu einem Zeitpunkt nur einen bestimmten Raum durchqueren etc. Die Digitalgüter hingegen sind „natürlicherweise” erst einmal nicht knapp und zur gleichen Zeit mehrfach und an mehreren Orten nutzbar. Die zentrale Aufgabe der Ökonomie besteht nun darin, diesen Überfluss zu minimieren und Knappheitsrelationen durch die Etablierung spezifischer Warenmärkte durchzusetzen.

Staab analysiert die Digitalunternehmen und die Finanzmärkte als zusammengehörige Entwicklungen. Er zeigt, wie der Aufstieg der Digitalunternehmen zu zentralen ökonomischen Playern und der Aufstieg des Finanzmarktkapitalismus einander gegenseitig bedingen. Verknüpft sind die beiden Bereiche vor allem durch die Finanzierung der Digitalunternehmen mit Risikokapital, das ihnen von Finanzmarktakteur:innen zur Verfügung gestellt wird. Der Autor liefert zur Unterfütterung dieser These eine ganze Menge an empirischem Material und weist zudem auf viele Parallelen hin. So finden sich etwa in beiden Geschäftsfeldern automatisierte Wetten auf die Zukunft, die mittels automatisierter KI-Routinen abgewickelt werden.

Die oft jahrelangen Phasen, in denen die Tech-Unternehmen keine eigenständigen Gewinne machen, interpretiert Staab als strategisches Investment zur Schaffung der systemischen Voraussetzungen – vor allem in „geschlossene technische Ökosysteme”, die später dann Informationsrenten in hohem Umfang garantieren. Um Renten handelt es sich deswegen, weil die Nutzung der besagten „technischen Ökosysteme” irgendwann mit einer Nutzungsgebühr belegt werden können, die genauso funktionieren wie die Bodenrenten, die Landbesitzer für die Nutzung ihres Grund und Bodens erheben.

Staab zeigt zudem, dass es für die Startup-Unternehmer:innen bei der Unternehmensplanung oftmals gar nicht darum geht, jemals positive Zahlen zu erwirtschaften oder fertige Produkte zu verkaufen. Stattdessen wird bei der gesamten Konstruktion des Unternehmens bereits ein fertiger Ablauf einkalkuliert: Erst wird Risiko-Kapital in mehreren Runden eingeholt, dann wird der Betrieb verkauft. Daraus werden dann die Gründer:innen und viele der hochqualifizierten Angestellten (z.B. Programmierer:innen) bezahlt. Der entsprechende Plan wird bereits im Vorhinein in bestimmten Verträgen (Arbeitsverträge, Verträge zur Absicherung des Risikokapitals etc.) festgehalten. Dementsprechend dreht sich die weitere Tätigkeiten des Unternehmens zentral darum, die Investor:innen bei der Stange zu halten und den Betrieb bis zur geplanten Veräußerung am Laufen zu halten. Ob dann wirklich noch am Programm geschrieben wird, spielt keine (oder nur eine untergeordnete) Rolle:

In der Logik des Risikokapitals war dies nur konsequent: Das entscheidende Produkt war nie die betreffende Software, sondern die Unternehmensanteile, deren Wert sich wiederum allein aus den über spezifische Kennzahlen erzeugten Erwartungen ergab.“ (S. 131)

Das digitale Regulationsregime

Bei diesen Prozessen nutzen sich finanzstarke Akteur:innen wie Softbank und innovationsfreudige Akteur:innen wie Uber gegenseitig als Werkzeug, um Profite zu generieren. Durch jederzeit verfügbares Risikokapital kann Uber kostengünstigere Fahrten anbieten als die Konkurrenz. Wenn das lange genug aufgeht, ist die Konkurrenz pleite, die Marktanteile des Unternehmens und damit auch die Börsenkurse steigen, was wiederum zusätzliches Kapital für die Preisstabilisierung bringt.

Ganz ähnliche Prozesse lassen sich derzeit übrigens auch bei Amazon beobachten. Das Unternehmen kauft ganze Chargen von Büchern auf, die dann nicht mehr über den sonstigen Buchhandel bezogen werden können, sondern nur noch bei Amazon erhältlich sind. Perspektivisch werden dadurch Thalia und Co. kaltgestellt (ganz zu Schweigen von kleinen Buchläden) und es bleibt am Ende nur Amazon übrig.

Ideologisch wird bei diesen ganzen Prozessen die Krise immer schon mit eingepreist und unter dem Begriff „permanente Disruption” als neue Normalität ausgegeben: Zwischendurch gibt es immer mal wieder Einbrüche, die aber der Wirtschaft angeblich guttun, indem sie der Marktbereinigung dienen (Die „kreative Zerstörung” von Schumpeter lässt grüßen). Das ideologisch angepriesene Ziel der Befürworter der Digitalwirtschaft ist nicht länger der langsame und stetige Trend, sondern die Errichtung neuer Strukturen, über die man selbst die volle Kontrolle hat. Auf den Punkt bringt diese Haltung ein gewisser Jeff, seines Zeichens Angestellter in einem Digitalunternehmen: „Sollte Kapital dadurch in risikoreichere Investitionen, in vielversprechende Regionen wie das Silicon Valley fließen? Ja, ich denke, das stimmt. Wird dabei auf lange Sicht viel Geld verschwendet? Ja, natürlich! Aber unterm Strich stehst du wesentlich besser da, als hättest du es nie versucht.” – Die Haltung derer, die an der Produktion dieser neuen Digitalprodukte teilnehmen, scheint damit hochgradig affirmativ. Jeff sieht die Gefahren, interpretiert sie jedoch als Chance. Jede Kritik an dem, was da passiert, würde vermutlich an ihm abprallen. Es ist eben, was es ist.

Polit-Ökonomisch entwickelt Staab die Ursachen dieser Entwicklung im Rahmen einer Unterkonsumtionstheorie, die jedoch durchaus Anknüpfungspunkte an die wertkritische Position enthält. Mit der Mikroelektronischen Revolution, so seine Überlegung, sei immer mehr Arbeitskraft aus dem Produktionsprozess verdrängt und auf diese Weise die Nachfrage geschwächt worden. Das hätten zunächst die Staaten im klassisch-keynesianischen Setting auszugleichen versucht (Stärkung der Infrastruktur durch deficit spending, sprich erhöhten Staatskonsum oder auch Stärkung der individuellen Nachfrage durch hohe Löhne bei Staatsangestellten). Das habe jedoch zu Inflationstendenzen geführt, ohne das Problem der Stagnation zu beheben (Stagflation). Im nächsten Schritt ist der privatisierte Keynesianismus an die Stelle der durch staatliche Verschuldung betrieben Konsumtion getreten. Denn die Privaten hätten sich in der Folgephase weit stärker am Dogma der Schwäbischen Hausfrau versündigt als die Staaten und ihrerseits mittels Schuldenmachen konsumiert. Irgendwann sei aber auch dieser Mechanismus in die Krise gekommen (2008) und im nächsten Zug sei dann der Digitalkapitalismus aufgestiegen, der bis heute mittels der oben beschriebenen Mechanismen für Nachfrage-Generierung sorgt.

Wie bereits erwähnt, bauen die GAFAM-Konzerne ein „soziotechnisches Ökosystem” auf, in dem sich die Nutzer:innen bewegen sollen und von dem sie zunehmend abhängig werden. Die Angebote stellen dabei ganz zentral Plattformen dar, die im kapitalistischen Umfeld als „Märkte” fungieren. Gleichzeitig sind die GAFAM-Konzerne auf ihren Plattformen die zentralen ökonomischen Player, was wiederum zur Auflösung der gesellschaftlichen Allgemeinheit führt, die früher einmal einem Marktplatz – auf dem sich die Teilnehmer:innen als Freie und Gleiche bewegen sollen – zugrunde lag. Die Tendenz zur Übernahme von Aufgaben, die als gesellschaftliche Allgemeinheit bislang vom Staat ausgeführt wurde, scheint dabei kein Ende zu nehmen. Dabei kommt es haufenweise zu Parallelstrukturen, die im Grunde überflüssig sind. So haben beispielsweise alle Plattformen den Versuch unternommen, die finanztechnische Abwicklung der eigenen Plattform zu kontrollieren und entsprechende Zahlungsformate entwickelt. Meta/Facebook ist sogar so weit gegangen, 2019 die Einführung einer eigenen Kryptowährung anzuvisieren, die als eine Art Weltwährung fungieren sollte. (Massive Interventionen und Ankündigungen von US-Behörden haben allerdings dazu geführt, dass dieses Vorhaben wieder fallen gelassen wurde.) Nun beginnen diverse GAFAM-Konzerne, die technische Infrastruktur für ihre Plattformen (z.B. in Form von Überseekabeln) selbst zu verlegen (und damit perspektivisch auch deren Nutzung zu kontrollieren).

Die Doppelfunktion als Organisation proprietärer Märkte und als Anbieter:in auf diesen Märkten führt dazu, dass die GAFAM-Konzerne ihre Informationshoheit über das Marktgeschehen nutzen, um erfolgreiche Konkurrenzprodukte gegebenenfalls selbst anzubieten und die ursprünglichen Anbieter:innen von ihrer Plattform zu verbannen (solche Vorkommnisse sind in mehreren Fällen dokumentiert). Hinzu kommt, dass etwa Amazon selbst als Investor für Risikokapital auftritt und sich so auf Unternehmen in der eigenen Peripherie (die z.B. Anwendungen für die eigenen Hardware anfertigen) einen exklusiven Zugriff sichert.

Bei den großen chinesischen Anbieterinnen wirken die Abhängigkeitsbeziehungen noch einmal anders, denn diese zielen immer nicht nur auf die Verbesserung von unternehmerischen Wettbewerbsposition, sondern auch auf die Ausdehnung der politischen Macht Chinas. Während es den GAFAM-Konzernen egal ist, was mit den nationalen Marktgesellschaften passiert, ist Aliexpress, Temu, Bytedance & Co. klar, dass sie auch im Auftrag Chinas unterwegs und vom Wohlwollen ihrer eigenen Regierung abhängig sind. Unter dem Strich spielen dadurch beide Seiten jeweils einer Stärkung der autoritären Tendenzen und einer Schwächung des liberalen innerkapitalistischen Blocks in die Hände.

Freiheit und Abhängigkeit im Digitalen Kapitalismus

In der Wirtschaftssoziologie und auch im Kontext der wertkritischen Krisentheorie wurde schon viel über die Diversifizierung der Produktion gesprochen. Mit ihr einher geht eine Diversifizierung des Konsums, die sich durch den Digital-Kapitalismus noch einmal zugespitzt. Denn die vereinzelten Konsument:innen können auf den neuen Digital-Plattformen nicht nur individuelle Produkte für sich entdecken, die Plattformen schaffen auch eine jeweils einzigartige Möglichkeit, die eigenen Bedürfnisse zu sensationell günstigen Preisen befriedigt zu bekommen. Während sich dabei zugleich die Arbeitsbedingungen im Spätkapitalismus stetig verschlechtern, wird über den Digital-Kapitalismus eine finanzmarktfinanzierte Niedrigpreis-Konsumstrategie offeriert, die dann helfen soll, den Stress bei der Arbeit durch individuell zugeschnittene Konsumwünsche zu kompensieren. In diesem Sinne sind die kapitalistischen Subjekte Gewinner:innen dieser Situation, sofern sie konsumieren. Sofern sie produzieren, wird ihre Lage freilich immer unerträglicher.

Auch in der Arbeitswelt werden die neuen technischen Überwachungssysteme angewandt, mit dem Ziel das betriebliche Herrschaftsarrangement zu perfektionieren. Dabei fallen dem technischen System mittels algorithmisierter Überwachung auch die Dinge auf, die menschlichen Aufseher:innen verborgen bleiben; immerhin aber haben auch die Algorithmen Schwächen und lassen sich daher auf Arten austricksen, auf die wiederum echte Aufseher:innen nicht hereinfallen würden. Die betriebliche Herrschaft wird dabei in gewisser Weise dreigeteilt: Ein Teil geht auf Algorithmen über, ein anderer Teil wird in gegenseitige Peer-to-Peer-Überwachung verwandelt und ein dritter Teil wird den Kunden überantwortet.

Die durch diese Methoden verwendeten Informationen werden dann vom Personalmanagement in anonymisierter Form verwendet. Für die Mitarbeiter:innen ist daher nie klar, welche ihrer Handlungen zu welcher Bewertung durch welche Person geführt wurde. Das verstärkt einen verallgemeinerten Druck, bei dem sich alle dauerhaft im Panoptikum von Bentham wähnen. Neben dem steigenden Arbeitsdruck kann dann auch über die Lohnschraube die „Leistung” der Mitarbeiter:innen in Lohnsenkungen und Lohnerhöhungen transformiert werden. Auch individuelle Überwachung, z.B. über Smart-Watches erhobene Leistungsdaten wie etwa Puls oder Blutdruck können Auskunft darüber erteilen, wer sich ordentlich angestrengt hat und wer nicht. Entsprechenden Scores, die dabei erstellt werden, dienen auch als Zugangs- und Teilhabeschranke: Nur wer über einen entsprechend guten Score-Wert verfügt, kann auf einen bestimmten Arbeitsplatz oder eine Lohnerhöhung hoffen. Auf diese Weise werden die Individualisierung und die gegenseitige innerbetriebliche Konkurrenz auf ein ganz neues Niveau gehoben. Die Kontrolle des Marktes bleibt auch hier das zentrale Ziel der Betriebe, was von Staab etwa an Beispielen von Recruiting-Verfahren, Lohndifferenzierungen etc. nachgezeichnet wird.

Privatisierter Merkantilismus

Gesamtgesellschaftlich versucht Staab, die neue Situation als eine Art privatisierten Merkantilismus zu fassen. Hier treten bestimmte Aspekte aus der Frühphase der kapitalistischen Modernisierung (der starke Fokus auf Gewinne die im Handelsbereich erzielt werden, die große Bedeutung hegemonialer Player etc.) in neuer Form auf. Ebenso wie früher in den Kolonialgesellschaften werden auch hier enorme Reichtümer aufgehäuft. Doch während etwa die britische Ostindien-Kompanie ihr zerstörerisches Werk vor allem in der globalen Peripherie abwickelte und dort traditionelle, meist aus vorkapitalistischer Produktionsweise stammenden Reichtümer abräumte und so der kapitalistischen Verwertung zuführte, werden nun bereits kapitalistisch produzierte Infrastrukturen abgeräumt und privatisiert.

Durch die Privatisierung der Gewinne unterscheidet sich die neue ökonomische Form von der Frühphase der Warengesellschaft. Ginge es in letzterer noch um die Etablierung und den Ausbau kapitalistischer Mechanismen, steht die aktuelle Ausplünderung der kapitalistischen Infrastrukturen im Mittelpunkt für das schamlose Verbrennen der Reste sinnlich-stofflicher Infrastrukturen, die der Kapitalismus als Nebenprodukt abgeworfen hatte.

Dieser Prozess begann mit der Privatisierung der Telekommunikations-Infrastruktur und geht mit der Einrichtung privatisierter Markt-Infrastrukturen (Plattformen, Cloud-Services, Datensammlungen) weiter. Dabei fehlt (im Vergleich zum Fordismus) jedoch der Rückfluss der Gelder (z.B. durch Steuern) in die Finanzierung der Reste der verbleibenden öffentlichen Infrastruktur, z.B. von Straßen, Bildungseinrichtungen oder etwa Schwimmbädern. Diese wird weiter der öffentlichen Hand aufgebürdet, die sie jedoch durch öffentliche Produktion von Fiktivem Kapital (Staatsschulden) bzw. durch Einsparungen (etwa bei den Sozialleistungen, Schienennetz, Verwaltung etc.) finanzieren muss. Weil sich die Digitalunternehmen ebenso wie die Finanzmarkt-Akteur:innen aufgrund ihrer internationalen Aktivität nicht gut besteuern lassen, funktioniert das neue Regulationsregime als massive soziale Abwärtsspirale.

Auf diese Weise entsteht ein Regime, bei dem die Gewinne umstandslos nach oben zu den Privatunternehmen wandern, während die Risiken nach unten auf die Allgemeinheit abgewälzt werden (Staab bezeichnet das als „Risikokaskaden”). Dabei zeigt er einerseits sehr schön, dass dieser Mechanismus auf den finanziellen Zufluss von Geldern aus dem Finanzkapital angewiesen ist. Andererseits und gleichzeitig argumentiert der Autor auch dahingehend, dass die Gewinne z.B. beim Amazon-Marketplace durch die Gebühren der Produzent:innen (d.h. der industriellen Kapitalist:innen) anfallen, diese ihre Gewinnspielräume jedoch durch eine Verschärfung des Arbeitsregimes sicherstellen – oder es zumindest versuchen. Deshalb bedeute der Prozess „in der Summe [etwas,]… das man auf den Begriff der Enteignung von Arbeit bringen kann.” (S. 274)

Der Autor legt dabei nahe, dass „die Gewinne der Anteilseigner letztlich aus Lohnsenkungen finanziert” (S. 275) würden und versteht dabei die Enteignung der Arbeit in einem traditionell-marxistischen Sinne. Tatsächlich ließe sich jedoch eher von einer Enteignung der Verfügungsmacht über die Ware Arbeitskraft in dem Sinne sprechen, dass durch die Verschiebungen der neuen Ökonomie die Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft nicht nur mit den industriellen Kapitalist:innen, sondern außerdem noch auf die Fortsetzung der Akkumulation von „Fiktivem Kapital“ ausgerichtet werden müssen. In diesem Sinne hat die Ware Arbeitskraft ihre zentrale Rolle im kapitalistischen System verloren – was ja auch eine Art Enteignung ist.

Staab schildert auch die Transformation der Konflikte, die sich aus der neuen Konstellation ergeben. „Kapital und Konsument versus Arbeit” sei demnach die neue Konfliktkonstellation. Staatspolitisch geht mit der Tendenz zur Privatisierung der gesellschaftlich-allgemeinen Infrastruktur zugleich eine Verwandlung der Bürger:innen in Konsument:innen einher. Ideologisch werden so die Versprechen, die einst mit der Allgemeinheitsperspektive des Staates verbunden waren, in Konsumrechte verwandelt.

Phillip Staab: Digitaler Kapitalismus
Markt und Herrschaft in der Ökonomie der Ungleichheit
Berlin: Suhrkamp 2019, 3. Auflage, 345 Seiten