Von Marcos Barreira
(Zuerst erschienen in der Jungle World 2025/09 vom 27.02.2025)
Die Generalstaatsanwaltschaft Brasiliens hat beim Obersten Gerichtshof des Landes Anklage gegen den ehemaligen Präsidenten Bolsonaro erhoben. Neben einer detaillierten Strategie für einen Staatsstreich fanden die Behörden bei ihren Ermittlungen offenbar auch Pläne für die Ermordung von Präsident Luiz Inácio »Lula« da Silva.
Rio de Janeiro. Die Beweislast scheint erdrückend. Am 18. Februar reichte Generalstaatsanwalt Paulo Gonet die lang erwartete Anklage gegen Brasiliens ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro und 33 weitere Beschuldigte beim Obersten Bundesgericht (STF) ein. Unter den Beschuldigten sind Generäle und Minister. Die in der Anklage erhobenen Vorwürfe umfassen den Versuch eines Staatsstreichs im Jahr 2022, nachdem Bolsonaro die Präsidentschaftswahlen verloren hatte, die Zerstörung öffentlicher Kulturgüter sowie die Bildung einer kriminellen Vereinigung. Bei den Ermittlungen ist die Polizei außerdem auf Hinweise gestoßen, die nahelegen, dass die Beschuldigten planten, den heutigen Präsidenten Luis Inácio »Lula« da Silva, den Richter Alexandre de Moraes und Vizepräsident Geraldo Alckmin zu ermorden.
Während seiner Amtszeit (2018 bis 2022) hatte Bolsonaro wiederholt den Konflikt mit dem STF gesucht und seine Anhängerschaft gegen die demokratischen Institutionen und insbesondere den STF aufgehetzt. Von Beginn an wurde befürchtet, dass Bolsonaro mit dem Gedanken spiele, sein Amt nach vier Jahren auch ohne demokratische Legitimation zu behalten. Mehrmals brachte er seine Missachtung für die demokratischen Institutionen zum Ausdruck. Im Juli 2021 sanken Bolsonaros Zustimmungswerte wegen seines katastrophalen Managements der Covid-19-Pandemie stark. Zuvor, im März 2021, hatte sein wichtigster politischer Widersacher, der ehemalige – und seit 1. Januar 2023 erneut amtierende – Präsident Lula da Silva, seine politischen Rechte zurückerlangt, so dass seiner Präsidentschaftskandidatur nichts mehr im Weg stand. Bolsonaro reagierte auf diese Entwicklung mit einer Kampagne zur Delegitimierung des Wahlsystems.
So behauptete er bei einem Treffen mit ausländischen Botschaftern im Regierungssitz im Juni 2022, das elektronische Wahlsystem Brasiliens sei manipulationsanfällig, und verbreitete allgemein das Gerücht, ein Wahlbetrug zu seinen Ungunsten stehe bevor. Aufgehetzt durch diese Verschwörungserzählungen kam es nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen wiederholt zu Versammlungen vor den Kasernen der Armee, bei denen Demonstranten eine Militärintervention zu Bolsonaros Gunsten forderten. Diese Dynamik verbreitete sich zeitweise sogar innerhalb der Kasernen.
Am 30. Oktober 2022 dann unterlag Bolsonaro in der Stichwahl und verließ im Dezember – noch vor Lula Da Silvas Amtseinführung – das Land gen USA. Dort hielt er sich auch am 8. Januar auf, als es eine Woche nach der Vereidigungszeremonie in der Hauptstadt Brasília zu Unruhen kam. Mit Buskonvois waren Tausende von Bolsonaros Anhängern aus verschiedenen Regionen des Landes angereist, um Straßen zu blockieren und die Sitze der drei Staatsgewalten zu belagern. Einigen gelang es, in Regierungs- und Justizgebäude einzudringen und sie zu verwüsten.
Gleichzeitig kam es zu kleineren Anschlägen auf Polizeidienststellen. Lula war zu diesem Zeitpunkt nicht in Brasília und verhängte den Notstand im betreffenden Bundesstaat Distrito Federal. Dessen Gouverneur Ibaneis Rocha wurde vorübergehend seines Amtes enthoben und der Sicherheitsminister der Hauptstadt, Anderson Torres, verhaftet.
2023 nahmen die Ermittlungen Fahrt auf
Im Laufe des Jahres 2023 nahmen die Ermittlungen der Bundespolizei gegen die mutmaßlichen Drahtzieher hinter den Unruhen Fahrt auf. Zwei Schlüsselfiguren in diesen Ermittlungen sind Anderson Torres, der unter Bolsonaro auch als Justizminister fungierte, und Mauro Cid, ein Offizier der Armee, persönlicher Adjutant des ehemaligen Präsidenten und inzwischen Kronzeuge im Verfahren gegen diesen. Torres wurde beschuldigt, die Invasion und Verwüstung öffentlicher Gebäude erleichtert zu haben.
In seinem Haus fand die Polizei ein Dokument, das im Regierungssitz erstellt worden war und detailliert die »rechtlichen Maßnahmen« darstellt, die die Putschisten ergreifen wollten: die Aussetzung der Präsidentschaftswahl und die Verhaftung von Richtern des Obersten Gerichtshofs, allen voran Richter Alexan-dre de Moraes, der zur Hauptzielscheibe der extremen Rechten geworden war.
Das Dokument sei von Bolsonaro selbst mit Anmerkungen versehen worden. Auf dem Computer von Mauro Cid fanden die Ermittler ein Video einer Ministerratssitzung aus dem Juli 2022, in dem Bolsonaro und weitere Regierungsmitglieder offen über den Einsatz von Gewalt diskutierten, um die Wahl zu verhindern.
Codename »grün-gelber Dolch«
Bei weiteren Ermittlungen stieß die Bundespolizei auf einen Plan, der offenbar die Ermordung von Präsident da Silva, seines Vizepräsidenten Alckmin sowie von Richter Moraes vorsah. Der Plan mit dem Codenamen »grün-gelber Dolch« sollte von Spezialeinheiten des Militärs ausgeführt werden, die Bolsonaro nahestanden. In den im November 2023 veröffentlichten Audio- und Textnachrichten, die die Ermittler sicherstellten, diskutieren hochrangige Offiziere der Armee den Plan. Die Dokumente, die unter den Putschisten kursierten, wurden am 9. November 2022 – zehn Tage nach der Wahlniederlage – im Büro des Präsidenten erstellt. An diesem Tag empfing Bolsonaro vermutlich General Estevam Theóphilo, der für diese Anweisungen zum Staatsstreich verantwortlich war.
Die Ermittlungen liefen während des gesamten Jahres 2023 unter strikter Geheimhaltung. Währenddessen begann der Oberste Gerichtshof mit der Abhandlung der Gerichtsverfahren derjenigen, die an der Erstürmung der Regierungsgebäude beteiligt waren. Einige von ihnen erhielten harte Strafen bis zu 17 Jahren Haft. In diesen Verfahren wurden bislang allerdings keine politischen oder militärischen Anführer zur Rechenschaft gezogen. Doch es wird immer enger für Bolsonaro. Ein Jahr nach dem Treffen mit den Botschaftern entzog ihm das Oberste Wahlgericht (TSE) für acht Jahre das passive Wahlrecht. Das Gericht akzeptierte die Anklage wegen Machtmissbrauchs und der unrechtmäßigen Nutzung staatlicher Kommunikationskanäle zur Organisation des Treffens.
Die neue Anklage gegen Bolsonaro muss nun vom STF angenommen werden. Sie kommt zu einem Zeitpunkt, da die Forderung nach einer Amnestie für die Putschisten – organisiert von Bolsonaros Unterstützern – lauter wird. Da Bolsonaro eine weitere Verurteilung befürchtet, setzt er nun seine politische Macht ein, um das »Lei da Ficha Limpa« (Gesetz zur politischen Reinheit) zu kippen, das verurteilten Politikern eine Kandidatur verbietet. Seine Lage ist jedoch kompliziert; anders als im Kongress, wo er noch über erheblichen Einfluss verfügt, hat sich im Obersten Gerichtshof eine breite Mehrheit gebildet, die sich gegen jeglichen politischen Druck wehrt.