von Julian Bierwirth
Working Paper Nr. 6, September 2025
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Zitation: Bierwirth, Julian: Rassismus und Antisemitismus in der Warengesellschaft. krisis-Working Paper 5, 2025. URL: https://www.krisis.org/2025/rassismus-und-antisemitismus-in-der-warengesellschaft/ (Seitenzahlen bitte gemäß PDF-Version zitieren) |
Inhalt
1. Kapitalismus
2. Nation und Nationalismus
3. Was Rassismus ist
4. Was Antisemitismus ist
5. Rassismus in der Aufstiegsgeschichte des Kapitals
6. Geldkritik und die Heiligsprechung der Arbeit
7. Überausbeutung, Gewalt und die polit-ökonomische Transformation des Kapitals
8. Transformation des Antisemitismus
9. Rassismus in der Abstiegsgesellschaft
1. Kapitalismus
Die kapitalistische Gesellschaft bringt einen selbstbezüglichen, dynamischen Prozess hervor, dem alle Menschen unterworfen sind. Sie ist im Kern eine Warengesellschaft, die sich über Arbeit und Geld vermittelt. In ihr wird die Arbeit zum Selbstzweck, und der Prozess, aus Geld mehr Geld zu machen, zum allgemeinen Ausdruck der kapitalistischen Wachstumsmaschinerie.
Seit mehr als fünf Jahrhunderten dominiert die Realgeschichte kapitalistischer Vergesellschaftung den Planeten und verändert die sozialen Beziehungen und die materiellen Verhältnisse ununterbrochen. Doch der Kapitalismus ist nicht einfach nur ein ökonomischer Prozess. Die kapitalistische Gesellschaft ist zudem stets mit ideologischen Formen verbunden, in denen sich die gesellschaftlichen Zusammenhänge auf eine systematisch falsche Art und Weise darstellen. In diesem Sinne bezeichnete Georg Lukács von Ideologie als “notwendig falsches Bewusstsein”. Mit „notwendig“ ist dabei jedoch weniger eine funktionale Ableitbarkeit, sondern vielmehr eine Reflexion bzw. ein Reflex innerhalb kapitalistischer „Denkformen“ gemeint.
Rassismus und Antisemitismus sind zwei zentrale ideologische Muster, die aus der kapitalistischen Gesellschaft erwachsen. Sie sind aber zugleich nicht einfach Denkstrukturen, die sich in statischer Weise über die ökonomische Realität legen. Zunächst einmal wandeln sie sich und ihre Ausdrucksformen ständig im Zuge der Transformation der kapitalistischen Vergesellschaftung. Der Rassismus von heute ist zwar immer noch als Rassismus zu klassifizieren, er unterscheidet sich jedoch in vielen Punkten vom Rassismus der kapitalistischen Aufstiegsphase. Und was für den Rassismus gilt, gilt in ähnlicher Weise auch für den Antisemitismus: Auch er hat seine Erscheinungsform im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen gewandelt.
Darüber hinaus sind beide, Rassismus und Antisemitismus, in ihren Reaktionsweisen und Funktionsformen voneinander zu unterscheiden. Denn sie verhalten sich in je unterschiedlicher Weise zu den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaftsformation und sind deshalb auch weder auseinander ableitbar noch aufeinander reduzierbar. Der Antisemitismus ist nicht einfach eine besondere Unterart des Rassismus, sondern eine eigenständige ideologische Fixierung, die auf eine andere Art auf die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft reagiert als der Rassismus. Dabei geht es nicht darum, den Antisemitismus als „wichtiger“ oder „zentraler“ als den Rassismus anzusehen. Die Differenzierung ist an dieser Stelle keine Hierarchisierung, sondern lediglich die Folge unterschiedlicher Eigenlogiken.
Diese Perspektive unterscheidet sich von der klassischen Theoretisierung ideologischer Formen im Traditionsmarxismus. Hier werden Rassismus und Antisemitismus oft funktional aus dem Klassenverhältnis abgeleitet. Und zwar in beiden Fällen als eine Art Trick, mit dem die herrschende Klasse das Proletariat spaltet und dadurch vom Klassenkampf abbringt. Auf diese Weise kann jedoch weder die Entstehung des Nationalsozialismus erklärt werden (damals waren die kapitalistischen Funktionseliten keinesfalls so bedrängt, dass sie einer autoritären Diktatur bedürft hätten, um sich an der Macht zu halten) noch die aktuellen autoritär-nationalistischen Entwicklungen in der Welt (denn diese werden allzu oft gegen die Interessen und den offenen Widerstand weiter Teile der kapitalistischen Funktionseliten durchgesetzt, die viel eher auf den globalisierten Weltmarkt setzen).
Es ist ein typisches Kennzeichen des traditionellen Marxismus, die ideologischen Formen direkt auf instrumentelle Klassenbeziehungen herunterzubrechen. Doch wir finden in der linken Debatte noch einen zweiten Aspekt im Verständnis von Rassismus und Antisemitismus, der ihnen nicht gerecht wird. Dieser besteht darin, sie nicht als spezifisch kapitalistische Reaktionsformen, sondern als überhistorische Phänomene zu verstehen. Der moderne Antisemitismus wird dann mit dem christlichen Antijudaismus und der moderne Rassismus mit vormodernen Fremdheitsdiskursen in eins gesetzt. Beides übersieht jedoch die historische Spezifik dieser ideologischen Formen als Reflex auf die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft.
2. Nation und Nationalismus
Um die widersprüchlichen ideologischen Haltungen, die hinter den Begriffen Rassismus und Antisemitismus stehen, besser zu verstehen, lohnt es sich, sie mit dem Begriff der Nation in Verbindung zu setzen und von der Ideologie des Nationalismus abzugrenzen. Wir werden später auf diese Differenzen zurückkommen.
Mit der Aufstiegsphase der kapitalistischen Warenökonomie geht die Notwendigkeit einher, einen gemeinsamen Bezugsraum für die ökonomischen Aktivitäten zu schaffen. Dieser entsteht mit der Etablierung der modernen Staaten und den mit ihnen verbundenen Volkswirtschaften. Die Vorstellung eines gemeinschaftlichen Bezugs aller Staatsbürger:innen spiegelt sich im Begriff der Nation wider. Als Nation anerkannt zu werden war gleichbedeutend damit, im allgemeinen Wettbewerb der Nationalökonomien mitzuspielen und damit zugleich ein kollektives Subjekt zu werden. Ähnlich wie die Kämpfe der Arbeiter:innenbewegung als Kämpfe um die Integration in die Subjektform verstanden werden können, manifestieren sich die Kämpfe der diversen „nationalen Befreiungsbewegungen“ als Kämpfe um die kollektive Integration der eigenen Nation in die globalen Konkurrenzbeziehungen (vgl. Lohoff 1997).
Zentral für die Nation ist dabei die Herstellung einer „imaginären Gemeinschaftlichkeit“ (Benedict Anderson) über die Arbeit. Die Nation wird konzipiert als die Gemeinschaft der fleißig Arbeitenden. Ihr wohnt die Vorstellung inne, dass die Menschen als freie und gleiche durch Arbeit die Natur unterwerfen bzw. sich die Welt aneignen. Die zentrale Bedeutung der Arbeit für das nationale Selbstverständnis lässt sich in jedem Nationenbildungsprozess nachvollziehen. Prototypisch tritt dies im deutschen Nationalismus hervor.
Neben vielen weiteren Kriterien, die zur Konstitution einer Nation herangezogen werden, spielt vor allem der Bezug auf die Zugehörigkeit der Nation zu einem bestimmten Fleckchen Erde eine besondere Rolle für die Ideologiebildung. Über diese (vermeintliche) Zugehörigkeit kann zunächst eine scheinbare „Natürlichkeit” der nationalen Identität hergestellt werden. Darüber hinaus mutieren dann die Menschengruppen, die als wurzellos und keinem Landstrich so richtig zugehörig gelten, zum Gegenprinzip der „natürlichen Volkszugehörigkeit”. In diesem Sinne ist das Ressentiment gegen Jüdinnen:Juden bereits in der Grundkonstruktion der Nation angelegt (vgl. Haury 2002, S. 84ff.).
Die Konstitutionsgeschichte der Nationen ist dabei in der Regel von einem Doppelcharakter geprägt. Einerseits zielt die Nationalbewegung auf eine Integration in die globale Warenökonomie und muss deren Formprinzipien deshalb affirmieren. Andererseits bringt das verspätete Eintreten in das Geschäft der nationalen Konkurrenz auch die Kritik der bereits existierenden Nationalökonomien im „kapitalistischen Westen“ bzw. im „globalen Norden“ mit sich. Hierbei wird der dynamische Gesamtprozess des Weltkapitals in einzelnen, bereits zuvor in die Weltkonkurrenz eingetretenen Nationen projektiv identifiziert. Es sind dann „die USA“, „die NATO“ oder „die westlichen Mächte“, die für die von den Menschen erlebten Zwänge verantwortlich gemacht werden sollen. Dieser Sichtweise wohnt − wie wir noch sehen werden − ein Moment inne, dass eine strukturelle Verwandtschaft mit dem antisemitischen Ressentiment aufweist.
3. Was Rassismus ist
Die Durchsetzung der modernen, warenproduzierenden Gesellschaft nimmt ihren Ausgangspunkt in Europa. Deshalb waren zunächst nur weiße, bürgerliche Männer als Subjekte gesetzt. Nur ihnen stand das Recht zu, als handelnde Individuen innerhalb der neuen, im Entstehen begriffenen Ökonomien Zwecke zu setzen. Frauen, Schwarze und auch Arbeiter:innen waren zunächst von diesem Status ausgeschlossen. Die Geschichte der progressiven sozialen Bewegungen kann als Geschichte des Kampfes um den Subjektstatus verstanden werden (vgl. Bierwirth 2019, S. 33ff).
Um die Bedeutung dieser historisch spezifischen Konstellation zu verstehen, müssen wir uns klar machen, wie in der Frühphase der warenproduzierenden Gesellschaft eine wissenschaftliche, für den Kapitalismus spezifische Art und Weise entsteht, unsere Weltverhältnisse aufzufassen. In der Tradition der kritischen Theorie wird dabei von der Etablierung einer spezifischen „Denkform“ gesprochen. Diese Denkform, die sich in den modernen Wissenschaften widerspiegelt, ist an der Vorstellung orientiert, dass die Menschen als handelnde Subjekte sich eine dinghafte Objektwelt aneignen (vgl. Bierwirth 2024).
Das Subjekt ist dabei konnotiert mit Handlungsfähigkeit. Es beherrscht die Welt, indem es nach rationell-vernünftigen Verfahren instrumentell auf sie einwirkt. Das Objekt hingegen ist konnotiert mit Passivität. Es ist ein reines Ding, jenseits von allem Menschlichen, das Gegenstand menschlicher (subjekthafter) Herrschaftsausübung wird. In diesem Sinne gilt das Objekt immer als potenziell zerstörbar, denn die vollständige Herrschaft des Subjekts über das Objekt beinhaltet auch die Möglichkeit, es zerstören zu können. (vgl. Redecker 2020; Bierwirth 2023; Lohoff 2005)
Objekt zu sein, bedeutet in der Welt der Subjektherrlichkeit daher stets eine potenzielle Todesdrohung. Wenn es für das Subjekt im eigenen „Interesse“ zu sein scheint, ist die Zerstörung von allem, was zum Objekt deklariert wurde, immer möglich. Sie ist nicht notwendig, solange die Ziele des Subjekts auf anderem Wege erreichbar sind, aber als Drohung schwebt sie stets über den verwundbar gemachten Körpern (vgl. Bierwirth 2019, S. 20ff.; S. 33 ff).
Der Rassismus fügt sich in diese Logik der Objektivierung ein und stellt sich uns dar als eine Ideologie der Abwertung, die Menschen auf den Objektstatus reduziert. Er ist (bei allen Unterschieden) verwandt mit klassisch patriarchalen Haltungen der Frauenfeindlichkeit, die Frauen vom Subjektkosmos ausschließen.
Dabei kommt dem Rassismus eine doppelte Funktion zu. Einerseits dient er als Ideologie zur Unterwerfung der Menschen, die als Objekte klassifiziert und abgewertet werden. Zugleich dient er auch als Element der Zurichtung der weißen Mehrheitsgesellschaft, die sich nun als handlungsfähig und zivilisiert wahrnimmt. Alle Wünsche und Bedürfnisse, die nicht in der Welt der Arbeit, der Zwänge und der Selbstdisziplinierungen aufgehen, können auf diese Weise verdrängt und auf „die Anderen“ projiziert werden.
4. Was Antisemitismus ist
Der Kapitalismus als ein System, in dem sich die Arbeit als zentrales Prinzip der Vergesellschaftung durchsetzt und in dem alle davon abhängig sind, stets über eine ausreichende Menge abstrakten Reichtums in Form von Geld zu verfügen, birgt für die kapitalistischen Subjekte stets die Gefahr des Ausschlusses von diesem System. Nicht zufällig sprach Marx vom Kapital als einem selbstbezüglichen Prozess, der sich nicht um das Wohl und Wehe der Menschen kümmert. Das Kapital, so Marx, sei ein „automatisches Subjekt” und der Prozess der Kapitaldynamik sei das, was im Kapitalismus tatsächlich die Zwecke setzt (MEW 23, S. 169 sowie Postone 2003).
Einerseits sind die Menschen Subjekte und wirken mit ihrem Handeln auf ihre Umwelt ein. Im Extrem führt dies zur Vorstellung individueller Allmacht und dem Wunsch, tatsächlich „Herr der Welt“ zu sein. Gleichzeitig ist die Handlungsfähigkeit und die Praxis der Einzelnen immer schon auf den Rahmen der Selbstzweckbewegung der Kapitalakkumulation beschränkt (vgl. Lohoff 2005; Bierwirth 2019; Lewed 2010, S. 19 ff.).
Während dieser verselbständigte Prozess den Subjekten stets vorausgesetzt ist, stehen sie andererseits dem Kapital ohnmächtig gegenüber: Das „automatische Subjekt“ als verselbständigter Gesamtprozess entzieht sich dem Handeln der Einzelnen. Und so etablieren sich Ideologien, in denen sich das Paradox zwischen der Vorstellung individueller Handlungsfähigkeit und der Verselbständigung und Dynamik kapitalistischer Verwertung niederschlägt. Dieser Widerspruch wird im Antisemitismus projektiv als Verschwörungsmythos gelöst: Die „Juden” stehen für den verselbständigten Zusammenhang, auf den die Einzelnen keinen Einfluss haben. Diese Reflexe sind einerseits falsch (in dem Sinne, dass sie den Kern der kapitalistischen Gesellschaft nicht erfassen) und andererseits regressiv (in dem Sinne, dass sie auf Folgen abzielen, die nicht in Richtung Emanzipation, sondern in Richtung einer noch umfänglicheren Unterwerfung unter die kapitalistischen Zwänge deuten). In diesem Sinne ist der Antisemitismus zu interpretieren als „pathisch-projektive Reaktion auf die heranbrechende Moderne” (vgl. Grigat 2023).
Dieser Widerspruch spiegelt sich auf einer kollektiven Ebene im Verhältnis von Nation und Volk auf der einen und dem „Anti-Volk“ bzw. „Un-Volk“ auf der anderen Seite wider. Denn während die Nation stets als das Kollektiv der fleißig Arbeitenden wahrgenommen wird, bleiben mangelnde Erfolge der Nation am Weltmarkt nicht aus. Dadurch wird immer wieder und sogar zunehmend deutlich, dass das Kollektiv der fleißig Arbeitenden nicht derart souverän ist, wie die nationale Ideologie es gerne hätte. So wird aus der Gemeinschaft der Arbeitenden eine Gemeinschaft der „fleißig Arbeitenden und Betrogenen“ − irgendjemand muss schließlich Schuld sein am eigenen Schlamassel. „An uns kann es nicht liegen, wir haben uns ja angestrengt“, sagt die nationale Propaganda und zeigt mit dem Finger − auf „den Juden”.
Analytisch zentral ist für diese ideologische Figur, wie der Zusammenhang von Arbeit und Geld konzipiert wird. Der tatsächliche kapitalistische Zusammenhang (der im Kern in einer unauflöslichen Durchdringung von Arbeit und Geld besteht) wird dabei in zwei voneinander getrennte Bereiche zerlegt. Das Judentum wird mit dem Geld und mit den abstrakten Aspekten der kapitalistischen Herrschaft identifiziert. Ihm gegenüber predigt der Nationalismus die Vorstellung eines naturwüchsigen, in konkrete Lebensverhältnisse verwurzelten Volkes. Dieses Volk wird dann in der antisemitischen Ideologie von einer von außen kommenden, zum eigenständigen Überleben nicht fähigen Gruppe beherrscht und ausgebeutet (vgl. Postone 1979; Bierwirth 2024b).
Das Judentum erscheint hier als „Un-Volk” bzw. „Anti-Volk“, das der hart arbeitenden, rechtschaffenen Mehrheit äußerlich ist und sie drangsaliert. Erst wenn es abgeschüttelt ist, können die schaffenden Völker glücklich leben. Dieser Konstruktion wohnt eine manifeste Todesdrohung inne. Jüdinnen:Juden müssen in der Konsequenz der antisemitischen Ideologie nicht nur beherrscht und entmündigt, sondern letztlich aus der (Welt-)Gesellschaft getilgt werden (vgl. Haury 2002, S. 93 ff.).
Der Antisemitismus stellt eine ideologische Erzählung dar, durch welche die globale Macht des Kapitals in einer kleinen Gruppe vermeintlich Schuldiger konkretisiert und personalisiert wird. Er ist als solcher (bei allen Unterschieden) verwandt mit dem Antifeminismus und dem Gerede von einer „Queer-” bzw. „Schwulenlobby” (in den 2020ern wird von der „Queerlobby” gesprochen, wo in den 1990ern noch von der „Schwulenlobby” die Rede war). Auch bestimmte Aspekte des spätmodernen Ressentiments gegen „Ökos” weisen Ähnlichkeiten mit dieser Art ideologischer Erzählung auf.
5. Rassismus in der Aufstiegsgeschichte des Kapitals
Auch wenn der Kapitalismus seinen Ausgang in Europa nimmt, so spielt die Ausdehnung in andere Weltbereiche doch eine zentrale Rolle in seiner Durchsetzungsgeschichte. Insofern ist der Kolonialismus ein wichtiger Aspekt, wenn wir die Durchsetzung kapitalistischer Formen analysieren wollen.
In dieser Phase der kapitalistischen Akkumulation war der Subjektstatus noch auf bestimmte, klar eingegrenzte Menschengruppen beschränkt. Im Objektstatus der „Anderen“ lag dann die Möglichkeit, ihnen nicht nur Rechte abzusprechen, sondern sie vollständig in Eigentum zu verwandeln. Genau diesen Charakter hat die Sklaverei: Hier werden Menschen als reine Objekte behandelt und in das Eigentum der herrschenden Subjekte übergeben. Diese können dann mit ihrem Eigentum anstellen, was immer ihnen beliebt (vgl. Redecker 2020; Bierwirth 2023).
Die Geschichte der Sklaverei ist dabei die Geschichte von der Verfügbarmachung der „Anderen” als Arbeitskräfte. Die grausamen Verschleppungspraxen in Afrika, die Funktionsweise von Sklavenschiffen, die auf Verschleiß orientierte ökonomische Anwendung der versklavten Arbeitskraft – alles das (und noch viel mehr) wäre im Kontext der Aufstiegsgeschichte einer globalen warenproduzierenden Ökonomie zu interpretieren (vgl. Rediker 2023 [2008], Fuchs 2023). Dass hier Menschen in großer Zahl nicht nur Waren produzieren, sondern selbst als Waren gehandelt werden, kann gar nicht ohne eine Reflexion auf den Objektivierungsprozess der modernen Warengesellschaft verstanden werden.
Die Sklavengesellschaften sind Teil einer Ökonomie, in der bei einem vergleichsweise niedrigen Stand der Produktivkräfte eine unqualifizierte Arbeit ausgeübt werden musste. Gerade weil Qualifikation keine zentrale Rolle in der Sklavenhalter-Ökonomie spielte, stellte die bisweilen tödliche Vernutzung der versklavten Arbeitskraft immanent kein nennenswertes Problem dar. Denn wenn auch die Träger:innen der zum Objekt degradierten Ware Arbeitskraft mit ihrem Leben bezahlten, so konnte doch durch einen steten Zufluss an neuen Sklav:innen die Produktion auf stetig erweiterter Stufenleiter aufrechterhalten werden. Das galt im Übrigen auch für den ausgelaugten Boden, der bei einer fortschreitenden Verschiebung der „Frontier” nach Westen recht problemlos erneuert werden konnte (vgl. Williams 1944).
Die Logik, alles zu bloßen Objekten der Verwertung zu machen, spiegelt sich auch in der Geschichte des Kolonialismus. Bereits das Wort „Kolonie“, das vom lateinischen „colonia“ (Ansiedlung, Pflanzstadt) bzw. „colonus“ (Bauer, Siedler) abstammt, macht die rassistische und verobjektivierende Grundausrichtung deutlich. Die Kolonialgesellschaften (bzw. deren politische Eliten) sahen sich als die eigentlich handelnden Akteur:innen, die sich die Natur in den neuen Ansiedlungen unterwarfen. Das galt für die „äußere Natur“, die mit Bergwerken und Plantagenwirtschaft zugerichtet wurde, aber auch für die „innere Natur“ der vor Ort lebenden Menschen, die ebenfalls in einem erzieherischen Prozess zugerichtet werden sollten („A white man’s burden“).
Antikoloniale Kämpfe können im Sinne einer Etablierung und Durchsetzung der jeweils eigenen Subjektform verstanden werden, sprich als Kämpfe um die Teilhabe der in den Kolonialgesellschaften lebenden Menschen am Weltmarkt. Damit war stets eine „innere Mobilisierung“ der Menschen und ihre Konstitution als eigenständige nationale Gemeinschaft verbunden. Auf diese Weise etablierten sich Nationalgesellschaften als Kollektivsubjekte mit einer vermeintlich authentischen, weit in die Geschichte zurückreichenden Identitätsbildung. Der Erfolg am Weltmarkt ist daher die Voraussetzung für die erfolgreiche Konstitution als Nation und die Errichtung eines eigenen Staatswesens. Das nationalistisch-rassistische Ressentiment wiederum verweigert dann als Folge des fehlenden ökonomischen Erfolgs die Anerkennung der Menschen als rational-vernünftige „Subjekte“. Erst wer mit dem eigenen Staat eine eigenständige Nationalökonomie ausbildet, hat die Voraussetzung dafür geschaffen, am globalen Universalismus des Kapitals teilhaben zu können.
Und selbst das ist nur eine notwendige, keinesfalls aber eine hinreichende Bedingung. Denn wie wir am Beispiel des Aufstiegs der japanischen Volkswirtschaft im 20. Jh. und der chinesischen Volkswirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten sehen können, stellt sich mit dem ökonomischen Aufstieg keinesfalls automatisch die Anerkennung als gleichberechtigte Warensubjekte ein. Am Beispiel Japans wurde der Erfolg oftmals auf den ungesunden japanischen Arbeitsethos (inklusive dem stetigen Verweis auf den „Tod durch Überarbeitung“ (Karoshi)) zurückgeführt. Der chinesische Aufstieg hingegen wird in autoritären Haltungen der Bevölkerung gegenüber der chinesischen Zentralregierung ausgemacht und auf diese Weise ebenfalls abgewertet. Solche rassistischen Abwertungen können sich also gegenüber ihrem Entstehungsmythos verselbständigen und sind keinesfalls funktionalistisch auf die Wachstumsraten des BIP zurückzuführen.
6. Geldkritik und die Heiligsprechung der Arbeit
Der Sozialphilosoph Karl Marx hat im „Kapital“ ausführlich dargelegt, dass Arbeit und Geld im Kapitalismus als zwei aufeinander bezogene Aspekte einer umfassenden, sich verselbstständigenden kapitalistischen Totalität verstanden werden müssen. Diese Verhältnisse bringen stets Gewinner:innen und Verlierer:innen hervor, so dass die Gesellschaft zwangsläufig in arme und reiche Menschen und die Weltgesellschaft in arme und reiche Nationen zerfällt (vgl. Kurz 2005, S. 36ff).
Für den Antisemitismus ist die Dichotomie von Arbeit und Geld zentral. In dieser Wahrnehmung zerfällt die Welt in zwei Sphären: eine gute, die auf konkreter Arbeit und der lebendigen Natürlichkeit des Volkes aufbaut, und eine schlechte, die auf abstrakten, unsinnlichen Prinzipien wie dem Geld basiert und die künstlich, tot und leer ist (vgl. Postone 1979). Die Ergebnisse der kapitalistischen Dynamik erscheinen hier nicht länger als Folge eines komplexen ökonomischen Prozesses, sondern als Ergebnis eines der Gemeinschaft äußerlichen und feindlich gesonnenen Herrschaftswillens. Die desaströsen Folgen der kapitalistischen Dynamik (menschliches Elend, Naturzerstörung etc.) verweisen dann (vermeintlich) auf den schlechten Charakter der dazugehörenden herrschenden Gruppe.
Schon im Frühkapitalismus finden wir (etwa bei zentralen Vertretern des Protestantismus) die mit dem Loblied auf die Arbeit verbundene Hetze auf Jüdinnen:Juden. Besonders abstoßend tritt sie bei Martin Luther hervor, doch auch bei Jean Calvin lassen sich, wenn auch weniger drastische, antisemitische Stereotype finden. Dieser Blick zieht sich durch die gesamte europäische Moderne und wird im Nationalsozialismus in prototypischer Form zugespitzt (vgl. Peham 2022).
Auch in vermeintlich kritischen Perspektiven auf die kapitalistische Moderne steht die Gegenüberstellung von Arbeit und Geld(besitzer:innen) nicht selten im Mittelpunkt. Während Marx die Bedeutung des Geldes in der modernen Ökonomie aus dem Prozess der Wertverwertung ableitet, wird in diesen Darstellungen das (vermeintlich böse) Geld der (vermeintlich guten) Arbeit entgegengestellt. Infolgedessen hat sich nicht zuletzt im Marxismus-Leninismus eine stereotype Bildsprache eingebürgert, in der der schaffende Arbeitsmann dem jüdisch konnotierten Wucherer gegenübergestellt wird (vgl. Haury 2002, S. 21 ff.). Und auch bei Marx selbst finden sich immer wieder antisemitische Codierungen, etwa wenn er davon spricht, dass das Kapital „als ein Vampyr die lebendige Arbeit beständig als Seele einsaugt“ (MEW 42, S. 545) durch das Kapital oder von den Finanzmagnaten als „Wucherparasiten“ (MEW 25, S. 613) spricht.
Mit der Kritik des Geldes geht im selben Zug eine Heiligsprechung der Arbeit einher. Sie gilt gemeinhin als das Prinzip, das den Menschen erst zum Menschen macht. Doch auch das ist eine Fiktion. Sicherlich mussten Menschen schon immer in irgendeiner Weise auf die Natur einwirken, um Gebrauchsgüter herzustellen. Doch waren diese Tätigkeiten bis zur Durchsetzung der kapitalistischen Warengesellschaft stets in differenzierte kulturelle Arrangements eingebettet, sodass diese keineswegs eine eigenständige gesellschaftliche Sphäre oder gar einen Selbstzweck des Menschseins gebildet haben. Eine radikale Kritik des Antisemitismus muss deshalb immer auch eine radikale Kritik der Arbeit sein.
7. Überausbeutung, Gewalt und die polit-ökonomische Transformation des Kapitals
In der marxistisch inspirierten antirassistischen Gesellschaftskritik wurde der Rassismus zunächst als ein Phänomen der Überausbeutung verstanden. Tatsächlich lässt sich der Prozess der Vernutzung eines objektivierten, versklavten Menschenmaterials auch als besonders intensive Ausbeutung verstehen. Als mit der formalen Anerkennung von Schwarzen und People of Colour als kapitalistische Subjekte die Möglichkeit einherging, die eigene Arbeitskraft eigenständig verkaufen zu dürfen (und gleichzeitig zu müssen), wurde diese Überausbeutung durch niedrigere Löhne und unterschiedliche Formen der Diskriminierung am Arbeitsplatz und im Wohnumfeld fortgeschrieben (vgl. Sarbo 2023, S. 41 ff.). Dabei wird die rassistische Abwertung funktionalistisch aus den ökonomischen Interessen erklärt und letztlich auf diese zurückgeführt. Doch dieser Ökonomismus greift letztlich zu kurz.
Denn während das Verständnis von Rassismus als Überausbeutung den Aspekt der hierarchischen Abwertung von Schwarzen und People of Colour innerhalb der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft ausreichend gut beschreiben kann, so geraten ihm doch drei weitere zentrale Aspekte aus dem Blick. Zum einen gerät bei dieser Beschreibung die systematische Gewalt, die gegen BIPoC ausgeübt wird (und die ja z.B. auch immer wieder Ausgangspunkt für Protestwellen gegen Rassismus ist), leicht aus dem Blick. Sie muss dann nachträglich in das theoretische System integriert werden, etwa als Versuch „der Herrschenden”, ihr System durch Gewalt aufrechtzuerhalten und die Marginalisierten zu disziplinieren. In diesem Modell wird dann rassistische Gewalt zu einem Nebenwiderspruch, der auch mit komplizierten theoretischen Verrenkungen nur unzureichend sozialtheoretisch erklärt werden kann.
Zum anderen erschwert der Blick auf die Ausbeutungspraxis der (als weiß imaginierten) Kapitalist:innen die Erkenntnis der realen Verselbstständigung des kapitalistischen Prozesses. Das ist (wie wir noch sehen werden) analytisch unzureichend, ist aber auch politisch problematisch. Denn die Vorstellung, der nach wie vor existierende Rassismus und die Fortsetzung postkolonialer Praxen hingen irgendwie an einer empirisch dingfest zu machenden Personengruppe ( „die Weißen” oder auch „die Siedler-Kolonialisten”), macht in der antirassistischen Theoriebildung alle Flanken auf, um selbst anfällig für rassistische und antisemitische Erzählungen zu werden.
Darüber hinaus bezieht sich − wie wir noch sehen werden − ein großer Teil des zeitgenössischen Rassismus gerade auf die Abwehr von Menschen, die sich in den europäischen und nordamerikanischen Zentren gerne ausbeuten lassen möchten, die dort aber nicht erwünscht sind und deren Arbeitskraft in vielen Fällen auch ökonomisch kaum oder gar nicht nachgefragt ist.
8. Transformation des Antisemitismus
Im Nationalsozialismus wurde das eliminatorische und regressive Gewaltpotential des Antisemitismus in vollem Maßstab deutlich. Seitdem war der offensichtliche Judenhass lange Zeit zumindest in den kapitalistischen Zentren weitgehend verpönt. Gleichzeitig haben sich zentrale Aspekte des Antisemitismus in eine antizionistische Ideologie transformiert. Die Vorstellung des Judentums als „Un-Volk” findet sich im Antizionismus als Projektion auf Israel als einem „künstlichen” Nationalismus wieder. Wenn der Staat Israel nur in Anführungszeichen geschrieben oder als „Gebilde” oder „Wesen” bezeichnet wird, dann geht das auf das antisemitische Stereotyp eines künstlichen, dem Völkischen äußerlichen Ausbeuters zurück. Auch die Auftrennung der globalen Ökonomie in die werktätigen Völker auf der einen und die vermeintlich parasitäre Existenz des Zionismus auf der anderen Seite folgt den bekannten antisemitischen Stereotypen (vgl. Haury 2002).
Ein Teil dessen, was im klassischen Antisemitismus auf das Judentum projiziert wurde, wird nun im Staat Israel dingfest gemacht. In der ideologischen Typenbildung werden dabei die USA seit den 1960er-Jahren oftmals in der Nähe des Staates Israel positioniert. Die Verwandtschaft von Antiimperialismus, Antizionismus und Antiamerikanismus ist daher kein Zufall, sondern liegt in der Logik der Projektion (vgl. Holz/Haury 2021; Grigat 2023).
Die Verwandlung des Antisemitismus in den Antizionismus zeigt die Wandlungsfähigkeit und Flexibilität der antisemitischen Ideologie. In der Aufstiegsphase des Kapitalismus konnte sich das regressive Ressentiment gegen „die da oben“ noch an einer einzigen Trägergruppe festmachen – „den Juden“. Das lag nicht zuletzt an der zentralen Dimension, die der Vermittlung über Geld- und Marktbeziehungen innerhalb der zeitgenössischen Ökonomie zukam.
Doch in der Zerfallsphase der kapitalistischen Warengesellschaft bricht dieser eindeutigen Zuschreibung das Bezugssystems weg. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich die polit-ökonomischen Beziehungen in der Art verändern, dass sich die zunehmende Bedeutung staatlicher Interventionen nicht mehr übersehen lässt. Der Staat war zwar schon immer der zentrale Garant der kapitalistischen Ökonomie, ist jedoch in den vergangenen 100 Jahren zusehends zu einer zentralen Institution in Bezug auf die aktive Verteilung gesellschaftlicher Teilhabemöglichkeiten aufgestiegen. Insofern ist es kein Wunder, dass sich zeitgenössische Verschwörungsideologien nicht mehr nur unmittelbar um eine Personifizierung der Geldware bemühen, sondern auch staatliche Akteur:innen zunehmend in den Fokus reaktionärer Erzählungen („Deep State“) rücken. Auch die Popularität des Antizionismus kann, wie bereits angedeutet, in diesem Sinne möglicherweise als eine Verbindung von modernem Antisemitismus und staatszentrierten Verschwörungstheorien interpretiert werden.
Prototypisch findet sich diese Verschiebung in der neurechten Vorstellung vom Kulturmarxismus, mit der einzelne Elemente des Antisemitismus ausgelagert und auf andere Menschengruppen übertragen werden. So steigen neue ideologische Muster auf, die ähnliche Bedürfnisse befriedigen. Die bereits angeführten Vorstellungen von einem „tiefen Verwaltungsstaat“, von einer vermeintlich herrschenden feministischen bzw. queeren Lobby sowie das „Ressentiment gegen Ökos“ verdanken ihre Popularität nicht zuletzt einer zunehmend unübersichtlicher und widersprüchlicher werdenden Weltlage.
Die Vorstellungen des Antifeminismus knüpfen dabei an reale Emanzipationsprozesse an und möchten diese rückgängig machen. Hier verbindet sich eine Haltung, die Frauen weiter beherrschen möchte („Phantombesitz“ nach Eva von Redecker) mit der Vorstellung, nun von ihnen beherrscht zu werden. Gleiches gilt auch für die queer-, trans- und schwulenfeindlichen Argumentationsmuster, die ihrerseits auf reale Emanzipationsprozesse reagieren.
9. Rassismus in der Abstiegsgesellschaft
Wenn wir uns die Geschichte des Rassismus aus der Perspektive der Ideengeschichte ansehen, erkennen wir eine erstaunliche Kontinuität. Die abwertenden Bilder des Anderen erweisen sich über die Epochen hinweg als erstaunlich stabil. Wenn wir uns jedoch ansehen, vor welchem weltgesellschaftlichen Hintergrund sich diese Zuschreibungen abspielen, erkennen wir im wesentlichen Diskontinuitäten. Die Dynamik des Kapitals hat die Gewaltförmigkeit der ökonomischen Prozesse und mit ihnen die Bedingungen von „Überausbeutung” und Gewalt verschoben.
Während der Rassismus in der Aufstiegsphase der Warengesellschaft von der Perspektive von einer intensiven Ausbeutung der Träger:innen der Ware Arbeitskraft getragen war, so verliert diese Motivation heute zunehmend an Bedeutung. Wurden in den Sklavenschiffen noch Menschen gegen ihren Willen zu den Orten ihrer kapitalistischen Vernutzung transportiert, so sind diese heute nicht selten froh, wenn sie den Weg in die sicherheitstechnisch abgeschotteten Zentren der kapitalistischen Ausbeutungsmaschine finden. Und zwar gerade, um sich dort ausbeuten zu lassen (d.h. einen Job zu bekommen).
Aus der Perspektive der kapitalistischen Zentren erscheinen die Menschen, die regelmäßig auf grausamste Weise im Mittelmeer zu Tode kommen, schon längst nicht mehr als verwertbares Menschenmaterial, sondern sind für den kapitalistischen Verwertungsprozess beim derzeitigen Stand der Produktivkräfte schlicht überflüssig. Viele von ihnen wären froh, wenn es zur Überausbeutung käme. In diesem Sinne unterschätzt die Theorie eines materialistischen Antirassismus, die auf Überausbeutung fokussiert, die menschenverachtende Gleichgültigkeit und Ignoranz, die der globalisierten kapitalistischen Moderne innewohnt.
Während sich also der frühe Rassismus der kapitalistischen Aufstiegsphase noch als Prozess der Landnahme darstellte, ist er mittlerweile in die Periode des Festungsbaus übergegangen. Beide Modi rassistischer Vergesellschaftung sind mit einer Abwertung verbunden, sie verdanken sich jedoch einem jeweils anderen ideologischen Rahmen. Das Bild von der angeblich fortschrittlichen Mission des weißen Mannes, dem es obliegt, die „anderen“ zu zivilisierten Normalmenschen zu erziehen, ist in weiten Teilen passé. Es wurde ersetzt durch einen kulturalistischen Rassismus, bei dem alle Völker als gleichberechtigt gelten, dabei jedoch auf jeweils getrennte Weltregionen verwiesen bleiben.
Der postmodern verwandelte „Rassismus ohne Rassen” (Étienne Balibar) feiert so als gewaltvolles Monster ohne Ausbeutungsperspektive ein Revival. Er verschiebt seine Argumentation und spricht statt über „Rassen“ und „Biologie“ nun lieber über „Ethnien“ und „Kulturen“. Während sich das rassistische Ressentiment in den 1980er-Jahren noch an „den Türken“ festgemacht hat, ist es heute „der Islam“, auf den nahezu identische Vorstellungen projiziert werden.
Die biologistisch-naturalisierende Grundierung der Ideologie kommt jedoch immer wieder zum Vorschein. In den aktuellen rassistischen Ausfällen um eine „Rückführung“ deutscher Staatsbürger:innen, weil es ihnen an ausreichendem Deutschtum mangele wird das ebenso deutlich wie in den traditionell-rassistischen Ausfällen des Sozialdemokraten Thilo Sarrazin. In diesem Sinne ähnelt die Transformation vom neuen zum alten Rassismus der Transformation vom Antisemitismus zum Antizionismus. In beiden Fällen werden bestimmte Aspekte der ideologischen Urbilder in den Hintergrund gerückt, bleiben jedoch in zeitgemäß verwandelter Form nach wie vor wirkmächtig.
Verschiebungen lassen sich jedoch nicht nur auf der Ebene einer abstrakten Ideologiebildung nachzeichnen, sondern auch im Erleben der kapitalistischen Subjekte. Das männlich-westlich-weiße Subjekt (MWW) in den europäischen und nordamerikanischen Zentren beharrt auf der eigenen Überlegenheit und auf dem früheren Recht, die „Anderen” in ihre Schranken weisen zu können. Gerade der Gestus, der hinter der Kampagne zur Zwangsumsiedlung deutscher Staatsbürger:innen steht, verweist auf den Wunsch, die eigene Suprematie gegenüber den „Anderen“ aufrechterhalten zu können. Er manifestiert sich in der Logik des „Phantombesitzes“ (Eva von Redecker), d.h. den Wunsch, die eigene Handlungsfähigkeit gegen diejenigen wiederherzustellen, die der eigenen Ideologie gemäß zur Verfügungsmasse der eigenen Subjektivität gehören (und mithin Objekte zu sein haben). Die Verantwortung für diesen kulturellen Enteignungsprozess macht das männlich-westlich-weiße Subjekte nach wie vor bei einer kleinen, außerhalb der Ordnung stehenden Gruppe aus, der verschwörungstheoretische Herrschaftsabsichten zugeschrieben werden. Am Ende sind es dann die „globalistischen Finanzeliten“; die „Rothschilds“ oder die „Wallstreet“, die hinter der Ideologie vom Großen Austausch stehen sollen. Hier treffen sich Antisemitismus und Rassismus in ihrer postmodernen Ausprägung.
Literatur:
Bierwirth. Julian (2019): Die Geburt des Ich. Aspekte von Identität und Individualität. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2019/die-geburt-des-ich-krisis-12019/
Bierwirth, Julian (2022): Gesellschaftsform und Eigentum. Zur Kritik der Sachherrschaft. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2022/gesellschaftsform-und-eigentum-zur-kritik-der-sachherrschaft-krisis-12022/
Bierwirth, Julian (2024a): Thesen zur Kritik des modernen Naturverhältnisses. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2024/thesen-zur-kritik-des-modernen-naturverhaeltnisses/
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Grigat, Stephan (2023): Kritik des Antisemitismus in der Gegenwart. Online abrufbar unter: https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/kritik-des-antisemitismus-in-der-gegenwart-id-114237/
Haury, Thomas (2002): Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburger Edition. Hamburg
Holz, Klaus/ Haury, Thomas (2021): Antisemitismus gegen Israel. Hamburger Edition. Hamburg
Kurz, Robert (2005): Das Weltkapital. Globalisierung und innere Schranken des modernen warenproduzierenden Systems. Edition Tiamat. Berlin
Lewed, Karl-Heinz (2010): Erweckungserlebnis als letzter Schrei. In: krisis. Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 33/2010. Unrast. Münster, S. 16-57. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/2010/erweckungserlebnis-als-letzter-schrei/
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Lohoff, Ernst (1997): Der Tod des sterblichen Gottes. Skizze über Aufstieg und Fall des Nationalstaats. In: Krisis 19/1997 Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/1997/der-tod-des-sterblichen-gottes/
MEW 23 = Marx, Karl: Das Kapital, Band 1, Marx-Engels-Werke Bd. 23, Berlin 1983
MEW 25 = Marx, Karl: Das Kapital, Band 3, Marx-Engels-Werke Bd. 25, Berlin 1986
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Postone, Moishe (1979): Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. Online abrufbar unter: https://www.krisis.org/1979/nationalsozialismus-und-antisemitismus/
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Postone, Moishe (2003): Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Zur neuen Interpretation der kritischen Theorie von Marx. ça ira. Freiburg
Redecker, Eva von (2020): Revolutionen für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. S. Fischer. Frankfurt am Main
Rediker, Marcus (2023 [2007]): Das Sklavenschiff. Eine Menschheitsgeschichte. Assoziation A. Berlin
Sarbo, Bafta/ Roldán Mendívil, Eleonora (2023): Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus. Dietz. Berlin
Williams, Eric (1942): Capitalism & Slavery. William Byrd. Richmond/Virginia