13.02.2025 

Zurück in die Vergangenheit. Die Union verspricht im Wahlkampf, den Sozialstaat zu beschneiden

Von Ernst Lohoff

Ursprünglich erschienen in der Jungle World 2025/07 vom 13.02.2025

Im Wahlkampf verspricht die Union, den Sozialstaat zu schwächen und Arbeitslose zu drangsalieren. Doch an den tatsächlichen Gründen der Rezession könnte keine Bundesregierung viel ändern.

Auch wenn im derzeitigen Wahlkampf vor allem über Flüchtlinge gesprochen wird: Umfragen zufolge ist die wirtschaftliche Lage eines der wichtigsten Themen für die Wähler. Und in der Tat, dem Standort geht es nicht gut. 2024 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt das zweite Jahr in Folge und für dieses Jahr prognostiziert die OECD, dass Deutschland mit 0,7 Prozent Wachstum Schlusslicht unter den Industrieländern sein wird. Im Januar ist die Arbeitslosigkeit auf 6,4 Prozent gestiegen, der höchste Stand seit zehn Jahren.

Die Propagandaabteilung des Kapitals nutzt die Gunst der schlechten Lage und personalisiert nach Leibeskräften. Oliver Zander, der Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, erklärt die Strukturkrise, in der die hiesige Industrie vor allem aufgrund ihrer extremen Exportorientierung steckt, zu einer »Scholz-Habeck-Rezession«.

Die CDU wittert Morgenluft und konzentriert sich im Wahlkampf auf das Thema. Mitte Januar beschloss der Bundesvorstand ein Wirtschaftsprogramm namens »Agenda 2030«, das für Deutschland »Wachstumsraten von mindestens zwei Prozent« verspricht.

Der Titel verrät schon, wie der Hase läuft. Vor 20 Jahren hat die rot-grüne Regierung unter Gerhard Schröder mit der »Agenda 2010« den Sozialstaat zu erheblichen Teilen demontiert und einen großen Niedriglohnsektor geschaffen. Auch verpflichteten sich die Gewerkschaften zur »Lohnzurückhaltung« – die Folge waren jahrelang stagnierende Reallöhne.

Einige Jahre später kam die deutsche Wirtschaft besser aus der großen Finanzkrise von 2008 als andere Länder. In den zehner Jahren gab es beachtliche Wachstumsraten, die Arbeitslosigkeit ging zurück. Der Zusammenhang zwischen dieser Entwicklung und den rot-grünen Hartz-Reformen war zwar nur unwesentlich enger als der zwischen der Storchenpopulation und der Geburtenrate. Trotzdem wird seit Jahr und Tag überall kolportiert, Schröders Reformpolitik sei der Grund für das Wirtschaftswachstum der zehner Jahre gewesen.

Diesen Mythos ruft die Union ab und verspricht, das Land mit einer harten Linie gegen Bürgergeldempfänger und Flüchtlinge aus dem Tal der Tränen herauszuführen. Im November skizzierte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann das wirtschaftliche Programm, das ein Kanzler Friedrich Merz (CDU) wohl verfolgen würde. Der erste Schritt solle die »Abschaffung des Bürgergelds in der heutigen Form« sein. »Wer arbeiten kann, aber nicht arbeiten geht«, solle »künftig keine Sozialleistung mehr« erhalten, so Linnemann. Dadurch wolle die Union zehn Milliarden Euro einsparen.

Wie diese riesige Summe zusammenkommen soll, hat die Union nie erklärt. Eine nennenswerte Absenkung der Bezüge wäre kaum verfassungskonform. Die Sanktionen hat die scheidende Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP bereits wieder deutlich verschärft. Bis zu 30 Prozent der Bezüge können nun gekürzt werden – noch mehr würde das Bundesverfassungsgericht wohl kaum erlauben. Hinzu kommt, dass viele Bürgergeldempfänger gar keine Arbeit aufnehmen können, weil sie entweder Kinder sind, angehörige Pflegen oder arbeitsunfähig sind.

Die SPD signalisierte unterdessen, dass sie bereit wäre, in einer Koalition mit der Union das Bürgergeld noch weiter zu beschneiden. Im Dezember sagte der eigentlich als Parteilinker geltende SPD-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Ralf Mützenich, man dürfe es „nicht durchgehen“ lassen, „wenn jemand das System ausnutzt. Sollten wir Gelegenheit dazu haben, würden wir in einer neuen Regierung nachsteuern.“ Insbesondere ein „Teil der Flüchtlinge aus der Ukraine“ habe „einen Mehrwert abgeschöpft, der nicht gerechtfertigt ist“.

Wie die Union machen AfD und FDP die Hetze gegen die Schwächsten der Gesellschaft zur Basis ihres wirtschaftspolitischen Programms. Auch sonst gibt es eine große Schnittmenge. Zum Beispiel wollen alle drei Parteien Steuern senken und halten gleichzeitig an der sogenannten Schuldenbremse fest, welche der Neuverschuldung sehr enge Grenzen setzt. Die CDU will die Unternehmenssteuer auf 25 Prozent senken, die FDP auf einen noch geringeren Satz.

Die meisten Ökonomen – sogar Vertreter der in Deutschland dominanten wirtschaftsliberalen Strömung – zeigten sich von diesen Plänen wenig begeistert. Michael Hüther, Direktor des von Industrieverbänden finanzierten Instituts der deutschen Wirtschaft, wirft allen drei Parteien vor, ihre Wirtschaftsprogramme „widersprechen den Grundrechenarten“. Sein Institut hat durchgerechnet, wie viel die Verwirklichung der jeweiligen Pläne kosten würden. Die Wahlgeschenke der CDU würden demnach dem Bund Mindereinnahmen von rund 90 Milliarden Euro im Jahr bescheren, die der FDP von 138 Milliarden und die der AFD von 149 Milliarden Euro.

Nicht dass die wirtschaftsliberalen Ökonomen etwas gegen Steuersenkungen für Unternehmen und Besserverdienende hätten. Ihnen fehlt aber die Gegenfinanzierung, indem zum Beispiel der Sozialstaat zusammengestrichen wird, etwa in den Bereichen Gesundheit, Rente oder Pflege.

Warum die Parteien nicht mit Forderungen nach einer weiteren Absenkung des Rentenniveaus oder einer weiteren Anhebung des Renteneintrittsalters in den Wahlkampf ziehen, liegt auf der Hand: Die über 60jährigen stellen 42 Prozent der Wahlberechtigten. Welche Partei will die schon vergraulen? Stattdessen sieht das Unionsprogramm vor, Rentner zum Weiterarbeiten zu verlocken, indem ein Zusatzverdienst bis zu 2 000 Euro steuerfrei bleiben soll. Ein originelles Mittel gegen die grassierende Altersarmut: Sollen sie doch arbeiten gehen!

So verbirgt sich hinter der „Agenda 2030“ der Union kaum mehr als ein Sammelsurium widersprüchlicher Versprechen und Drohungen gegen Geflüchtete und Bürgergeldempfänger. Noch ein wenig weiter geht dabei das Programm der AfD, die wirtschaftspolitisch als eine noch kapitalfreundlichere FDP daherkommt (<I>Jungle World<I> 2/2024<a>https://jungle.world/artikel/2024/02/afd-propaganda-volksgemeinschaft-statt-gewerkschaften<a>). Sie will beim Arbeitslosengeld kürzen: Künftig sollen Beschäftigte darauf erst nach drei Jahren Arbeit Anspruch haben – statt wie bisher nach einem Jahr. Gleichzeitig tritt die AfD für eine kürzere Bezugsdauer ein.

Glaubt man der „Agenda 2030“ der CDU, dann würden sich die großzügigen Steuersenkungen durch mehr Wachstum letztlich selbst finanzieren. Dieses Konzept kam das erste Mal unter dem US-Präsidenten Ronald Reagan in den achtziger Jahren zur Anwendung – und hat noch nie funktioniert. Auch sonst wirken die Wirtschaftsprogramme allesamt wie aus der Zeit gefallen. Die eigentlichen Gründe für die derzeitige Wirtschaftsschwäche erwähnen sie nicht einmal.

Die deutsche Wirtschaft ist bekanntlich traditionell exportorientiert und die Industrie spielt eine weit größere Rolle als in anderen wohlhabenden Ländern. Deshalb profitierte Deutschland von offenen Märkten und der Transnationalisierung der Produktion ganz erheblich.

In den zehner Jahren reüssierte die deutsche Wirtschaft auch, weil in anderen Ländern staatliche Maßnahmen die Nachfrage stärkten, vor allem in China und den USA. Davon profitierte Deutschlands Exportsektor – während hierzulande das Gegenteil praktiziert wurde: Die Löhne stagnierten, an den öffentlichen Haushalten wurde immer mehr gespart. Deutschland exportierte gewissermaßen die Krise ins Ausland, während hierzulande der Sozialstaat geschleift wurde und ein Niedriglohnsektor entstand.

Doch aus dem Vorteil ist nun ein Nachteil geworden – angesichts des aufziehenden Protektionismus, der schwächelnden Konjunktur in China und der Beeinträchtigung wichtiger Handelsströme durch die Covid-19-Pandemie und Terrororganisationen wie die Houthis.

Hinzu kommen weitere Faktoren: China macht der deutschen Industrie immer mehr Konkurrenz, vor allem der Autoindustrie. Seit Russlands Großinvasion der Ukraine kann die deutsche Industrie nicht mehr in großem Stil russisches Gas importieren. Gleichzeitig muss nun in die Umstellung auf erneuerbare Energien investiert werden, und die deutschen Autokonzerne drohen bei der Umstellung auf Elektroautos den Anschluss an die Konkurrenz zu verlieren.

In der Summe bedeutet das alles: Das deutsche Modell, das bislang einer breiten Mittelschicht einen gewissen Wohlstand ermöglichte, gerät in eine Krise.

In dieser Situation simulieren die politischen Parteien Handlungsfähigkeit, indem sie sich in die Vergangenheit zurückphantasieren und alte Antworten als so zeitgemäß wie eh und je behandeln. Das bereitet den Boden für Parteien wie AfD und BSW, die das Heil in der Rückkehr in frühere Phasen kapitalistischer Entwicklung suchen. Sie träumen sich zurück in die Zeit billigen russischen Erdgases und machen die rot-grüne Klimapolitik für die Vertreibung aus dem vermeintlichen fossilen Energieparadies verantwortlich – das Land ihrer Träume liegt immer in der Vergangenheit.